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STUDIEN
UND
CHARAKTERISTIKEN
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ÖRIECfflSCHEN UND RÖMISCHEN
» SOWIE ZUR DEUTSCHEN
LITERATURGESCHICHTE.
V
W, S/TEUFFEL.
LEIPZIG.
DltUCK UNI) VERLAG VON B. O. TEUBNKR.
1871.
r
Vorwort.
Die nachfolgende Sammlung urafasst in ihrer bunten
Manchfaltigkeit die Arbeiten und Bestrebungen eines Men-
schenalters. Sie wäre noch bunter ausgefallen wenn ihr Ver-
fasser Alles hätte aufnehmen mögen was er im Laufe von
mehr als drei Jahrzehnten hat drucken lassen. Das lag aber
in Niemandes Interesse. Ich habe daher mehrere Kategorien
meiner bisherigen Arbeiten von dieser Sammlung ausgeschlos-
sen. Fürs Erste die zahlreichen welche sich speciell mit Horaz
beschäftigen, diese weil ich gesonnen bin sie in anderer Weise
zusammenzufassen. Sodann eine Reihe kleinerer Abhandlungen
welche nicht unmittelbar auf dasjenige Gebiet Bezug haben
welches ich von Anfang an als meine Lebensaufgabe betrachtete,
die Literaturgeschichte, also namentlich vielerlei historische
und antiquarische Beiträge zu Pauly's Real-Encyclopädie*),
*) Diese bestehen aus folgenden römischen gentes: Aelii, Aemilii,
Annii, Antistii, Antonii, Aquillii, Asinii, Atii, Atilii, Aufidii, Aurelii, Bae-
bii, Bassi, Bruttii im ersten Bande. (zweite Auflage), und in Bd. IV— VI:
lunii, Licinii (theilweise), Ligarii, Livii, Lollii, Lucceii, Lucretii, Maplii,
Maenii, Marcii, Marii, Memmii, Menenii, Minucii, Mucii, Mummii, Muna-
tii, Octavii, Pompeii, Porcii, Quintii, Sergii, Servilii, Volusii u. A. Fer-
ner folgende Kaiser: lulianus, lustinianus, lustinus, Licinius, Maioria-
nus, Maximinus, Octavianus, Tiberius, Vespasiani, Vitellii, Ulpius Tra-
ianus. Einzelne Personen: Bathyllus (Bd. I der zweiten Auflage),
Cynthia (Bd. IL S. 1318), Hermogenes, Hiero d. Aelt., Iccius, Licinus,
Menodorus, Narses, Nomentanus, Pantolabus, Paris (Mime) u. A. So-
dann aus den Antiquitäten und der Sittengeschichte des Alter-
thums: 'Afiisy Anulus, Baculum, BaXXccvriov, Bibliotheca, Braccae (in
Bd. I der zweiten Auflage), Inferi, Lais, Lana, Lectica, Lectus, Men-
dici, Mensae, Nuptiae, Pauperes, Postwesen, Preces, Saltatio (theilweise)
0,4? /8"?
91
IV Vorwort.
Arbeiten zur Gymnasialpädagogik'*')^ sowie mancherlei Kri-
tisch-Exegetisches; zu Sophokles' Philoktet^ Aristophanes'
Fröschen; Cicero (p. Murena, Brutus ^ Orator); Quintilian
u. 8. f., das sich im Rheinischen Museum und in Fleck-
eisen's Jahrbüchern zerstreut findet; nur einiges Wenige;
das in noch unerledigte Controversen eingreift; habe ich
gelegentlich bei anderen Aufsätzen; mit literarhistorischem
Gegenstande; eingereiht. Femer habe ich ausgeschieden
solche Arbeiten deren Hauptinhalt bereits in andere meiner
Schriften übergegangen ist; wie meine Abhandlungen über
Aristophanes' Wolken ; die in meine deutsche Ausgabe die-
ser Komödie (Leipzig, Teubner; 1867) verarbeitet sind; so-
wie meine zahlreichen Beiträge literarhistorischen Inhalts
zu Pauly's Real-EncyclopädiC; von welchen wenigstens die
auf die römische Literaturgeschichte bezüglichen**) in meine
zusammenhängende Darstellung derselben (Leipzig; Teubner;
1868 — 1870) ihrem wesentlichsten StoflFe nach Aufnahme
gefunden haben, während die aus der griechischen Litera-
turgeschichte***), falls mir Leben und Gesundheit bleibt,
in ähnlicher Weise zur Verwendung kommen werden. Aus
demselben Grunde habe ich ausgeschlossen meine Habili-
tationsschrift t) und die bei verschiedenen Gelegenheiten
Saicidium u. A. Ausserdem Ithaca^ und periodisch zur Aushülfe My-
thologie, wie Ixion, lynx, Menelaus, Nestor, Peleus, Penelope, Pen-
thesilea u. A.
*) Wie im Schwäbischen Merkur 1863, Nr. 257, S. 2327 und sonst;
Zur Geschichte des humanistischen Schulwesens in Würtemberg, in den
Jahrbüchern für Philol. und Pädag. 1869, zweite Abtheilung, S. 113—126.
. **) Im ersten Bande (zweite Auflage) Afranius, Alfenus Varus,
Annales, Apicius, Appuleius, Asconius, Asinius PoUio, Ateius Capito,
Atellanae, Atticus, L. Attius, Ausonius, Boethius, Bucolici, in Bd. II
— VI:' Chorus (Bd. II. S. 1291 f.), Fabula (Bd. III. S. 1567), Q. Horatius
Flaccus, Hortensius, luvenalis, Livius Andronicus, Lucilius, Lucretius,
Martialis, Naevius, Ovidius, Persius, Petronius, Propertius, Sallustius,
Satira, Tacitus, Tibullus, M. Tullius Cicero, Virgilius, Volkslied.
***) Im ersten Bande (zweite Auflage) Aeschylus , Agatho, Alcaeus,
Alcman, Alexis, Anacreon, Antiphanes, Aristophanes, Bacchylides, By-
zantini, in Bd. III— VI : Eubulus, lambographi, Melici, Paean, Pindarus,
Procopius, Sappho, Stesichorus, Theognis, Thrasymachus , Tyrtaeus,
Volkslied, Xenophanes.
t) De luliano imperatore christianismi contemtore et osore. Com-
Vorwort. V
herausgegebenen Tübinger Programme *) , mit einer ein-
zigen kleinen Aitsnahme (S. 338 ff.); weil mir die dortige
Würdigung Cicero's noch immer in Lob und Tadel die
gerechte Mitte zu halten scheint. Ebenso habe ich weg-
gelassen Alles was (in den Deutschen Jahrbüchern, Schweg-
ler's Jahrbüchern der Gegenwart, in der Zeitschrift für Alter-
thumswissenschaft, Jahn's und Fleckeisen's Jahrbüchern für
Philologie und sonst) in Form von Recensionen veröffentlicht
und so von vornherein für engere Zwecke bestimmt war, wie
ich auch sonst alle Polemik welche irgendwie einen persön-
lichen Anstrich hatte beseitigte. Endlich Solches mit dessen
Inhalt ich nicht mehr einverstanden bin, wie den Aufsatz
über die Todesart des Aeschylos (Rhein. Mus. IX. S. 148 —
153), weil die betreffenden Thatsachen mir jetzt von C. Gött-
ling (in dem Programme De morte falnilosa Aeschyli, Jena
1854. 4. = Opusc. academ. 1859, p. 230 — ^235) einfacher und
befriedigender gedeutet scheinen, und den über die RoUen-
vertheilung in Sophokles' Oedipus auf Kolonos (ßhein. Mus. IX.
S. 136 — 138), weil mir die Richtigkeit seines Ergebnisses
wenigstens zweifelhaft geworden ist.
meutatio quam ad potestatem litteras antiquas in acad. Tubing. docendi
rite impetrandam . . publice defensurus est etc. Adiectae sunt XII
theses. Tubingae 1844. 40 pp. 8.
*) 1. Caecilius Statius, Pacuvius, Attius, Afrauius (als Probe einer
Bearbeitung der römischen Literaturgeschichte). Programm
zur Geburtstagsfeier des Königs, den 27. Sept. 1868. Tü-
bingen, Fues, 1858. 43 S. 4.
2. lieber des Aeschylos Promethie und Orestie. Programm zur
kön. Geburtstagsfeier, den 27. Sept. 1861. Tübingen, Fues,
1861. 35 S. 4.
3. Üeber Cicero's Charakter und Schriften. Mit Verzeichniss
der im Dekanatsjahre 1862 — 1863 von der philosophi-
schen Facultät ernannten Doctoren. Tübingen, Fues, 1863.
48 S. 4.
4. Ueber Horaz. Programm zur kön. Geburtstagsfeier den
6. März 1868. Tübingen, Fues, 1868. 38 S. 4.
5. üeber Sallustius und Tacitus. Mit Verzeichniss der im De-
kanatsjahre 1867— -1868 von der philosoph. Fac. ernannten
Doctoren. Tübingen, Fues, 1868. 47 S. 4.
6. üeber die Uauptprosaiker der augusteischen Zeit. Mit Doc-
torenverzeichniss vom J. 1868—1869. Tübingen, Fues, 1869.
39 S. 4.
VI Vorwort.
Dagegen habe ich aufgenommen eine Anzahl literar-
historischer Arbeiten die bisher in einer "Art von Versteck
sich fanden^ als Einleitungen zu metrischen oder prosaischen
üebersetzungen, welche von den meisten Philologen grund-
sätzlich ignoriert werden. Ich meinestheils habe beiderlei
Arten von Uebersetzen, besonders aber das metrische, in
früheren Jahren eifrig betrieben, theils weil das künstlerische
Gestalten in der Muttersprache für mich einen Reiz hatte,
theils weil ich in dem Ringen nach möglichst zutreffender
Wiedergabe des fremden Originals' und der dadurch herbei-
geführten Nöthigung sich alle Färbungen des Inhalts und der
Form klar zu machen die geeignetste Vorarbeit für die
literarhistorische Behandlulig der betreffenden Schriftsteller
erkannte. Indessen habe ich mich bei dem (theilweisen)
Wiederabdruck dieser Einleitungen auf diejenigen beschränkt
welche eingehende Untersuchungen oder eine detaillierte Cha-
rakteristik enthalten, weggelassen also die Einleitung zur
üebersetzung von Hypereides' erhaltenen Reden (Griechische
Prosaiker 345; Stuttgart, Metzler, 1865), zu der von mir ge-
meinschaftlich mit W. Hertzberg verfassten der Gedichte des
CatuU (Römische Dichter 73; Stuttgart, Metzler 1862), und
zur Umarbeitung von C. F. Klaiber's üebersetzung des Livius
(in den Classikern des Alterthums, Stuttgart, Metzler, 1854 ff.),
sowie von Cicero's Brutus und Orator (ebd. 1859 und 1861),
und ohnehin das was ich zu G. Ludwig's Üebersetzung der
horazischen Oden (ebd. 1860) und W. E. Weber's der Satiren
und Briefe (ebd. 1859) beigesteuert habe.
Bei Allem was ich in diese Sammlung aufnahm und der
Art wie es geschah hat mich der Gedanke geleitet dass von
dem Individuum aufbewahrenswerth nur das sei was es ob-
jectiv Richtiges oder doch wenigstens für Andere Anregendes
zu Stande gebracht hat, dass aber die Form in der diess,
unter dem Einflüsse zufälliger Umstände oder persönlicher
Entwicklung, ursprünglich geschah für Mit- und Nachwelt
wenig Interesse habe. Ich habe daher niemals Bedenken
getragen eine Behauptung die mir unrichtig oder zweifel-
haft schien zu streichen oder abzuändern, einen minder pas-
senden Ausdruck durch einen geeigneteren zu ersetzen, und
habe selten nöthig gefunden die Verschiedenheit von der ur-
sprünglichen Fassung eigens bemerklich zu machen. Nur im
Vorwort. VII j
I
I
drittletzten Aufsatze dieser Sammlung waren jene Grundsätze
nicht immer durchführbar. Sollte wirklich Jemand den ersten
authentischen Text zu kennen wünschen ; so ist ihm durch
Angabe des Ortes wo er sich findet dazu Gelegenheit ge-
boten. Ich selbst wünschte eher dass ich von jener Methode
einige Male noch tiefer eingreifende Anwendung gemacht
hätte.
Tübingen, 1. Juli 1871.
Wilhelm Sigmund Teuffel.
Inhalt.
Seito
I. Zur Einleitung in Homer 1
II. Die Stellung der Frauen in der griechischen Poesie ... 45
III. Zur Vergleichung antiker und moderner Lyrik 76
IV. Aristophanes' Stellung zu seiner Zeit 94
V. Zu Sophokles' König Oedipus 114
VI. Zu Piaton. 1. Zur Politeia 126
2. Zum Symposion 143
VII. Kaiser Julianus. 1. Seine Jugendgeschichte 147
2. Echtheit einiger Briefe 162
3. Seine Beurteiler 168
4. Charakter und Stellung zum Christen-
thum 178
VIII. Prokopius 191
IX. Agathias 237
X. Zu Plautus. Nr. 1 — 16 265
XI. Zu Terentius. Nr. 1—6 280
XII. Cicero.* 1. Leben 289
2. Charakter als Mensch und Staatsmann .... 338
XIII. Tibullus (Leben, Gedichte, Kunstart) 344
XIV. Zu Curtius 387
XV. Zu Petronius . 391
X!VI. A. PersiuB Flaccus 396
XVII. Juvenalis 410
XVIII. Tacitus dialogus 435
XIX. M. Valerius Probus 442
XX. Lucian's Aovxiog und Apulejus' Metamorph 446
XXI. Vespae iudicium 458
XXII. Die Hauptrichtungen in der heutigen classischen Alter-
thumswissenschaft 460
XXIII. Fr. Hölderlin 473
XXIV, A. Schwegler 503.
I.
Zur Einleitung in Homer.*)
Die homerischen VorateUungen von den Göttern, vom lieben *
und vom Tode.
(Homerische Theologie und Eschatologie.)
Die nachstehende Abhandlung ist einer Vorlesung entnommen 6
welche der Verfasser im Winterhalbjahre 1846/47 zu Tübingen
gehalten hat. Wer sich die Muhe nehmen will die folgende Er-
örterung mit den betreflenden Abschnitten in Nägelsbach's
homerischer Theologie zu vergleichen, der wird finden dass die-
selbe — abgesehen von der fast diametralen Verschiedenheit der
Auffassung und Behandlung — auch in Bezug auf die Stoffsamm-
lung durchaus auf Quellenstudien beruht, die erst bei der Aus-
arbeitung gelegentlich aus Nägelsbach u. A. ergänzt und vervoll-
ständigt wurden. In der zweiten Hälfte ist der Kürze halber
öfters statt einzelner Nachweisungen geradezu auf des Letzteren
Schrift verwiesen worden, was um so statthafterschien weil hier
Nägelsbach's dogmatische Befangenheit weniger als sonst seinen
Blick zu trüben Gelegenheit gehabt bat. Von der eigentlichen
homerischen Eschatolo^e hat der Verf. schon im Jahr 1844 ^ in
dem Artikel /w/*m in Pauly's Beal-Encyclopädie (Bd. IV. S. 154 ff.)
eine Darstellung gegeben; da indessen die nachfolgende von der
ersteren in bedeutenden Punkten — hoffentlich nicht zu ihrem
Nachtheile -— abweicht, so konnte in jenem Umstände kein Grund
gegen den Abdruck auch dieses Theils gefunden werden. Um
übrigens der Zusammenstellung der Theologie und Eschatologie
*) Einladungsschrift des Stuttgarter Gymnasiums zum königlichen
Geburtsfeste den 27. September 1848. Stuttgart 1848. 34 S. 4.
Teuffol, Stadien. 1
2 Zur Einleitung in Homer.
den Anschein von VVillkurlichkeit welchen sie etwa haben könnte
zu benehmen oder zu mindern und zugleich diesen einzelnen
Gegenständen ihre Stellung in der Gesammtaufgabe einer homer-
ischen Einleitung anzuweisen, theilt der Verfasser eine lieber-
sieht des Planes mit welchen er der genannten Vorlesung zu
Grund gelegt hatte.
I. Stoff und Inhalt der homerischen Gesänge.
A. Im Allgemeinen: die Welt und Weltanschauung derselben
(das heroische Zeitalter).
1. Ihre Welt.
a) Die Erde. Kenntniss derselben. Homerische Geo-
graphie, Physik u. s. w.
b) Die Menschen.
aa) Der Einzelne als solcher, in den verschiedenen
Momenten seines Seins und seiner Erscheinung.
Homerische Anthropologie, bes. Psychologie,
bb) Der Einzelne im Verhältniss zu andern Ein-
zelnen.
a) Freundschaft.
ß) Die Familie, ökonomisch und ethisch.
y) Die Gesellschaft. Sitte und Gesittung.
d) Der Staat. König, Adel, Volk.
6 c) Die Götter,
aa) Begriff und Unterscheidungsmerkmale:
a) negative und qualitative: Unsterblichkeit;
ß) positive, schwankend zwischen dem qualita-
tiven und dem quantitativen Charakter:
aa) in Bezug auf ihre äussere Erscheinung;
ßß) ihr Verhältniss zu Raum und Zeit;
yy) ihre Erkenntniss;
^ dd) ihre Macht; Wunder;
€6) ihre Seligkeit;
SS) ihre sittliche Vollkommenheit,
bb) Ihre Offenbarung in der Menschenwelt.
cc) Ihr Verhältniss zu einander und zum Schicksal.
2. Die Weltanschauung der homerischen Ge-
sänge. Das oberste Princip der Welt. Gegammt-
anschauung vom Leben und vom Tode.
B. Im Besondern: Die Sagen vom troischen Krieg und von
Odysseus.
Homerisclie Theplogie. 3
II. Form der homerischen Gesänge.
1. Als schriftstellerisches Erzeugniss. Tradition
iiber die Person des Dichters und Kritik derselben. Lite-
rarische Geschichte der Gesänge. Entstehung, Anordnung
und Zusammenhang derselben theils für sich theils im
Verhältniss zu einander.
2. Als nationales Werk nach Entstehung und Wir-
kung (relativer, historischer Werth).
3. Als (episches) Kunstwerk (absolute, universale, ästhe-
tische Bedeutung), nachgewiesen in Parallele mit den
einzelnen Künsten:
a) Architektonik: Composition, Anlage im Einzelnen, Ein-
theilung.
b) Plastik: Figuren und Charaktere.
c) Malerei: Bilder, Vergleichungen , Beschreibungen.
d) Musik: Rhythmus und Metrum.
e) Sprache: Entwicklungsstufe und Eigenthümlichkeit der
homerischen Sprache.
1. Die homerischen Götter.
Die homerische Vorstellung von den Göttern bietet ein ausser-
ordentlich anziehendes Schauspiel dar: allenthalben ein lebendiges,
schmerzliches Gefühl von den Schranken der Endlichkeit und
ein Trieb in der Vorstellung Gottes sie als nicht vorhanden zu
setzen, überall ein Drang der Phantasie die Flügel auszubreiten
zum kühnen Flug ins Unendliche, ein Streben von der mensch-
lichen Weise loszukommen, den Boden des Natürlichen zu ver-
lassen, etwas qualitativ Verschiedenes in Gott zu setzen; neben
diesem transcendenten Trieb aber andererseits ein nicht minder
stark ausgeprägter Realismus, ein fest und klar auf das Seiende
gerichteter Sinn, eine gewisse Kühle und Masshaltigkeit der An-
schauung. So unübersehbar reich, so unübertrefflich schön breitet
die Sinnenwelt sich aus vor dem Auge, und so herrlich wandelt
die edle Menschengestalt dahin über die schöne Erde, so viel
ist sie, so viel vermag sie, dass der Sinn vollständig sich be-
friedigt fühlt in dem was da ist, keinen Trieb hat über es hin-
auszugehen, sondern nur etwa es noch zu vergrössern, zu ver-
schönern, zu bereichern, Alles sich noch schöner, noch vor-
1*
4 Zur Einleitung in Ilomcr.
trefflicher zu denken. Wenn diese beiden entgegengesetzten
Sinnesweisen mit einander in Berührung gesetzt wurden, so musste
sich ein Kampf entspinnen^ ein Element musste das andere in^
seiner eigentlichen Qualität zu beschränken und zu modificieren
suchen; der abenteuerlich zu den Wolken aufstrebenden Phan-
tasie musste sich der realistische Verstand wie Blei an die Fusse
hängen, und umgekehrt musste der besonnen auf das Seiende
gerichtete Sinn durch das Ziehen und Stossen der Phantasie alle
Augenblicke aus seinem ruhigen Gange, seinem geraden ebenen
Geleise zu Sprüngen und Abwegen verführt werden. Und wirklich
sind diese beiden Gegensätze, welche wir kurz als Natur und
Wunder, als occidentalische und orientalische Anschauungsweise
bezeichnen können, in der homerischen Vorstellung von den
Göttern zusammengekuppelt; in ihr ist das schöngebaute Boss
mit dem stolzen Nacken und dem festen sichern Tritte zu Einem
Gespanne vereinigt mit dem etwas struppigen und ungebärdigen
Flügelrosse. Der Boden welchem das homerische Epos entstammt
ist; der Boden loniens, brachte das so mit sich: hier trafen
Orient und Occident zusammen und drückten freundlich sich
die Hand; die eigentliche Grundlage und der eigentliche Herrscher
blieb zwar immer der Occident, aber dieser verband und ver-
schwägerte sich vielfach mit dem Oriente^ und unangehalten
zogen zu dem weitgeöfTneten Thore orientalische Ideen und An-
schauungen aus und ein. Welches dabei das Verhältniss des Alters
zwischen beiden war, ob das phantastische Element ein zurück-
gebliebener Best der ursprünglichen orientalischen Vorstellung
ist oder ein zu der ursprünglich rein occidentalischen Anschauung
hinzugekommener Zusatz ^ lassen wir, als zu' tief in das Dunkel
der frühesten Völkergeschichte führend ^ ununtersucht und be-
gnügen uns mit der Thatsache dass bei Homer das occidentalische
Element jedenfalls das Uebergewicht hat. Aber von einer eigent-
lichen Durchdringung beider kann keine Bede sein, es ist viel-
mehr ein ewiger Wechsel zwischen beiden Principien, ein fort-
8 währendes Ueberspringen von dem einen zum andern, das aber
so leicht und rasch vor sich geht dass der Wechsel gar nicht
zum Bewusstsein kommt, ein beständiges Schwanken und Schaukeln
zwischen Himmel und Erde. Einen festen Lehrbegrifi' wie man
ihn, vielleicht mit demselben Unrechte, den neutestamentlichen
Schriften zumutet, darf man bei Homer nicht suchen; die ver-
schiedenen Ingredienzien liegen noch gährend in einander, es
Homerische Theolosrie.
ö'
hat sich noch Nichts abgeklärt, noch kein fester Niederschlag
gebildet, der Process der Bildung einer klaren Vorstellung ist
noth in voller Arbeit. Er hat geendigt mit dem vollständigen
Siege des realistischen, occidentalischen Elementes, der Aus-
stossung des träumerisch Phantastischen , .des abenteuerlich Wunder-
haften; bei Homer aber sind beide noch neben einander, und
darum kann die homerische Vorstellung von den Göttern der
Eeflexion keinen Augenblick Stand halten, sie bietet ihr tausend
ßlösen, sie wimmelt von Inconsequenzen und Widersprüchen, die
aber das Bewusstsein entweder gar nicht entdeckt oder unbe-
kümmert sich darüber hinwegsetzt.
Das einzige ganz feste Merkmal wodurch sich der Gott vom
Menschen absolut und qualitativ unterscheidet, was den Begriff
des Gottes wesentlich constituiert, den Gott zum Gotte macht, ist
dass er von dem Schmerz des Todes befreit, dass sein Sein und
sein Sosein nicht dem Wechsel und der Vergänglichkeit unterworfen
ist, dass er ewig Gott und ewig er selbst bleibt. ^Ad'ävatoL und
d-sol sind Wechselbegriffe, nur dass die Götter unsterblich nicht
so sind wie Tithonos, sondern zugleich des Vorzuges ewiger
Jugend sich erfreuen: sie sind nicht blos oi;ro^ ^OQiSvfioc (II.
XXn, 13), alev eövrsg (z. B. II. I, 290), deiyevhai (II. VI,
527), sondern auch dy^gaoi (II. VIII, 539. XVH, 444. Od. V,
136. 218). Diese Eigenschaft hat ihre Quelle und ihre fort-
M'ährende Nahrung darin dass sie statt menschlicher Speise regel-
mässig und ausschliesslich Nektar und Ambrosia gemessen. In
Folge dessen haben sie nicht Blut, wie die Menschen, sondern
Ichor in ihren Adern (II. V, 339 ff.); und da eben im Blute das
Lebensprincip des einzelnen Menschen liegt, so ist hiemit gleich
das Leben der Götter auf eine ganz andere Grundlage gestellt.
EinmaUger Genuss der Ambrosia bewirkt nur bei dem Götter-
kinde Apollon augenblickliche Vergöttlichung (hymn. in Ap. 127),
nicht aber bei Achilleus, dem seine Mutter zu vorübergehender
Stärkung Nektar und Ambrosia einträufelt als er Nahrung zu
sich zu nehmen sich weigert (II. XIX, 352 ff.). Aber durch fort-
gesetzten Genuss derselben könnte Odysseus sein sterbliches Blut
in göttliches verwandeln und selber ein Unsterblicher werden
(Od. V, 135 f. 196 — 199. 209. vgl. 258), wenn er es nicht
vorzöge in seine Heimat zu Weib und Kind zurijckzukehren.
Denn Nektar und Ambrosia geniessen heisst in seiner Grund-
bedeutung nichts Anderes als: Unsterblichkeit zu sich nehmen
6 Zur Einleitung in Homer.
{vri und Tttav; dv und ßQOtog), eine ganz ähnliche Verwand-
lung eines abslracten Begriffes in einen concreten realen Gegen-
stand wie wenn es von Aphrodite heisst sie wasche sich mit
Schönheit (Od. XVIIl, 193 f.) und habe in ihrem Köcher die
Liebe, das Verlangen und die schmeichelnde Beredung (U. XIV,
216 f.). Woher die Ambrosia kommt wird in der Ilias nicht ge-
sagt; jeder Gott hat deren, wie es scheint, zu seinem Bedarfe
bereit (so Simoeis, II. V, 777; Thetis, IL XIX, 352 ff.); in der
Odyssee aber (XII, 63) findet sich die Angabe dass Tauben (Symbole
der Schnelligkeit) sie dem Zeus aus dem Westen ^ wo alles Köst-
liche zu Hause ist, daherbringen. Ambrosia bekommen auch die
Pferde der Götter zu fressen (II. V, 777) und w^erden dadurch
unsterblich, wie überhaupt alles Eigentbum der Götter, bis auf
ihre Kleider und Salböle herab, ambrosisch ist, d. h. die Un-
9 wandelbarkeit der Götter theilt. Damit haben wir aber erst eine
negative Bestimmung über das Wesen ^ottes; zu den positiven
Bestimmungen nun übergehend betreten wir einen Boden voll
Unebenheiten, der kaum irgendwo festen Fuss zu fassen gestattet.
In ihrer äusseren Erscheinung haben die Götter einerseits die
menschliche Gestalt und andererseits haben sie sie auch nicht.
Wenn sie sich den Menschen unverwandelt zeigen so machen sie
zwar den Eindruck ausgezeichneter Persönlichkeiten, z. B. durch
Grösse und Schönheit, wie auf dem Schilde des Achilleus Ares
und Athene xaXto zal ^eyäXca, cSate d'eci tcsq an der Spitze
von Heeren standen welche mcoXCtpveg waren (IL XVIII, 518 f.),
jedoch nicht als Menschen Göttern gegenüber, sondern als Xaol
den aQXOvteg gegenüber. Aber ein auffallender Unterschied zwi-
schen den Göttergestalten und den menschlichen ist in der Begel
nicht, weder an ihnen selbst noch in den Bildern von ihnen.
Wie Athene in unverwandelter Gestalt sich auf den Wagen des
Diomedes setzt hat nicht nur dieser noch Baum genug neben ihr,
sondern der Wagen kann auch Beide tragen, die Pferde Beide
ziehen, und nur dass zwei Heidenleiber auf ihm sitzen macht
den Wagen krachen; dstv^v yaQ aysv d'sov avÖQa r' aQiötov
(IL V, 838 f.). Ausgezeichnet ist sie nur durch ihre grossen
(yXavxcSTCLg) strahlenden Augen {dsivtd Se ot oöae fpccav^ev,
IL I, 200). So erkennt auch Aineias den Apollon erst wie er ihm
ins Gesicht sieht [iadvra IScivy IL XVII^ 334), und Ajas erkennt
den Poseidon auch in der Gestalt des Kalchas am leichten schweben-
den Gange: aQiyvfoxoi 81 %^boC tcsq (IL XHI, 71 f.); denn etwas
Homerische Theologie. 7
Besonderes haben sie immer bei aller Aehnlichkeit mit dem
Menseben. Neben dieser Vorstellung nur relativer, quantitativer
Unterscheidung läuft aber die andere von einem absoluten Unter-
schiede her. Denn wenn Poseidon (11. XIV, 148) und Ares (IL V,
860) schreien wie 10000 Menschen,*) wenn Ares im Falle einen
Flächenraum von sieben Morgen bedeckt (II. XXI, 407), bei Zeus
Lockenschütteln der Olymp (II. 1, 530), unter Hera's und des Hypnos
Tritten der Wald (II. XIV, 285) zittert , so sind dabei Grössenverhält-
nisse vorausgesetzt welche die menschlichen um so Vieles übersteigen
dass sie geradezu als übermenschliche bezeichnet werden müssen.
Dazu kommt noch dass die Götter die Gabe beliebiger Verwandlung
besitzen ; nicht nur können sie willkürlich die Gestalt irgend eines
Menschen annehmen und entweder dessen Rolle oder in seiner
Gestalt ihre eigene Rolle durchfuhren, wie zahllose Beispiele be-
Meisen, sondern auch in Thiergestalten und sogar in leblose
Dinge können sie sich verwandeln. So spricht Poseidon in Gestalt
des Kalchas den beiden Ajas Mut ein und enteilt dann in Gestalt
eines Habichts (11. XIII, 45 — 65); so kommt Athene II. IV, 75
als ein fallender Stern, XIX, 350 f. als ein Raubvogel, und ver-
schwindet Od. III, 371 ff. als Adler, Od. I, 320 als oQvi^g; so sitzen
IL VII, 59 Apollon und Athene in Geiergestalt auf einer Buche,
um, selbst ungesehen, Hektor's und Ajas* Zweikampf zuzuschauen ;
Od. XXII, 240 sieht Athene der Ermordung der Freier in Gestalt
einer Schwalbe zu, und II. XIV, 289 ff. verbirgt sich Hypnos
vor Zeus als Vogel in dem Gezweig einer Tanne. So wunder-
haft aber diese Kraft der Verwandlung ist, so wenig sie zu der
Menschenähnlichkeit des Götterleibes stimmt, so sehr sie einen
qualitativen Unterschied vorauszusetzen scheint, so kam doch
dieser Widerspruch dem Dichter nicht zum Bewusstsein , vielleicht
weil für ihn selbst jene Verwandlungen nur eine durchsichtige
Form der Darstellung waren. Denn wenn es z. B. heisst: Athene lo
erschien in der Gestalt des Laodokos dem Pandaros und beredete
ihn zum Schusse gegen Menelaos, so ist diess leicht dahin zu
übersetzen : Laodokos gab dem Pandaros den Rath zu schiessen ;
oder wenn es 11. IV, 75 ff. heisst: Athene erschien in Gestalt
eines Sternschnuppen' (oder Kometen?)^ den dann die Leute für
ein bedeutsames Zeichen ansahen, so ist der Zusammenhang zwischen
♦) II. V, 744 gehört nicht hieher; es heisBt: figuris militum cenium
ormtani^ vgl. II. XIV, 181. G. Hermann Opusc. IV. p. 287. 291.
8 Zur Einleitimg in Homer.
Athene und dem Stern ein sehr lockerer, die Beziehung von
diesem auf jene willkürlich oder diess besagend dass damit die
Wirkung der zufälligen Erscheinung' auf die Menschen als etwas
Planmässiges gesetzt wird. Vielleicht aber ist der Maugel von
Bewusstsein über die Unvereinbarkeit der Verwandlungskraft mit
der Menschlichkeit der Erscheinung nur dieselbe Naivität welche
die Aussagen von der Menschenähnlichkeit der Götterleiber neben
die von ihrer gigantischen übermenschlichen Grosse unvermittelt
hinstellt, ihren Leib also gleichsam in Einem Athem als menschlich
und als übermenschlich bezeichnet. Dasselbe Schwanken zwischen
natürlicher und wunderhafter Betrachtungsweise zeigt sich in
dem Verhalten der Götter zu Raum und Zeit. Die Götter sind
einerseits Personen , d. h. durch einen Leib begrenzt; daher sind
sie durch die Schranken von Raum und Zeit gebunden; anderer-
seits sind sie doch Götter, und jene Schranken sollten daher
bei ihnen eigentlich wegfallen, sie sollten sich mit unbedingter
Freiheit bewegen. Die Vermittlung zwischen beiden Forderungen
ist dadurch erstrebt dass den Göttern erstens Sinne zugeschrieben
werden welche von den menschlichen zwar nicht qualitativ ver-
schieden, aber quantitativ unendlich gesteigert sind, zweitens
ihnen eine Schnelligkeit der Bewegung beigemessen wird wodurch
alle Entfernungen für sie auf ein Geringes herabgesetzt werden.
Was das Erste betrifft so ist das Ohr der Götter so scharf dass
sie lautes Gebet von jeder Stelle aus hören (II. XVI, 515), und
auch was nicht unmittelbar an sie gerichtet wird, wie z. B.
Thetis den Klageruf des Achilleus um den gefallenen Patroklos
(II. XVIII, 35. Anderes s. IL VIII, 198. Od. IV. 505) ; ebenso vermag
das Auge der Götter über alle Fernen wegzublicken; so sieht
Zeus vom Ida herab den Poseidon ins Meer tauchen (IL XV, 222 f.)^
Poseidon sieht von den südöstlichen Solynierbergen ans den
Odysseus im Nordwesten auf seinem Flosse dahersteuern (Od. V,
283 f.), und Hesiod "E. x, 'H: 267 sagt es geradeheraus: itdvra
iSmv ^Log 6q)d'aXfids xal Tcdvxa voi]<Sag. Aber auch diese
Schärfe der Sinne hat ihre Grenze. Bei Zephyros schmausend
hören die Winde nichts von der Anrufung des Achilleus und
kommen erst auf Iris* Bestellung (IL XXIII, 199); das von Hephaistos
übar sein Ehebett gebreitete Fangnetz ist so fein dass Ares es nicht
sieht und richtig in die Falle geht (Od. VIII, 280 f.); und Helios,
der sonst Tcdvt^ itpoQu xal Tcavt* eTcaxoveCy erfährt erst durch
die Nymphe Lampelie dass Odysseus' Gefährten ihm seine Rinder
Homerische Theologie. 9
geschlactilet haben (Od. XII, 374). Was das Zweite betrifft, die
Schnelligkeit der Bewegung, wodurch sie so rasch wie der Gedanke
(IL XV, 79 ff.) über die höchsten Gipfel hinfliegen (IL XIV, 225 ff.),
so ist diese ein Ersatz dafür dass Wirkung aus der Ferne, als
an sich unmöglich, auch den Göttern versagt ist. Wenn die Götter
auf den Verlauf des Kampfes Einfluss üben wollen, so begeben
sie sich auf das Schlachtfeld selbst; wenn sie die Menschen kennen
lernen wollen, so durchwandern sie in menschlicher Gestalt die
Städte (Od. XVII, 485 ff.). Ein Anfang von wunderbarer Wirkung
aus der Ferne findet sich nur bei Zeus: ohne persönlich zu-
gegen zu sein richtet er den schwergetroffenen Hektor durch
seinen v6og auf (IL XV, 242. vgl. Od. XXIV, 164) ; ebenso reisst
er dem auf Hektor zielenden Teukros die Bogensehne entzwei
(IL XV, 463 f.) und gibt dem schiffbrüchigen Odysseus zur ii
Rettung den Mast in die Hand (Od. XIV, 310 ff.). — Wie dem
Körper so unterscheiden sich die Götter auch dem Geiste nach
ursprünglich nur quantitativ von dem Menschen. Ihr Wissen
ist keine Allwissenheit, sondern auf den — freilich ausgedehnten
— Kreis des in ihre Sinne Fallenden beschränkt. Here über-
listet den Zeus (IL XIV.), sucht aber vergebens Zeus' Plane zu
erspähen (IL I, 540 ff.) ; Zeus weiss nicht dass Poseidon heimlich
den-Achaiern beisteht (IL XIII, 357), nicht dass Iris heimlich
von Here an Achilleus. gesandt ist (IL XVIII, 185 f. 404); Poseidon
hat keine Kunde davon dass Odysseus seinen Sohn Polyphenios
geblendet hat, noch von dem in seiner Abwesenheit gefassten
Beschlüsse der Gölter, den Odysseus heimzulassen (Od. V, 286),
und Kalypso verspricht dem Hermes Alles, ohne zu ahnen dass
er ihr den Odysseus abfordern will (Od. V, 87 — 90); ebenso-
wenig hat Ares eine Ahnung von dem Tode seines Sohnes As-
kalaphos (IL XHI, 523 ff. vgl. XIV, 110). Daneben steht aber
die Vorstellung: d'sol 3d xs Ttdvta üöaacv (Od. IV, 379. 468),
gegründet namentlich darauf dass die Götter das Loos des Menschen
vorauswissen, dass sie Kenntniss haben von den Beschlüssen des
Schicksals, welchd Kenntniss man sich je nach der Vorstellung
vom Schicksal auf verschiedene Weise real vermittelt denken
kann. So hat Zeus dem Aigisthos sein Schicksal warnend vor-
ausverkündet (Od. I, 37), u. A. (Od. V, 288. 345. XI, 249.
XIII, 306 u. A.). Daher sagen auch 'die Menschen von künftigen
Dingen: Zsvg yccQ Ttov röye ol8s xal a^dvatoi %'BoI akkoi.
So gewahren wir auch hier den Trieb ein ideales Dasein sich
10 Zur Einleitung in Homer.
zu denken, für welches die Schranke der Zeit nicht voriianden
wäre, und im Kampre mit diesem Triebe das verständige Be-
wusstsein von der Unenifernbarkeit dieser Scliranke, von ihrer
Nothwendigkeit theils an sich theils im Zusammenhang mit der
auch in Gott gesetzten menschlichen Natur. Derselbe Streit zwischen
einem idealen Gottesbegriffe und der natürlichen Unßhigkeit oder
Abneigung von den Bedingungen der Menschlichkeit loszukommen
wiederholt sich bei den Vorstellungen über die Macht der Götter»
ihre Fähigkeit ihrem Willen Dasein zu geben. Die Odyssee spricht
wiederholt und mit dürren Worten die Ueberzeugung aus dass
d^sol ndvta dvvavtav (Od. iV, 237. X, 306. XiV, 445), dass
also der Mensch in aller Noth, auch der äussersten, auf Hülfe
und Rettung hoffen dürfe (Od. IV, 753) ; denn ^Bla »Bog y iHXmv
xal tfiXöd^Bv ävdga öacSöai (Od. HI, 231). Die Uias bewahrt
auch hier ihre nüchternere realistische Anschauung, ihre feste
Diesseitigkeit, und spricht ebenso deutlich aus dass zwischen Gott
und Mensch nur ein quantitativer Unterschied obwaltet: IX, 497 f. :
ötQsatol ÖS xs xal d'Bol avtol x&vnsQ xal iiei^ov ägetiQ
rifirj re ßirj ts (als deine, Achilleus), vgl. TCoXif vpi^SQoi slöt
von den Göttern (ib. XX, 368); sie sieht überall Schranken der
göttlichen Macht: so kann das Schloss das Hephaistos an Hera's
Thüre gemacht kein anderer Gott öffnen (II. XIV, 168); ein Schlacht-
feld überall zu betreten vermöchten selbst Ares und Athene nicht
(IL XX, 358 f.), und Alhenes Schild kann auch Zeus' Donner-
keil nicht durchdringen (11. XXi, 401); Hades' Helm macht auch
für Götter unsichtbar (II. V, 845). Eine so unbeschränkte Fähig-
keit Wunder zu thun wie sie die christliche Vorstellung Gott
zuschreibt flndet sich daher in der homerischen Vorstellung
entfernt nicht, ja die Vorstellung von Wundern ist eigentlich
gar nicht vorhanden. Denn einmal ist die Natur an allen Ecken
und Enden hypostasiert und damit mit einem Willen begabt der
sich so oder anders bestimmen und auf den auch Einfluss geübt
werden kann; die absolute Festigkeit der Naturgesetze ist mit
jener Anschauung gebrochen. Die Sonne wandelt unaufhaltsam
12 und unveränderlich die Bahn welche ewige in ihr selbst liegende
Gesetze ihr vorschreiben; aber Helios kann wohl einmal aus be-
sonderer Gefälligkeit oder auf Befehl eines höher stehenden Gottes
später sich auf den Weg machen oder früher heimkehren, was
Beides geschieht (Od. XXIIl, 243 f. 345. II. XVIII, 239 f.). Der
strenge Begriff des Wunders setzt durchaus einen Gegensatz zur
Homerische Theologie. 11
Natur voraus, und dieser ist bei Homer schlechthin nicht vor-
handen. Auch wo die Götter Ausserordentliches thun, wunderhaft
handeln, wird diess nur von der Seite betrachtet dass die Götter
eben mächtig seien und weit mehr vermögen als der Mensch ^ nicht
aber dass es etwas der widerstrebenden Natur Abgerungenes sei.
Vielmehr ist das Chrarakteristische des Thuns der Götter gerade
diess dass sie Qsta (IL XllI, 90. XV, 356. XX, 444. Od. X,
573) , ^^tdiaig (Od. XIV. 348. 357. XVI, 198. 211, XXIII. 185),
gleichsam spielend, auch das den Menschen ausserordentlich und
schwierig Scheinende vollbringen, und wenn Hera II. IV, 26 sagt
sie habe für die Acbaier Muhe und Schweiss nicht gescheut, so
ist damit nur der Eifer den sie aufgewendet habe bezeichnet.
Es ist in der homerischen Zeit noch gar kein klares Bewusstsein
der Naturgesetze, die Grenze zwischen dem Möglichen und dem
Unmöglichen ist noch nicht scharf und fest gezogen, und darum
ist der Begriff des Wunders noch gar nicht vorhanden ; es wundert
sich Niemand auch über das Unerwartete, Ausserordentliche (vgl.
11. XV, 355 ff. XIX, 407), eben weil der Kreis des Möglichen
für das Bewusstsein kein abgeschlossener ist. Dabei zeigt sich
aber doch ein gewisser natürlicher Tact wirksam: nur kleine
Gefälligkeiten, Nachgiebigkeiten werden von der Natur erwartet,
das absolut Unmögliche, in sich selbst Widersprechende wird ihr
nicht zugemutet. An Wiedererweckung eines wirklich Todten
z. B. ist bei Homer kein Gedanke, wohl aber wird der von Ajas
mit einem Feldstein schwer auf die Brust get|foffene und halb-
todt umgesunkene Hektor durch göttliche Hülfe gestärkt und
wieder aufgerichtet, oder der Leichnam des Patroklos un,d Hektor
vor Verwesung und Entstellung wunderbar behütet (vgl. z. B.
IL XXIV, 414. 422); mit Einem Worte: die Wunder bei Homer
sind keine solche welche den natürlichen Sinn ins Gesicht schlagen,
sie sind nur eine ausserordentliche Spannung des Natürlichen,
eine Erweiterung des Möglichen, nicht aber etwas der Natur
Entgegengesetztes, zur Bewährung der angeblichen Herrschaft des
Geistes über die Natur Ersonnenes, sie sind nicht principiell,
tendenziös und absichtlich, sondern gleichsam natürliche Aus-
flüsse der besonderen Macht der Götter, und sie lassen noch einen
Rest von Möglichkeit sie sich vorstellig zu machen.
Endlich kehrt dasselbe Schwanken zwischen idealistischer und
realistischer Auffassung wieder in den Vorstellungen über die Selig-
keit der Götter und über ihre sittliche Vollkommenheit,
12 Zur Einleitung in Homer.
Die GöUer siud im Allgemeinen selig, ^xaQegj (eta ^movrsgj
(1. h. sie sind erhaben ober irdische Noth und Sorge und Schmerz
und erfreuen sich des Vollgenusses alles dessen was das Leben
schön und angenehm macht. Aber diese Glückseligkeit ist keine
unbeschränkte, ausnahmslose. Die Verschiedenheit ihrer Macht
und ihrer Neigungen ist eine Quelle vielfacher Qual für die unsterb-
lichen Gölter. Zeus droht den übrigen Göttern mit Schlägen
(II. VIII, 12) und mit dem Blitze (ib. 418. 455. vgl. XV, 117 f.)
und schleudert in seinem Zorne sie im Saal herum (IL XIV, 256 Ef.),
den Hephaistos wirft er den Olymp hinab (II. I, 586), und seine
Gattin Hera hat er gar einmal zwischen Himmel und Erde auf*
gehängt, zwei Ambose an ihren Füssen (U. XV, 18 ff.). Athene
ist so barbarisch die Aphrodite auf die Brust zu schlagen dass
sie umfallt (II. XXI, 424 f.), und Hera hält mit der einen Hand
die Artemis fest, mit der andern schlägt sie ihr die eigenen Pfeile
13 um die Obren (II. XXI, 488 ff.). Athene hetzt auch den Diomedes
gegen Aphrodite und Ares dass er Beide verwundet (IL V, 131 f.
348 ff. 827 ff.) , und Dione weiss ihre Tochter nicht anders zu
trösten als damit dass auch schon andere Götter von Sterblichen zu
leiden gehabt haben (IL V, 381—402) ; so ist Dionysos angstvoll vor
Lykurgos geflohen (IL VI, 134 (f.); dem Laomedon haben Poseidon
und Apollon ein Jahr lang gefrohnt, und als sie ihren Lohn for-
derten so drohte er ihnen mit Misshandlung (IL XXI, 443 ff.);
Otos und Ephialtes bedrohen den Himmel (Od. XI, 313 f.), und
vor dem hunderlhändigen Riesen Briareos fürchten sich auch die
Götter (IL 1, 406). Dauernder ist der Schmerz welchen Thetis
um ihres Sohnes willen empfindet, dessen frühen Tod sie bestimmt
vorauskennt und vorausbeweint, schon zu einer Zeit da er den
höchsten Gipfel des Glanzes und Ruhmes zu ersteigen eben im
Begriff ist (IL XVHI, 52 ff. 430 ff. vgl. IL I, 413 ff. XXIV, 85.
93 f). — Denselben Beschränkungen wie die Seligkeit der Götter
ist auch ihre sittliche Vollkommenheit unterworfen. Im
Allgemeinen wollen sie das Gute und nur das Gute; sie hassen
und strafen die Ungerechtigkeit (IL XVI, 386 ff.), sie zürnen dem
Achilleus dass er den Leichnam Heklors in wilder Leidenschaft
misshandelt (IL XXIV, 113 ff.), und in der Odyssee, die auch hier
wieder ihre idealistischere Haltung bewährt^ ist es geradezu aus-
gesprochen dass die Götter Unrecht nicht lieben, äXXä dixrjv
rlovöL xal cc[0i(ia Igy' dvd'Qcinfov (Od. XIV, 83 ff.) und, unter
den Menschen umherwandelnd, die Gewaltthätigen und die Fried*
Homerische Theologie. 13
liebenden kennen zu lernen bemüht sind (Od. XVII, 484 iT.); ja
Laertes erkennt darin dass die Freier enclUcb für ihren Uebcr-
mul gezüchtigt worden sind einen Beweis dafür dass es noch
Götter gibt (Od. XXIV, 351 f.)* Aber das Recht, zu dessen Hütern
sie das mensciiliche ßewusstsein bestellt hat, denkt sich dieses
auch manchmal von ihnen selbst nicht streng genug beachtet,
gerade wie ein menschlicher Richter zwar streng und gerecht
richten, aber dabei doch selbst manchmal das Gesetz verletzen
kann. Auch die Götter üben manchmal die vßQig die sie an den
Menschen hassen und bestrafen. Die vßQig ist es was das ßewusst-
sein dieser Zeit am strengsten verdammt, sie ist das Böse und
die Sünde im Sinne dieses Zeitalters. Wir ersehen daraus was
desselben wesentlichstes Interesse war und was es am meisten
fürchtete; es war eine Zeit wo die Ordnung kaum erst der rohen
Gewalt den Boden abgerungen hatte und selbst noch auf schwachen
Füssen stand und leicht zu erschüttern war, wo das Recht des
Stärkeren zwar noch im Bewusstsein haftete, aber eingedämmt
war, so dass es nur noch nach aussen Ueberschwemmungen ver-
anlassen konnte, im Innern des Landes selbst aber nur friedliche
befruchtende Bäche rannen. Die Verletzung des. Rechtes Befreun-
deter und zur Erwartung von Schutz oder Freundschaft Berech-
tigter, die Ueberschreitung der Jedem in seiner Sphäre gesetzten
Schranken, — das ist die vßQcg, der. für die damalige Zeit ge-
fährlichste und daher verpönteste Fehler. Nur sofern die Götter
in diesen verfallen Verstössen sie gegen das sittliche Bewusstsein
der Zeit, deren Begriffe wir uns hier schlechterdings zum Mass-
stabe nehmen müssen. Dass diess unterlassen ist macht den
Grundfehler von Nägelsbach's betreflender Erörterung*) aus; er
stellt da ein langes Sündenregister der homerischen Götter auf,
ohne den Begriffen der homerischen Zeit gehörig Rechnung zu
tragen, sondern was unsern geläuterten und befestigten sittlichen
Begriffen zuwiderläuft, das hätten, als unsittlich, die homerischen
Götter nicht thun sollen. Da aber ja diese Götter nur Projectionen
des Bewusstseins sind , so ist für sie unsittlich nur was den sitt-
lichen Begriffen der Zeit die sie geschaffen hat widerstreitet.
•) Homerische Theologie I, 16—18 (d. h. Erster Abschnitt, §. 16—18)
=B I, 12 — 14 der zweiten Anflage. In derselben Weise sind alle folgenden
Verweisungen auf dieses Werk zu verstehen, so dass dieselben, wo eine
Abweichung nicht ausdrücklich bemerkt ist, sowohl auf die erste (Nürn-
berg 1840) als auf die zweite (Nürnberg 1861) Auflage Anwendang finden.
14 Zur Einleitung in Homer.
14 Daher sind aus dem Sündenregister vor Allem zu streichen die
zahlreichen galanten Abenteuer, zu Deutsch Ehebrüche, der homer-
ischen Götter (vgl II. XiV, 313. Od. VHI, 266 ff. XI, 238 f.
261. 268. 306). So wenig als es dem homerischen Menschen
verübelt wird wenn er neben seiner rechtmässigen Gattin noch
eine Anzahl nakkaxidsg hat, falls er darüber nur nicht jene
vernachlässigt, ebensowenig braucht der Gott seinen zärtlichen
Neigungen ein ängstliches Ziel zu setzen. Zweitens zieht diese
Zeit den Kreis des Begriffes Kriegslist sehr weit. Nicht nur wird
an Odysseus seine Verschlagenheit und Klugheit, die sich ge-
legentlich auch in keckem Lügen und Aufschneiden bewährt (bes.
Od. XIV.), allezeit nur gepriesen und bewundert, sondern es wird
auch der mütterliche Grossvater desselben, Autolykos, in allem
Ernste darum gerühmt dass er sich vor allen Menschen durch
seine Kunst schlauen Lügens und Betrügens ausgezeichnet habe
{ävd'QciTCOvg ixsxaöto xXsjetoöiivy ^' oqxo} r£, Od. XIX , 395 f.),
was ausdrücklich als eine Gottesgabe, als ein Geschenk des Hermes
für den treuen Dienst den er ihm bewiesen, bezeichnet wird
(v. 396 — 398.). Dieser Anschauung gemäss sind denn auch die
Fälle im Thun der Götter zu beurteilen. II. II, 8 ff", sendet Zeus
dem Agamemnon absichtlich einen falschen, trügerischen Traum;
II. IV, 64 ff*, willigt Zeus in den Vorschlag der Hera dass Athene
den Pandaros zum Vertragsbruch und Meineid verführe; IL V,
563 f. ermutigt Ares den Menelaos, nur um ihn dem Aineias
preiszugeben; IL XXII, 226 ff. nimmt Athene die Gestalt von
Hektor's Bruder Deiphobos an um ihn dem sicheren Verderben
durch Achilleus' Arm entgegenzuföhren; ApoUon schlägt dem Dio-
medes die Peitsche aus der Hand damit er im Rennen nicht die
von ihm selbst aufgezogenen Rosse überhole (IL XXIII, 383 f.
vgl. II, 766), und Athene stellt dem Ajas ein Bein damit ihr
Liebling Odysseus im Vl^ettlauf siege (IL XXIII, 774). Das sind
nun alles freilich Dinge die uns nicht sehr gotteswürdig vor-
kommen; das homerische Bewusstsein aber sieht darin nur einen
Sieg des grösseren Verstandes, der höheren List. Dass Pandaros
so thöricht ist zu glauben er erwerbe sich ein Verdienst wenn
er vertragswidrig auf Menelaos schiesse, dass Agamemnon so blind-
lings in die ihm gestellte Falle geht, durch ein Traumgesicht
ohne Weiteres sich bestimmen lässt, das ist ihre Sache, die
Götter haben auf sie keinen Zwang geübt, ihre Freiheit nicht
beeinträchtigt, es trifft sie daher auch keine Verantwortung. Drit-
Homerische Theologie. 16
tens die Händel welche die Götter unter einander haben gehören
für das homerische Bewusstsein ebenso wenig zu den sittlichen
Unvollkommenheiten der Gölter; der Kampf wird vielmehr nur
als eine Art der Belhätigung einer tüchtigen Persönlichkeit be-
trachtet, und Poseidon sagt II. XXI, 437 f. es wäre doch eine
Schande wenn sie zum Olympos heimkehrten ohne gekämpft zu
haben ; vgl. v. 389 f. Dagegen scheint ein Anfang der so schwer
verpönten vßQig zu liegen in dem Neide welchen die Götter
theils unter einander theils gegen manches Menschliche empfinden
und welcher eine Velleität gegen dieses aufzutreten in sich schliesst.
Die verliebte Kalypso beschwert sich darüber dass die Götter
gleich neidisch und eifersüchtig werden wenn eine Göttin sich
einen sterblichen Mann beigeselle, während sie selbst die Gemein-
schaft sterblicher Weiber keineswegs verschmähen (Od. V, 118 ff,);
Zeus will dem Hektor neben Achilfs Röstung nicht auch noch
dessen Gespann gönnen (11. XVH, 450); Poseidon ist neidisch auf
die von den Achajern erbaute Mauer, die sein Werk vergessen
macht (IL VII, 446 !f.), und auf das Glück der Phäaken zur See
(Od. VIH, 565 fr.); Apollon gönnt dem Menelaos die Rüstung des
Euphorbos nicht (II. XVII, 71 IT.), und Bellerophon wird um seines
auffallenden Glückes willen von den Göttern verfolgt (II. VI,
191 — 205). Aber dieser Neid der Götter gestaltet auch die 15
entgegengesetzte Auffassung: in ausserordentlichem Glücke liegt
für den Menschen eine Versuchung zur vßQcg, und indem die
Götter jenem entgegentreten ersticken sie diese schon im Keime,
und erfüllen damit ihre Aufgabe der vßQig unter den Menschen
zu steuern. Recht und Gerechtigkeit zu fördern. Wirklicher und
unzweifelhafter vßgig machen sich die Götter selbst nur dadurch
schuldig dass sie manchmal im persönlichen ^athos , in der Leiden-
schaft, zu weit gehen und ungerecht werden. So Hera« Athene
und Poseidon in ihrem Grimme gegen die Troer. Jene Beiden
zürnen wegen des Urteils des Paris (II. XXIV, 28 ff.), dieser wegen
Laomedons Treulosigkeit (II. XXI, 442 ff.) dem ganz unschuldigen
(vgl. II. IV, 31 ff.) Volke der Troer, und zwar in dem Grade
dass Hera den Priamos und seine Kinder roh auffressen könnte
(II. IV, 34 f.) und den Fall Trojas durch Preisgebung der drei
ihr liebsten Städte zu erkaufen bereit ist (II. IV, 51 ff.) , Athene
durch kein Flehen und ppfer der Troer sich erweichen lässt (II.
VI, 286 ff.), und Poseidon nicht ruhen will bis TgtSsg vtcb^
(piakot änokixivtav jtQoxvv xaxcig, övv Jtatcl xal alSotyg uko-
16 Zur Einleitang in Homer.
XOiaiv (U. XXI, 459 f.). Kommt auch die hierin liegende Un-
gerechtigkeit dem Dichter nicht recht zum Bewusstsein, da er
für seine Landsleute, die Acbaier« Partei nimmt, so bricht doch
hie und da eine Ahnung davon durch, wie IL IV, 31 ff. in Zeus'
unwilliger Frage an Hera, was ihr denn die Troer zu Leid ge-
than haben, dass sie sie mit so grimmigem Hasse verfolge? Ebenso
kommt Odysseus' ganzes Unglück auf der Heimfahrt allein daher
dass Poseidon für die Blendung seines Sohnes Polyphemos uner-
sättliche Rache an ihm nimmt (Od. I, 19 f. V, 377 ff.): und
Artemis verwüstet das Land des Aitoliers Oineus durch einen Eber
aus EmpGndlichkeit darüber dass er sie zu einem Opfermahle
nicht eingeladen hat (11. IX, 533 ff.). Zwar ist es möglich die
Götter zu versöhnen, sie sind azQETttol (II. IX, 497), wie Apoi-
Ion II. I beweist, aber es hält diess schwer: ov ydg r' al^a
d'ecSv XQEiCBtav voog aihv iövtfov (Od. III, 147). So zeigen
sich die Götter durch ihre Leidenschaftlichkeit selbst wieder als
schlechte Hüter des Rechtes, der äixri^ avvo^iCri^ der d'efiiörsg
u. s. w., die Consequenz davon dass sie Personen sind kommt in
Conflict mit ihrer Stellung als Götter, übt nachlheiligen Einfluss
auf ihr Verhältniss zur Menschenwelt.
In Bezug auf diesen Punkt muss vor Allem bevorwortet
werden dass zur Menschheit als solcher die Götter ein positives
Verhältniss nicht haben; ihr Verhältniss ist wesentlich persön-
licher Art und beruht auf persönlichen Motiven: die Götter haben
ihre Lieblinge unter den Menschen, Andere werden von ihnen
gehasst, zu der grossen Masse haben sie gar kein Verhältniss,
denn es fehlt hier an jedem Anknüpfungspunkt. Die Götter
lieben den der ihnen fleissig opfert; der Arme aber liat wenig
oder Nichts zu opfern, und so ist zwischen ihm und den Göttern
kein Band, diese haben keine Ursache sich für ihn zu inter-
essieren; er leistet ihnen Nichts, und sie haben darum keinen
Grund zu einer Gegenleistung, zur Verleihung von Glück, zur
Beschützung in Gefahren; es fällt ihm von der göttlichen Wirk-
samkeit als Antheil nur so viel zu als von den Göttern, indem
sie ihre allgemeine Macht und ihre besondere Individualität und
Wirkungsweise bethätigen , gleichsam unwillkürlich ausströmt.
Auch für den Armen leuchtet Helios, auch ihm kommt es zu Gute
dass Zeus über Recht und Gerechtigkeit wacht; aber ausser diesem
ihn treffenden Bruchtheile von der allgemeinen Thäligkeit der
Götter hat er sich keiner Huld zu erfreuen, und so ist sein Un-
Homerische Theologie. 17
gluck als ein bleibendes gesetzt: er bleibt arm weil er zu arm
ist um sich Reichthum von den Göttern zu erkaufen, und im
einzelnen Falle ist sein Leos von dem abhängig was die Götter 16
über das Ganze dem er angehört, sein Land und Volk, beschliessen
und verhängen. Es werden nämlich von der homerischen Vor-
stellung die menschlichen Schicksale im Grossen und Ganzen wie
im Kleinen und Einzelnen in Gott gesetzt, auf die Götter im All-
gemeinen und Zeus insbesondere als Urheber davon zurückgeführt.
Dem Bewusstsein drängte sich mit unabweisiichem Ungestümm
die Frage nach dem Warum, nach dem Grunde des Verlaufes
der Dinge auf, und da es die Unabhängigkeit desselben vom
Willen des Ich erkannte, ohne jedoch die natürlichen Zusammen-
hänge zu begreifen, die festgeschlossene Kette von Ursachen und
Wirkungen zu überblicken, so kam es auf die Antwort: die
Dinge sind so und gehen so weil die Götter sie so gewollt und
gesetzt haben. Der troische Krieg z. B. ist in seinem Entstehen,
seinem Verlaufe und Ende durch die ßovkal der Götter bestimmt:
nur den Willen und Beschluss der Götter erfüllte Helena als sie
den Krieg veranlasste (daher sind die d'eol atxioi^ II. III, 164,
wo aber des subjectivlerende fto^ zu beachten ist; vgl. Od. VIII,
82), erfüllte Achilleus als er durch sein Grollen mit Agamemnon
das Unglück der Achaier herbeiführte [diog tf' ixsXsCexo ßovXrj^
II. I, 5 vgl. XIX, 270 fr.), und nur ihre Werkzeuge, die Voll-
strecker ihres Beschlusses sind die Achaier indem sie Ilion zer-
stören (Od. VIII, 579. vgl. IL I, 18. VIII, 287 ff. u. A.). Warum
nun aber die Götter diess gerade so und nicht anders gewollt
haben ist eine Frage welche für das homerische Bewusstsein gar
nicht entsteht; denn die Götter sind frei, sie handeln mit Will-
kür, nach reinem Belieben, wo es vergeblich ist nach Gründen
zu fragen: stat pro ratione voluntas, Planmässigkeit ist hiebei
ausgeschlossen; die Götter regieren als Despoten, nach desullori-
sehen Launen, nach persönlichen Beweggründen, nach Gunst
und Abneigung, nach dem Bedürfniss und der Eingebung des
Augenblicks (Nägelsbach I, 29 und 30). Und ganz dasselbe gilt
auch von ihrem Walten im Leben des einzelnen Menschen. Das
Sein des Menschen nach allen seinen Seiten hin ist gesetzt und
bestimmt durch die Götter (Nägelsbach I, 33 und 34); sein Ge-
schick ist im Einzelnsten von ihrem Willen abhängig, sie lenken
und leiten ihn auf allen Wegen und Stegen, von ihnen kommt
Glück und Unglück, Leben und Tod; sie verleihen nicht nur das
Teuf fei, Studien. 2
18 Zur Einleitnnf]^ in Homer.
Vollbringen, sondern auch das Wollen ist iiire Gabe, sie lenken
Verstand und Willen des Menschen zum Guten oder zum Bösen,
sie erleuchten sein Auge oder bethören seinen Sinn — ganz nach
ihrem Belieben.*) Ueber alles dieses hat Nagelsbach I, 35 — 46
ausreichende Nach Weisungen gegeben, und wir begnügen uns
daher auf einige wenige Punkte aufmerksam zu machen. Fürs
Erste ist bei solchen stark theistisch gefärbten Aussagen nicht zu
vergessen dass sie nicht allezeit wörtlich zu nehmen sind, nicht
immer einen realen Causalneius behaupten, sondern ebenso oft
nur als religiöse Ausdrucksweise zu betrachten sind. Die Mutter
deren Sohn sich selbst den Tod gegeben kann bei vollkommen
klarem Bewusstsein hierüber dennoch sagen: Gott hat plötzlich
meinen Sohn mir entrissen ; sie will damit das Thun ihres Sohnes
nicht als ein unfreies, durch göttliche Nöthigung bestimmtes dar-
stellen, nicht Gott als den Urheber des Vorganges bezeichnen,
sondern sie folgt nur einem naturlichen Instincte indem sie statt
17 des rauben, stechenden geraden Ausdruckes den mild verdecken-
den und sanft tröstenden religiösen wählt. So darf man wohl
auch bei Homer die Stellen wo alles menschliche Sein und Thun
auf göttliche Causalität zurückgeführt wird mehr nur als Ausdruck
religiöser Stimmung und Anschauungsweise denn als Aussagen
einer festen dogmatischen Ueberzeugung auffassen. Denn die
absolute Unfreiheit des menschlichen Willens, welche in letzterem
Falle mitausgesagt wäre, stände in zu schroffem Widerspruche
mit der ganzen sonstigen Anschauung Homers. Nur in die Lucken
des Freiheitsbewusstseins tritt das Abhängigkeitsgefühl ein, nur
das was ohne Mitwirken seines Willens erfolgt ist, wie sein Wer-
den, betrachtet der Mensch als von Gott gesetzt, nur wo er sich
nicht bewusst ist mit klarer Besinnung und nach festem Beschlüsse
gehandelt zu haben nennt er sich durch Gott bestimmt, und nur
in diesen Fällen kann an eine reale Beziehung auf Gott gedacht
werden; alles Weitere wäre eine unnatürliche Verleugnung des
Selbstbewusstseins und Freiheitsgefühls, wie sie wohl bei herunter-
*) Im Allgemeinen mnss der erste Schritt vom Menschen ausgehen,
er muss handeln, der Qott dann gibt oder versagt den Erfolg. Das
Handeln ist die Anfrage ob eine gewisse Wirkung im Willen der Götter
liege. Am Gelingen sieht man dass ein Gott geholfen hat, d. h. dass
die Umstände, welche neben der Anstrengung der zweite Factor des
Erfolgs sind, günstig warßn. So ist Achill sowohl tapfer als ein Lieb-
ling der Götter, d. h. er hat ebenso viel Glück als Mut.
Homerische Theologie. • 19
gekommenen Individuen, Völkern und Zeiten möglich ist, nicht
aber in diesem durch und durch gesunden heroischen Zeitalter.
Dabei ist es aber zweitens doch bemerkenswerth dass die das
Abhängigkeitsbewusstsein am schroffsten und abstractesten aus-
sprechenden Stollen vorzugsweise der Odyssee angehören. So
Od. IV, 236 f.: d'sog akkoxs aXXp Zavg dyad'öv ts xaxov tb
duSot* dvvaxai yccQ anavta; Od. VI, 188 f.: Z^g avrog viyiai
oXßov 'OkvfLTtiog dvd'Qci7tot0LV , i^d'Xotg i^dh xaxotöLV, oTtcjg
i^iXtlOiv^ Bxdazip\ Od. XIV, 444 f.: d'sog dh ro iihv SciiSBi, ro
S^ hdösv 5 ottL xav S dufL^ ad'sXy • Svvatai yccQ äytavtcc. In
diesen Stellen ist zugleich besonders deutlich die Grundlosigkeit,
die absolute Willkurlichkeit des göttlichen Thuns ausgesprochen.
Indessen so ganz spröd und unzugänglich und in sich selbst ge-
schlossen ist der göttliche Wille doch nicht dass nicht auch auf
ihn gewirkt, ein Einfluss auf ihn geübt werden könnte. Es ge-
schieht diess vornehmlich durch Opfer. Der Mensch bedarf der
Götter (Od. III, 48), ihrer Huld, ihrer Hülfe; er muss daher
etwas thun um diese zu gewinnen und ihrer sich zu versichern.
Da liegt denn am nächsten die Darbringung von Geschenken,
Ehrengaben, ydQara; diess sind die Opfer. Diese haben einmal
die ideale Bedeutung dass der Mensch damit die Ueberlegenheit
der Götter, seine Abhängigkeit von ihnen anerkennt, und darum
gilt der grössere oder geringere Eifer im Darbringen von Opfern,
Libationen u. s. w. als Massstab der Frömmigkeit des Menschen,
seiner Ehrfurcht vor den Göttern (Od. XIV, 421. XIX, 364 ff.);
sodann sind sie auch nach ihrer materialen Seite etwas den
Göttern Angenehmes^ etwas das sie für den Darbringenden
freundlich stimmt. So hat Athene Wohlgefallen an dem statt-
lichem Stier mit vergoldeten Hörnern welchen Nestor ihr dar-
bringt (Od. HI, 437 f. vgl. XVI, 184), und Od. VUI. 509 heisst
daher ein ayak^a d'acSv d'aXxtTjQtov, Zeus liebt die Troer
weil sie ihm fleissig und reichlich opfern (IL IV, 44 — 49);
dasselbe ist der Grund warum er den Odysseus nicht fallen iässt
(Od. I, 65 — 67), und weil Hektor nie der Olympier vergessen
hat bei seinen Mahlen, „darum dachten sie seiner sogar in des
TodesVerhängniss"(ll. XXIV, 425ff,). Vgl. Nägelsbach V, 3. Will
man durch das Opfer den Gott für Gewährung eines bestimmten
Anliegens gewinnen, so spricht man dieses dabei aus durch ein
lautes Gebet. Alles Gebet bei Homer ist erstens laut (sonst
könnten die Götter es nicht hören), und Ajas, der die Achaier
2*
20 Zur Einleitung in Homer.
ersucht seinen Kampf mit Hektor dadurch zu unterstutzen dass
sie zu Zeus um Sieg flehen öty^ k<p* viisicov, Iva [ifj TgiSig
ys jtvd'CDvrai (und es durch ihr Gebet neutralisieren oder zu
18 überbieten suchen], meint damit einmal nur ein relativ leises
Beten, sodann verbessert er sich sogleich: i^h xal d[i(padiriv,
67tsl ovtiva deidc^sv e^Ttrig (II. VII, 194 — 196). Zweitens ist
das Gebet bei Homer immer verbunden mit einem Opfer oder
einem Gelübde, die Bitte mit einer Leistung, einem Geschenke
oder dem Versprechen eines solchen. Man hat kein Recht auf
die Erhör ung der Götter, man hat auch keinen Grund zu glau-
ben dass sie aus eigenem Antriebe sich unserer annehmen werden ;
man schaut sich daher ein gewisses Recht darauf, indem man
sich selbst einer Sache (wenn auch nicht von Werth) entäussert
und den Göttern sie darbringt. Dieses Recht ist zwar kein ob-
jectives und festes: der Gott kann trotz des Opfers und der Bitte
auf seinem Entschlüsse dem Menschen Unglück zu senden be-
harren (Nägelsbach V, 15 und VI, 29). Aber im Allgeoleinen
hält der Mensch doch den Golt für verpflichtet seine Leistung
durch eine Gegenleistung zu erwidern; er beruft sich in seiner
Bitte auf das was er dem Gölte schon gethan {xXvd'i (lev — et
Ttots etc. vgl. Nägelsbach V, 12) , ja er kann sogar dazu kommen
den unhörsamen Gott zu schelten, besonders den Zevg Ttatrig:
Zsv TcdrsQf oikig öeto &€c5v oXocatagog SXXog (II. III, 365.
Od. XX, 2010". vgl. II. H, 112 fl". IX, 17. XH, 164. XIÜ, 631 ff.
Nägelsbach V, 18), wiewohl im Allgemeinen die Stimmung des
Menseben dem Walten der Götter gegenüber eine — freilich
manchmal trübe und murrende — Resignation ist, s. Nägelsbach
V, 16 und 19. Will sich der Mensch nicht fügen, lehnt er sich
auf gegen die von den Göttern gesetzte Ordnung, baut er trotzig
auf seine eigene Kraft, so überzeugen ihn die Götter von seiner
Abhängigkeit und Unmacht ihnen gegenüber dadurch dass sie ihn
zu nichte machen, wie den Ajas Od. IV, 502 fl*. Drittens bilden
den Inhalt des Gebetes bei Homer (wie überall ursprünglich, vgl.
das deutsche Wort „Gebet" von bitten) überwiegend Wünsche
und Bitten, und zwar um etwas ganz bestimmtes Einzelnes, nie
um ein allgemeines Gut, eine Eigenschaft, Tugend u. dgl. Denn
eine Eigenschaft ist nicht etwas das man in die fertige Persön-
lichkeit nur so nachschieben kann; nur einem Kinde kann man
eine Eigenschaft erbitten, wie Hektor II. VI, 476 fl". seinem
Astyanax Heldenhaftigkeit, darum weil das Kind eine noch un-
Homerische Theologie. 21
fertige Persönlichkeit ist und daher noch so oder anders bestimmt
werden kann. Dass z. B. ein Feigling die Götter um Verleihung
von Tapferkeit anruft ist etwas so Krankhaftes, Unnaturliches,
in sich Widersprechendes*) dass vielmehr das Vorkommen einer
solchen Bitte bei Homer auffallend wäre; aber hier findet sich
nur das Natürliche und Gesunde dass ein Tapferer betet: Zeus
verleihe heute, verleihe gegen diesen Feind meinem Arme Sieg
und Segen. Endlich viertens wird beim Gebete vorausgesetzt dass
der Mensch mit reinem Gewissen vor den Gott tritt; ist er sich
einer Schuld bewusst, so muss diese gesühnt sein ehe er sich
eine Gunst erbitten kann. Daher sagt Eumaios Od. XIV, 406:
wenn er den Gast erschlüge könnte er nicht mit freiem Herzen
{7CQ6q>Qav) zu Zeus beten, und auf dieselbe Forderung bezieht
sich auch die symbolische Handlung des Händewaschens vor dem
Beten (Ih VI, 266 ff. vgl. Nägelsbach V, 14). Ob dann aber ein
Gott auch einem ganz ordnungsmässigen Gebete Folge geben will
ist, wie gesagt, ganz in seiner Willkür; nur willfahrt der Gott
am ehesten der Bitte desjenigen der auch seinerseits dem Willen 19
der Götter immer bereitwillig Folge geleistet hat: og xs d-eotg
imitai^tai indka r exXvov avxov^ II. I, 218. Dieser direc-
ten und bestimmenden Einwirkung der Götter auf die Menschen-
welt geht eine indirecte und nur anzeigende Wirksamkeit zur
Seite, die Aeusserung und Kundgebung der göttlichen Entschlüsse
mittelst der CTJ^iata und rdgara. Es liegt der natürlichen An-
schauungsweise nahe, in solchen Erscheinungen welche die Rich-
tung vom Himmel zur Erde haben, wie im Donner und Blitze,
im Regenbogen, im Adlcrfluge, Mittheilungen, Botschaften der
da oben wohnenden Götter an die Menschen zu erblicken, zumal
in Augenblicken gespannter Entscheidung, wo sich der Mensch
auch die Götter aufmerksam und theilnehmend denken muss.
Solche Zeichen sind entweder einfacher Art, so dass ihr Eintreten
nur durch die Zeit in die es fällt (z. B. nach einem Gebete, in
einem kritischen Momente, bei einer feierlichen Gelegenheit)
*) Entweder ist er wirklich feig, dann fühlt er sich von der Tapfer-
keit ausgeschlossen, hat keine Qemeinschaft mit ihr, fürchtet sich vor
dem Tapfersein , betet daher nicht daram; oder er ist es nicht wirklich,
so betet er eben so wenig darum, sondern greift zum Schwert, und
brancht auch nicht erst sich die Tapferkeit zu wünschen wenn er sie
schon hat.
22 Zur £iBloitung in Ilomcr.
Bedeutsamkeit erhält und aus der Erscheinung selbst und der
Richtung die sie nimmt (üb der Vogel rechts oder links von dem
Betheiligten erscheint) nur etwas Allgemeines« ein Ja oder Nein,
eine Warnung und Drohung oder eine Ermutigung und Ver-
heissung entnommen werden kann, und in diesen Fällen hat der
Betheiligte das Verständniss des Zeichens selbst, ohne Vermitte-
lung künstlicher Deutung. Oder aber ist die Erscheinung eine
aus mehreren Momenten zusammengesetzte, ein Verlauf, eine
Handlung, welche das von den Göttern Beschlossene und künftig
Eintretende vorbildlich ausdrückt, gleichsam mimisch es vormacht,
wie z. B. jene neun Sperlinge auffressende Schlange (II. II, 301
— 330) u. A. (Nägelsbach IV, 20). Hier*ist nun der Deutung
ein weiter Spielraum geöffnet; sie kann als das Vorbildliche,
Weissagende entweder die Ilaupthandlung (dort das Auffressen)
oder einen Nebenumstand (die Zahl neun z. B.) auffassen und
auslegen; und eben ^ wegen der Willkurlichkeit der Auslegung
bildet sich eine gewisse Methode und Praxis der Deutung, in
deren Besitz die ^ävreig sind. Aber diese Willkürlichkeit ist
zugleich auch die Ursache warum die Erscheinung selbst und
ihre Deutung für die Ueberzeugung des dabei Betheiligten durch-
aus nichts Zwingendes hat; er kann bezweifeln ob die Erschei-
nung überhaupt etwas zu bedeuten hat und nicht vielmehr eine
rein zufällige ist (Nägelsbach IV, 23), sodann ob dieselbe ge-
rade nur diejenige Deutung zulässt welche ihr der ^ävrtg gibt
und nicht vielmehr die entgegengesetzte (Nägelsbach IV, 24).
Daher ßndet die Mantik in der heroischen Zeit keineswegs all-
gemeine Anerkennung ; wem ihre Aussagen unwahrscheinlich oder
unerwünscht sind, der kann sie ohne Weiteres ablehnen (U. XII,
237 ff. XXIV, 221. Od. I, 415 f. II, 177—186), und Heklor
spricht bei einer solchen Gelegenheit das goldene Wort aus:
elg olavog aQiiStog dfivveiSd'ai xsqI ndxQrig (II. XII, 243). So
schenkt Heklor auch der Weissagung des sterbenden Patroklos kei-
nen Glauben (II. XVI, 859 ff.), hält also auch nichts auf Ahnungen
(s. Nägelsbach IV, 30); Träume hält selbst Penelope nicht für
zuverlässige Boten (Od. XIX, 560 f.), und das Trugliche derselben
muss Agamemnon schmerzlich erfahren (II. II, vgl. Nägelsbach
IV, 26 — 28); die Orakel spielen noch keine Rolle in dieser Zeit
(Nägelsbach IV, 34), vollends nicht in der Ilias, und was die
^dvtstg ohne rdgata, in Folge besonderer Einsicht oder gött-
licher Mittheilung, über das was geschehen solle oder werde
Homerische Theologie. 23
aussagen kann, je nach der Persönlichkeit des fidvns und dessen
dem er weissagt, geglaubt oder verworfen werden und hat inso-
fern kein günstiges Vorurteil für sich weil der [lavTig aus seiner
Gabe Profession macht, sie als ein Gewerbe, vielleicht sogar als
Erwerbszweig, betreibt (Od. XVII, 383 f. vgl. II, 177 — 186, wo
gegen Halilherses die Beschuldigung der Bestechlichkeit aus-
gesprochen wird), s. Nägelsbach IV, 31 — 33. So bleibt als ein- 20
zige zuverlässige Erkenntnissquelle des Willens der Götter und
ihrer Einwirkung auf die Menschenwelt ihr wirkliches Thun , ihre
Werke, die Schicksale der Menschen und das eigene unmittelbare
Erscheinen und Auftreten der Götter, welches in der vom Dich-
ter geschilderten Zeit ausserordentlich häufig und fast regelmässig
vorkommt, in der Zeit aber in welcher der Dichter spricht be-
reits vollständig erloschen ist (Nägelsbach IV, 6). Zeus allein
erscheint bei Homer niemals in eigner Person unter den Men-
schen; er ist zu gross für die kleinen menschlichen Verhältnisse,
und seine Stellung ist erhaben über den Streit der Parteien unter
Göttern und Menschen (vgl. Nägelsbach IV, 7). Diese Ausnahms-
stellung des Zeus führt uns auf unsern letzten Punkt:
Das Verhältniss der Götter zu einander (und weiter-
hin zum Schicksal). Hiebei können wir uns aber auf das Ein-
zelne, insbesondere eine Charakteristik der homerischen Götter-
individuen, unmöglich einlassen, da sich hierüber ohne Entwick-
lung eines ganzen mythologischen Systems in befriedigender Weise
schlechterdings nicht sprechen lässt. Für unseren Zweck genügt
es einige Hauptpunkte hervorzuheben. Erstens hat die im he-
roischen Zeitalter herrschende Götterdynastie einen überwiegend
ethischen Charakter. Vor ihr war eine Periode der Herrschaft
vernunftloser Naturkraft^ reiner Naturgottheiten, wie Okeanos,
Uranos, Gaia, Titanen. In siegreichem Kampfe mit ihnen hat
sich die jetzige olympische Dynastie emporgerungen , hat sie ge-
stürzt und sie der Nacht der Vergangenheit und Vergessenheit
überantwortet. Zwar sind damit begreiflich nicht alle Naturgott-
heiten beseitigt, denn die Natur selbst ist ja geblieben; aber sie
sind in ein untergeordnetes Verhältniss zu den herrschenden ethi-
schen Gottheiten^ zu Zeus, Hera, Athene und Apollon, gesetzt
und nur die äusseren Verhältnisse des menschlichen Lebens wer-
den durch sie bedingt, aber nicht einmal ausschliesslich, indem
auch in ihre Sphäre Zeus eingreift, sei es sofern jene äusseren
Verhältnisse häufig in innigstem Zusammenhang mit den inneren
24 Zur Einleitung in Homer.
stehen oder dass darin ein Rest der ursprünglichen Naturbedeutung
des Zeus zu erkennen ist. Zeigt sich schon in diesem Verhält-
niss der Olympier zu ihren Vorgängern die Analogie mit dem
homerischen Staate, der auch noch jung ist, in welchem ebenso
Recht und Ordnung erst vor Kurzem den Sieg davon getragen
haben über die rohe Gewalt, so tritt diese Aehnlichkeit noch
deutlicher hervor zweitens in der inneren Gliederung der ho-
merischen Götterwelt. Wie im menschlichen Staate drei Paktoren
zu unterscheiden sind: der ßaöiXsvgy die ßovXi] der Geronten,
und die dyoQa des Xaos, ganz ebenso auch in dessen Gegen bilde,
dem olympischen Staate. Der ßaöilevg ist Zeus; er ist jtokij
(pdQtatog der Götter (IL I, 581), alle andern an Macht und
Stärke so weit überragend dass er für sich allein es mit sämmt-
lichen Göttern aufnehmen kann und um ihr Murren und ihre Unzu-
friedenheit sich nicht kümmert (H. Vlli, 18 ff. 450 ff. I, 566 f. 580.
589. XI, 78 ff. XV, 107. Od. V, 103 f.); seine überlegene Macht
zwingt ihnen Gehorsam ab (wie den Menschen die der Götter),
s. Od. V, 138, und wenn er vorübergeht erheben sich sämml-
liche Götter ehrerbietig von ihren Sitzen (II. I, 533 ff.). Aber
neben ihm sind auch die übrigen Götter berechtigt, wiewohl in
ungleichem Grade. Zur ßovXi^y dem berathenden Ausschusse,
gehören nur die eigentlichen d'SoVOXvfimot, die Olymposbewohner,
21 nämlich ausser Poseidon: Apollon, Ares, Hephaistos, Hermes, Hera,
Athene, Artemis, Aphrodite. Für ihre Versammlung gebraucht erst
Hesiod Theog. 802 den Ausdruck ßovlij, bei Homer heisst sie
d^äxog (Od. V, 3. vgl, 11. VHI, 439). was Od. II. 26 als Correlat
von dyoQi^ gebraucht ist. Davon unterscheidet sich die Versamm-
lung sämmllicher Götter, auch der Flussgotlheiten , Nymphen u. A.
11. XX, 4 ff. vgl. Vlii, 2, welche dyoQTj heisst. Ihre Stellung
zum ßa0Usvg gleicht sowohl II. VIII als XX mehr der des Xaog
als der der ysQovreg im menschlichen Staate, weil Zeus über
die anderen Götter weit mehr hervorragt als der König über
seinen Adel. Die Gölter werden hier berufen nur um die Befehle
ihres Herrschers zu vernehmen; dagegen die Odyssee zeigt auch
hier, wie im menschlichen Staate, ihre mehr aristokratische als
absolutistische Haltung, Indem Od. I, 26 ff. in der Götterversamm-
lung auch andere Götter als Zeus (Athene) das Wort nehmen.
Gebunden ist aber Zeus keinesfalls an den Ausspruch seiner ßovXrj;
er kann ihrer einstimmigen Ansicht zuwiderhandeln und sie müs-
sen sich auf Protestationen beschränken, was der Sinn ist des
Homerische Theologie. 25
häufigen: lQd\ draQ ov xou Ttdvteg iütaivsonsv d'eol akXoi.
Auch eine Art von Gliederung in Stände oder Berufsarten ist
unter den Göttern ; denn ein jeder hat einen festen Bezirk seiner
Thätigkeit, über den er nicht hinausgreifen, in welchen aber
wohl Zeus eingreifen kann. Drittens ist der Kreis der Götter
bei Homer noch keineswegs fest abgeschlossen , vielmehr hat der-
selbe eine Tendenz sich einerseits quantitativ zu erweitern und
andererseits qualitativ zu verengern. Will man die homerische
Vorstellung von den Göltern in eine der gewöhnlichen Kategorien
einreihen, so muss man sie als Polytheismus bezeichnen, denn
wir begegnen hier einer Vielheit von Götterindividuen ; der Mög-
lichkeit nach aber ist die homerische Anschauungsweise vielmehr
Pantheismus oder Pandämonismus. Denn die götterbildende Thälig-
keit ist noch nicht erloschen, es wachsen noch immer neue Götter
nach , an allen Enden tauchen sie auf, zum Zeichen dass in Allem
die Möglichkeit des Gottwerdens liegt, dass allenthalben gleichsam
Götter schlummern und es nur eines Lautes, einer leisen Be-
rührung bedarf' um sie zu wecken. V^eil die Reflexion, wenn
sie in einer Reihe einzelner in sich manchfaltiger Erscheinungen
ein Allgemeines, z. ß. ein gemeinsames Gesetz oder Kraft er-
kannte, dieses Allgemeine unmittelbar als einen Gott bezeichnete
der jenes Einzelne entweder schaffe oder selbst der Geist des-
selben sei, — so kam zu den schon vorhandenen, als Personen
und plastische Gestalten ausgebildeten Göttern noch eine Reihe
göttlicher Wesen von abstracter Bedeutung, wie Deimos, Phobos,
Kydoimos, Alke, Enyo, Eris u. s. w. (Nitzsch z. Odyssee I. S.
XIII — XV. Nägelsbach II, 14), welche man als von der Wirkungs-
weise der Götter abgelöst und zu eigenen persönlichen Götter-
wesen ausgebildet betrachten kann, während die ursprunglichen
aus dem Volksglauben herübergenommenen Götter keine Personi-
(icationen von Kräften, sondern Personen, feste gediegene Ge-
stalten sind. Neben diesem Trieb zu immer weiterer Entfaltung
des zu Grunde liegenden pantheistischen Princips sehen wir aber
eine entgegengesetzte Tendenz wirksam, eine Neigung die festen
Göttergestalten zu verflüchtigen, sie zu Momenten (im Begrifl'e)
des höchsten Gottes herabzusetzen , also einen concentrierenden,
monotheistischen Trieb, eine Centripetalkraft. Die Wirksamkeit
der verschiedenen Götter wird nämlich vielfach als Ausfluss von
der des Zeus, als in seinem Auftrag und Namen erfolgend dar-
gestellt (s. Nägelsbach II , 24 g. E.), die Strahlen göttlicher Kraft
26 Zur Eiuleitung in Homer.
werden also gleichsam in Einem Brennpunkte gesammelt, auf einen
Mittelpunkt zurückbezogen ; und ebenso zeigt sich in dem thätigeu
22 Eingreifen welches dem z/to^ voog zugeschrieben wird ein Stre-
ben nach Verflüchtigung, Vergeistigung der plastischen Götter-
gestalten. Und sollte man auch hierin mehr den monotheistischen
Trieb des Mythendeuters als den des Mythenbildners sehen wollen,
so ist jedenfalls ein- solcher zu erkennen in der wesentlichen Um-
gestaltung welche das Verhältniss der Götter zum Schick-
sal noch innerhalb des Kreises der homerischen Vorstellungen
erlitt. Dass sich bei Homer eine Vorstellung findet wonach das
Verhältniss ein dualistisches ist, der Wille der Hoira neben
dem des Zeus in der Welt gebietet, ist nicht zu verkennen. Wem
vom Schicksal der Tod zugedacht ist, von dem können ihn auch
die Götter nicht abwenden, auch wenn sie es wünschten, — ist
Od. Hl, 236 — 238 geradezu ausgesprochen. Die Götter ergeben
sich daher in den Schicksalsschluss als in etwas Festes (vgl. 11.
XX, 127 f.) und begnügen sich damit im einzelnen Falle den
Willen des Schicksals zu erforschen (wie Zeus *thut durch die
Wage, U. VHI, 69 ff. XXH, 209 ff.) und demselben zur Ver-
wirklichung zu verhelfen, indem sie das von ihm Verfügte theils
selbst vollstrecken (II. XV, 613 f., welche Stelle kritisch angefochten
ist; XX, 300 ff. Od. V, 41 f. II. XVI, 849. XVIU, 119 vgl. Nägels-
bach III, 9) theils wenigstens verhindern dass der Mensch durch
ausserordentliche Anstrengung seiner Kräfte, durch einen ener-
gischen Anlauf sich darüber hinwegsetze, etwas vxsq^oqov thue
(IL XVI. 698-700. 707 u. A. bei Nägelsbach HI, 11). Aber
nicht selten lassen sie es auch geschehen dass der Mensch dem
Schicksal Trotz bietet, dass er durch seine Anstrengung etwas er-
zwingt was das Schicksal nicht gewollt, von dem es vielleicht
sogar das Gegentheil gewollt hat (II. XVI, 780. vgl. Od. I, 33 f.),
und diese ihre Zulassung ist der schlagendste Beweis dass sie ein
eigentliches Interesse den Willen des Schicksals erfüllt zu sehen
nicht haben; der Wille des Schicksals und der der Götter ist nicht
eins, es ist kein wesentlicher Zusammenhang zwischen beiden,
sonst würden die Götter einstehen für das leblose und darum
wehrlose Schicksal und würden jede Verletzung ferne von ihm
halten. Diese Vorstellung, wonach die Moira eine Macht ist neben
und über den Göttern, hat in der nachhomerischen Zeit fort-
gewuchert und ist namentlich von den Historikern, Herodot an
ihrer Spitze (s. 1, 91: xtjv 7t€JtQ&iiivriv iiotQccv dSvvarä iöuv
Homerische Theologie. 27
aTeofpvyseiv xtd d's^^ vgl. III, 43), zum Mittelpunkte ihres Prag-
inatismus, zum bestimmenden Principe der Ereignisse und ihres
Ineinandergreifens gemacht worden. Aber so gross ist die Un-
sicherheit der homerischen Weit über diese Frage dass zugleich
auch die entgegengesetzten Ansichten, von der Erhabenheit des
Zeus über die Moira und der Identität des Willens der Moira
und der Götter, bei Homer aufs Unzweideutigste ausgesprochen
sind. Dass Zeus höher steht als die Moira, dass er ihren Be-
schlössen entgegentreten, deren Ausfuhrung verhindern kann ist
um so natürlicher da ja auch den Menschen durch besondere
Anstrengung es möglich ist jene Beschlüsse zu vereiteln, und so
sehen wir II. XVI, 433—443 (vgl. XXII, 174 — 181) den Zeus
unschlüssig ob er seinen Sarpedon der Moira, die ihm den Tod
zugedacht, überlassen oder ob er ihn aus der Gefahr erretten
solle. Ist hier noch ein Unterschied zwischen dem Willen des
Zeus und dem der Moira, wie auch in den Stellen wo sie beide
indifferent neben einander gestellt werden , wie II. XIX, 87: nicht
ich bin schuldig, dXXä Zsvs xccl MotQa xccl iJ6Qog>otTis ^EQLVvvg,
vgl. ib. V. 410: äXXd ^eög ta [idyag xal Motga XQaraiijy —
so ist derselbe andererseits in zahlreichen Stellen vollständig auf-
gehoben , indem ganz dasselbe was von der Moira gesagt war auch
auf die Götter bezogen wird und die Ausdrücke: die Moira hat es
gethan und: die Götter oder Zeus haben es gethan, ganz als
Wechselbegriffe behandelt werden.*) So wechselt die Bezeichnung
als Schicksalsspruch {^6q0i(iov) mit der als Götterspruch (von 23
der Rückkehr des Odysseus Od. IX, 532: et ol [lotQ* iatl, und
X, 473: sC tot d'B6(pat6v iötv, II. VIII, 477: äg yäg %'i6(pai6v
i0ti vom Fallen Hektors durch Achilleus, welches sonst oft auf
das Schicks.al zurückgeführt wird); das Ueberschreiten der ur-
sprünglich gezogenen Grenze wird sowohl durch vndQfiogov als
durch 'ÖTciQ d'eov bezeichnet (IL XVII, 327 wchg d'söv; ib. 321
v^sQ dibg alöav; Od. I, 33 f. stehen e§ i^fiiatv und vjteg-
fiOQOv als Gegensatz, so dass dieses =» ovx il^ inidaiv, tdiv
d'SfSv , oder jenes = ix r^g l^^^QVS)} vvie der (lotga und ahfa
ein ixiv^öav des Loose& zugeschrieben wird, so den Göttern und
insbesondere dem Zeus ein imxXdd'etv desselben; s. die Stellen
*) Vom Standpunkte des Menschen ans ist der Unterschied auch in
der That nnr ein formeller. Die Abhängigkeit des menschlichen Seins
kann entweder unbestimmt als Menschenloos oder concreter, persönlicher
und religiöser als Wille und Schickung der Götter bezeichnet werden.
28 Zur Einleitung in Uomer.
bei Nägelsbacb III, 5, besonders II. XXIV, 209 f.: Motga XQataiij
yeivofiBvtfi iTcivvfiB kiva, vgl. mit II. X, 70 f.: afiniv Zsvg ini
yHVoiidvoiöirV lei xaxonjta und Od. IV, 207 f.: KgovCmv
olßov imxkdöij — ysivoiiivp; dieselbe Besümmung und die-
selbe Tbatsacbe wird abwecbseind auf die Motga und auf ^log
votifia zurückgerührt, wie Achilleus' Tod II. XXIII, 80 (fiorpa)
vgl. mit XVII, 409 (^log iieydXoio vornuc); Patroklos nennt als
Urheber seines Todes II. XVI, 845 Zeus und ApoUon, und gleich
darauf v. 849 die Moira und Apollon; den Hektor bestimmt
II. XXII, 5 die Moira dem Achilleus Stand zu hallen, und ?. 297
sagt er selbst: i} iidka dij iie d'sol d'dvazovds xäks60av;
ja 11. XXI, 82 -—-84 ist Beides nur als verschiedene Ausdrucks-
weise desselben Gedankens nebeneinander gestellt: reyg iv x^Q-
ölv 'sd'TiXB Motg* ükoii und Zsvg iii 6ov avtvg idcoxB. Kann
hienach die Identität des Willens von Zevg, der d'Bol und der
Moira nicht zweifelhaft sein, so ist nur noch die Vorstellung
übrig wonach die ^otQa dem Zeus und den dfol geradezu in die
Hand gegeben, ihnen vollständig untergeordnet, als Ausfluss ihres
Vi^esens und Willens aufgefasst wird. Diess liegt in den Aus-
drücken ^iog alöa (Od. IX, 52), äaiiiovog alaa (Od. XI, 61),
MolQu d'Bov (Od. XI, 292), Molqcc d'säv (Od. III, 269. XXII,
413), und diese Vorstellung, dass die Motga etwas ist worüber
die Götter und Zeus insbesondere zu verfügen haben, ein Stoff
den sie nach Belieben verwenden ^und vertheilcn, ist bildlich
ausgeführt am Schlüsse der Uias, XXIV, 527 ff., wonach Glück
und Unglück in zwei Fässern [Ttid'OL) im Palaste des Zeus liegt,
woraus er nach seinem Belieben den Sterblichen spendet.*)
Genau betrachtet haben wir somit über das Verhältniss zwischen
den Göttern und der Moira bei Homer vier verschiedene Vor-
stellungen: 1) die Moira und Zeus sind getrennte Begriffe und
Willen, und jene ist erhaben über diese, Zeus ist der Erforscher
und Vollzieher der Moira; 2) Moira und Zeus .sind getrennt und
stehen theils indifferent neben einander, theils trifft ihr Wille
zusammen, theils aber geht er auch auseinander, wobei Zeus^
als der Lebendige, sich als der Mächtigere erweist; 3) Zeus und
Moira und '^fol sind identisch, sind Wechselbegriffe; 4) die Moira
*) Ein Stück welches übrigens die Redaction der Ilias nicht ge-
schickt gerade an dieser Stelle eingefügt hat, da es mit dem in v. 525 f.
angekündigten Thema in Widerspruch steht und den v. 553 sehr un-
passend allzuweit von v. 522 entfernt.
Homerische Theologie. 29
ist ein Moment des Wesens und Willens des Zeus und der d'sol^
oder ein Stoff den sie bearbeiten, also in völliger Unterordnung.
Doch lassen sich diese vier Vorstellungen auf zwei zurückführen,
die man nur wieder auf zweierlei Weise bestimmen kann; ent-
weder: 1) Zeus und Moira sind getrennt beziehungsweise ent-
gegengesetzt/ 2) sie sind identisch; oder: 1) die Moira steht
über Zeus, 2) Zeus steht über der Moira. In Bezug auf das 24
zeitliche Verhältniss dieser sich zu einander ausschliessend ver-
haltenden Vorstellungen ist es bemerkenswerth dass diejenigen
Stellen welche die Moira dem Zeus unterordnen überwiegend
der Odyssee und dem letzten, spätesten Theile der Ilias angehören.
Auch Anderes kommt hinzu um diese Vorstellung als die spätere
erscheinen zu lassen. Die Bezeichnung des Schicksals als Götter-
spruch, als %'s6q)axov^ führt auf das Vorhandensein von Anstalten
durch welche die Mittheilung des Götterwillens an die Menschen
vermittelt wird, d. h. von Orakeln, und diese führen einerseits
in die nachhomerische Zeit, wo ihre Wirksamkeit erst recht be-
ginnt, andererseits waren j»ie die Stützen einer gewissen mono-
theistischen Betrachtungsweise; denn je concentrierter der welt-
regierende Wille ist, um so fester steht er, um so sicherer lässt
er sich also fassen und vorherbestimmen. Dieselbe monotheistische
Tendenz zeigt sich aber auch in dem Schwanken der Vorstellungen
über das Schicksal; es ist die Tendenz auf Einigung und Unter-
werfung des Willens der Moira unter den des Zeus, also Einen
Willen herrschen zu machen, die ihm widerstrebende dunkle
grundlose Macht ebenso zu brechen wie die rohen Naturmächte
der Titanen und Giganten, auf dass allein nur herrsche Licht
und Bewusstsein und Freiheit. Noch näher zeigt sich die mono-
theistische Richtung in der sichtbaren Neigung die Mitwirkung
der übrigen Götter an der Feststellung des Geschickes, also an
der Weltregierung, bei Seite zu schieben und Alles dem einen
höchsten Gotte, dem Zeus, zuzuwenden. An diese Richtung der
homerischen Vorstellungsweise haben dann später die griechischen
Tragiker, besonders Aischylos, angeknüpft und dieselbe weiter
gebildet, und wie sehr sie von dem Hauptherde der hellenischen
Religionsvorstellung und des hellenischen Cultus, von Delphi, aus
genährt wurde beweist die Nachricht des Pausanias dass im del-
phischen Tempel anstatt der dritten Moira das Bild des Zeus
MotQaydtTjg stand und ihnen gegenüber das des Apollon als des
Verkünders der göttlichen Beschlüsse.
30 Zur Einleitung in Homer.
2. Die homerische Gesammtanschauung vom Leben
und vom Tode.
Für die homeriscjie Anschauung ist die Welt wie sie ist im
Ganzen und Allgemeinen gut, das Sittliche ist in ihr verwirklicht,
die sittliche Weltordnung ist nicht etwas das als Ideal über ihr
steht und nur etwa am Ende ihres Entwicklungslaufes real wird,
sondern sie ist bereits real und objectiviert in den bestehenden
Verhältnissen des Lebens. Das Wirkliche ist bei Homer das Ver-
nünftige und damit zugleich das Sittliche; denn die Sphären des
Sittlichen und des Vernunftigen oder Wahren sind bei Homer
identisch und fallen zusammen ; das Gute, Sittlicheist das Rechte,
Zweckmässige und Verständige; der Verständige thut als solcher
unmittelbar auch das Gute (Od. HI, 328 von Menelaos: il^svöog
d' ovK igisiy (läXa yag Tcexwiidvog iötlv u. A. bei Nägels-
bach VI, 2. kmn,*), und das unrecht Handeln beruht auf einer
Verflnsterung der Erkenntniss, gewirkt entweder durch des
25 Menschen eigensüchtigen Trieb oder durch unbegreifliche unfass-
bare Ursachen, welche als axri bezeichnet werden. Weil aber
das Wirkliche als solches das Vernünftige und Sittliche, also eine
objective, Anerkennung fordernde Macht ist, so besteht das un-
vernünftig oder unsittlich Handeln darin dass das Wirkliche
verletzt, die bestehenden Verhältnisse und Einrichtungen, welche
als Verwirklichung des Rechts und der Sittlichkeit d-ifiiörag
heissen, missachtet und angegriffen werden, dass der individuelle
Wille mit dem in den bestehenden Rechtsverhältnissen ausge-
sprochenen objectiven Willen in Gegensatz tritt. Verletzung der
Pflichten gegen die Eltern, der Rücksichten gegen Todte, Beugung
des Rechts durch ungerechte Richter, Verletzung des Gastrechts,
der ehlichen Treue, der Elgenthumsrechte (wie bei den Freiern),
das sind die Frevel welche für das homerische Bewusstsein Strafe
verdienen und Strafe finden; denn jene Mächte sind nicht todte
und wehrlose, sondern sie sind lebendig, theils in den Göttern,
theils im Gesammtbewusstseln des Volkes, thells In dem Be-
wusstsein jedes Einzelnen; und hieraus ergeben sich denn die ver-
schiedenen Arten von Antrieben zum Guten, von Abhaltungs-
gründen vom Unrechten und von Bestrafungen für das verübte
Unrecht, welche zusammengefasst sind Od. H, 6411.: V6ii€00ij-
^rjfcs xal avtol, aXkovg d^ aläiö^xs JtBQixtiovag ävd'Qdjcovg
Homerische Ethik. _ 31
. . d'eäv d' VTCoSeLcaxs ft^i/tv, nämlich 1) die Götter, 2) das
Gesammtgewissen, 3) das individuelle Gewissen. Die Götter
sind es welche die bestehende Ordnung theils geschaffen haben
theils fortwahrend beschirmen und für ihren Bestand Gewähr
leisten ; sie sind es daher auch welche ordnungsmässiges Handeln
begünstigen und dazu antreiben (Nägelsbach VI, 16), dem Un-
recht zürnen und es bestrafen (s. Nägelsbach VI , 21 u. 22) ; und
die Rücksicht auf die fi^i/ig ^eävy auf %Bäv osctg^ das ästaat
^sovg und aldstöd^at d'sovg ist desswegen ein Hauptgrund zur
Unterlassung des Unrechts (Nägelsbach VI, 13); wer die bestehen-
den sittlichen Verhältnisse heilig achtet, in ihren Schranken sich
hält und ihnen Genüge thut, der erfüllt ebendamit den Willen
der Götter; der Gerechte ist somit hier, wie auf alttestament-
liebem Standpunkte, zugleich der Fromme (vgl. Nägelsbach V, 23).
Für das Bestehen der sittlichen Ordnung ist aber zweitens auch
das Volk selbst interessiert; es sieht in derselben den realen
Ausdruck iseines sittlichen Bewusstseins, das objectivierte Gesammt-
gewissen, es ehrt in ihr einen Damm gegen Willkür und Gewalt-
that, und wer daher einbricht in jene Ordnung, der verstösst
gegen das Volksbewusstsein, den trifft der Zorn der Menschen,
die vs(i€0ig «g ävd^QWTtiDv (Od. H, 136. vgl. 11. VI, 351. Nägels-
bach Vi, 14 u. 17), und die Rucksicht auf diese hält Manchen
ab vom Unrecht (II. IX, 460 f. 640 f. XVII, 91—95. Od. II,
136. 101. XVI, 75. XIX, 527), wie andererseits die Aussicht
auf die Achtung der Mitmenschen ein Antrieb ist zum Recht-
handeln (11. IX,; 257 f.). Endlich drittens wird der Wille und
das Handeln auf das Gute gerichtet durch das in jedem Einzelnen
wirksame Gewissen; und dieses ist theils Bewusslsein von einer
gewissen Idealität des Ich, wonach das Unrechtthun eine Verletzung
der Selbstachtung ist, was sich ausspricht in dem häufigen vefiaöä-
a^ai ^[i^, V€(ie0i^£0d'ai iv d'vfi^, al0%vvB0^aiy cißsO^ai etc.
etwas zu thun (s. Nägelsbach VI, 15), theils Bewusstsein von der
Absolutheit der sittlichen Verhältnisse «und der Unbedingtheit der
aus ihnen hervorgehenden Aufgaben, der aus ihnen abgeleiteten
Verpflichtungen. So ist es eine XQBiGi ävocyxairi welche die Troer
antreibt zu kämpfen jcqo r> %aCd(QV xal xqo yvvaixfSv (11. VIII,
56 f.) ; Odysseus begibt sich in Gefahr um seine Genossen zu
retten: XQarsQ'^ de fiOL STtXst* avdyxi] (Od. X, 273), und die
Beschwörungsformeln ytQog x ak6%ov xal naxQog (Od. XI, 67
vgl. Xni, 324. II. XXII, 338), iCQog £xa(Q(Dv (Od. XV, 262)
32 Zur Einleitung in Homer.
^* ruhen gleicbfalls auf der Voraussetzung der in diesen Verhältnissen
liegenden sittlichen Nötliigung (vgl. Nägelsbach VI/ 16). Aber
neben diesen negativen und positiven Antrieben zum Guten sind
im Menschen auch Mächte thätig welche ihn auf die entgegen-
gesetzte Seite zu locken suchen. Des Menschen Herz ist — je
nach seinem äusseren Ergehen — ein trotzig und ein verzagt
Ding: statt die Gaben der Götter in stiller Ergebung (oiyg) hin-
zunehmen gebärdet es sich kleinmütig im Unglück, übermutig
im Glücke (Od. XVHI, 130—142); im übersprudelnden Gefühle
seiner Kraft durchbricht das Ich die ihm gezogenen Dämme und
vergreift sich rücksichtslos an heiligen unverletzlichen Einrich-
tungen. Das ist die vßQig (mit vnhg zusammenhängend), das
Ueberschreiten des Masses und der Grenze, hervorgegangen aus
ayrivogCri [ayav ivrjQ)^ einem &vii6g dyfjvcsQ, vitBQfpCakog,
welchen der gute Wille nicht mehr bemeistern [l!6%BiVy U. IX,
255 f.) kann , sondern selbst von ihm fortgerissen wird [BtHsiv,
imöTtiöd'aL , s. Od. XVII, 431: vßQsv stiiavteg, imöieoiisvoL
(isveV 6fpä, vgl. XIII, 143. XVHI, 139). Das Unrecht entsteht
also dadurch dass das Ich aus UeberfuUe von Kraft und Selbst-
gefühl von den objectiven sittlichen Mächten sich losreisst und
sich selbst Centralität beilegt, dass der innen gährende Drang
die schlaffen Hüter überwältigt und in fessellosem Ungestümme
die Schranken niederreisst welche göttliches und menschliches
Gesetz ihm gezogen haben, dass der individuelle Wille dem ob-
jectiven, absoluten sich entgegcnslemmt. Ein solcher Kampf ist
seiner Natur nach ein vergeblicher und thörichter und nur aus
der Verblendung zu erklären mit der das Ich seine eigenen Kräfte
überschätzt. Aber es gibt auch Fälle wo dieselbe Trübung der
Erkenntniss dieselbe Wirkung hat, ohne doch aus derselben Quelle
zu stammen, wo eine thörichte Verletzung sittlicher Verhältnisse
vorliegt ohne dass dieselbe doch aus überspanntem Selbstgefühle
abzuleiten wäre. Solche Fälle haben für das homerische Bewusst-
sein etwas Unbegreifliches« wobei das Wissen und Verstehen auf-
hört und das Glauben anlangt, d. h. sie werden auf die Götter
als ihre Urheber zurückgeführt; die Götter verhängen über den
Menschen Bethörung {fpQsvag i^ekiödtci, ßkd^tSLV, okkvvai etc.
s. Nägelsbach I, 45; atriv ätSovai, Od. IV, 261 f. ; atriviv (pgeal
xi^Bvai, Od. XV, 233 f.; q>QBalv iiißdXXBLV, II. XIX, 88; ary
iväBBiv, II. II, 111. u. A., s. Nägelsbach VI, 3), dass er in der
Blindheit nach dem Unrechten greift. Iliedurch ist die Zu-
Homerische Ethik und Eschatologie. 33
rechnungsfähigkeU des Subjectes aufgehoben, und Agamemnon
z. B. lehnt daher II. XIX, 86 ff. alle Verantwortlichkeit von sich ab:
iy€o d' ot};e attiög slfic, aXXä Zsvg xai MotQa etc., und auch
sonst schieben die Menschen häuOg die Schuld auf die Götter
(s. die Beispiele bei Nägelsbach VI, 19); d. h. auf das Unglück,
auf Umstände welche ausser dem Bereich ihres Willens und
ihrer Berechnung lagen. Aber das ist nur ein Theil der Fälle;
ebenso oft sucht der Mensch die Schuld in sich selbst und klagt
in bitterem Schmerze sich selbst an. So besonders Helena, II.
III, 173. 180. 404. VI, 345 ff. Od. IV, 145. 260; Agamemnon,
II. IX, 116: d<xacl(ii]v , ovd* avrog dvalvoiiai, u. A. bei Nägels-
bach VI, 20. Und eben dieses Schuldgefühl ist es auch was das
Bedürfniss nach einer Sühnung der Schuld hervorruft, und hiezu
dienten wieder Opfer und Gebete (Nägelsbach VI, 24 — 29); denn
mit der sittlichen Ordnung dachte man sich die Vertreter und
Beschützer derselben, die Götter, verletzt, und ihr Zorn sollte
durch die Darbringung von Opfern beschwichtigt werden.
Darin dass dem homerischen Bewusstsein das Rechte und Gute
als das Wirkliche erscheint erreicht die Diesseitigkeit dieser An-
schauungsweise ihren Gipfel. Wenn aber die sittliche Welt-
ordnung ihr Dasein und ihre vollständige Erfüllung im wirklichen
Leben hat, so führt kein ethisches Postulat auf die Annahme 27
einer Fortsetzung des individuellen Lebens auch nach dem Tode,
und ebensowenig ist eine solche Annahme individuelles Bedürfniss.
Denn das Bewusstsein hat seine volle Befriedigung in dem Leben
auf der Erde; hier fühlt es sich heimisch, und im Besitz und
Genuss der Güter der Erde erblickt es sein höchstes Glück. Am
bestimmtesten und naivsten ist diess ausgesprochen Od. IX, 5 — 11,
wo Odysseus ausführt was er sich unter einem wahrhaft seligen
Leben vorstelle, nämlich einen Zustand der Wohlhabenheit der
erlaube recht oft sich in zahlreicher Gesellschaft des Mahles und
Sängers zu freuen; und die Phäaken, deren Leben ihr König
Od. VIII, 248 selbst so schildert: aid *' ^(itv daCg ts fpilri
xld'aglg ts %oqoC re^ nennt der Dichter wiederholt fiäxaQsg.
Vgl. Nägelsbach VII, 1. Wo die Anspräche so bescheiden sind,
wo die Wünsche des Herzens so nahe an der Erde hinfliegen,
da ist Zufriedenheit und Glück leicht gewonnen und leicht fest-
gehalten; bei einer so einfachen und heitern Auffassung des
Lebens gelangt man leicht zu der Ueberzeugung : es ist ein
Gluck ein Mensch zu sein und zu leben. Zwar wirft auch Schmerz
Ten ff Ol, Studien. 3
34 Zur Einleitung in Homer.
und Unglück seinen düsteren Schatten herein in dieses sonnige
Dasein; aber der homerische Mensch ist nicht so unbescheiden
von den Göttern reines Glück zu verlangen , er weiss dass er als
Mensch dem Gesetze der Endlichkeit unterworfen ist, und dass
das Sein und Leben an sich schon eine so dankenswerthe Gabe
ist dass alles was noch von Glück und Freude hinzukommt eine
ausserordentliche und unverdiente Wohlthat ist. Zwar wird alier
Schmerz von diesen ~ warmblütigen , durch und durch gesunden,
von aller Empflndelei entfernten (Nägelsbach VIT, 5) Naturen mit
doppelter Lebhaftigkeit empfunden (Nägelsbach VII, 6 u. 7); aber
je heller und starker die Flamme emporlodert, um so früher
sinkt sie auch wieder zusammen und erlischt; hat sich der Schmerz
in einem tobenden Gewitter entladen, so steht der Himmel des
Bewusstseins bald wieder unumwölkt, in heiterem Glänze lachend
da. Ist ja doch der Mensch , seiner Beschränktheit sich bewusst,
auf viel Leid gefasst {(Sg yccg ixsxkciöavto ^eol ä£LXot0L ßQO-
xoZCi i&£iv axvvfiivovg, II. XXIV, 525 f.) und kann viel er-
tragen: rkfjtov yäg Molgai dvfiov ^iCav ävd'QcinoL0vv , II.
XXIV, 49. vgl. Nägcisbach VII, 8. Eines nur kana das Bewussi-
sein nicht verwinden, Ein Schmerz umdüstert immer von Neuem
die Seele: der Schmerz über die kurze Dauer des menschlichen
Glückes, das Grauen vor der Nacht des Todes. Des Menschen
Leben währt nur eine Spanne Zeit: avd'gajtoi (iivvvd'däiOL ta-
Xid'ovatVy Od. XIX, 328. Dem Laube gleichen sie, das der
Frühling erzeugt, der Herbst verstreut, II. VI, 145 ff. XXI, 464—466.
Und am Ende dieser kurzen Freude steht der schaurige Feind
alles Lebens, steht der Tod. Ihm,. dem Freudenmörder, gegen-
über empfindet der homerische Mensch einen natürlichen Hass
und Abscheu. Eben weil das Leben ein absolutes Glück ist,
darum ist die Negation desselben, der Tod, ein absolutes Unglück.
Alles Schöne ist auf der Erde und durch sie bedingt, der Mensch
kann daher im Tode nur absolut verlieren. Unter allen Göttern
ist darum Hades den Menschen der verhassteste (II. IX , .159),
und etwas oder Jemand hassen wie den Tod bezeichnet den höch-
sten möglichen Grad des Hasses (II. HI, 454. IX, 312. Od. XIV,
156); der ^ävatog heisst xaxog (II. III, 173. XVI, 47), und
vor der Wohnung des Hades graut selbst den Göttern (II. XX,
65). Von diesem grössten der Uebel befreit zu sein wird so hoch
angeschlagen dass dieses eine Merkmal hinreicht um eine tiefe
Kluft zu breiten zwischen dem Gotte und dem Menschen, und
Homerische Eschatologie. 35
dass es hierauf vornehmlich beruht wenn den (läxaQsg d'eol die
Menschen als Ssikol (z. B. II. XXIV, 525) gegenübergestellt wer-
den und Zeus sagen kann: ov (ihv yccQ ti tcov i0tvv oftvQci- 28
tSQOv ävÖQog TCavtGiv o00a te yalav stci nveUi ts xal egnsi
(11. XVII, 446 f.). Das Leben ist der Güter höchstes, sein Ver-
lust mit Nichts zu ersetzen [ov yäg ifioi i^vx^S ivxd^iov, sagt
Achilleus II. IX, 401), und auch ein Held wie Achilleus hat daher
Augenblicke wo er in der Wahl zwischen einem kurzen aber
ruhmreichen und einem langen aber unbesungenen Leben schwan-
kend wird (U. IX, 410 ff.). In der Regel aber gibt der homerische
Mensch, bei aller seiner Liebe zum Leben und trotz seines
Grauens vor dem Tode, dennoch in allen Fällen wo das Leben
in CoUision kommt mit etwas Idealem, wie der Liebe zum Vater-
lande, zu Weib und Kind, der Ehre, unbedingt diesem letzteren
Interesse den Vorzug und begibt sich für dasselbe freudig in
Gefahr und Tod, s. Nägelsbach VII, 14- Dagegen sind es nur
vereinzelte und vorübergehende Stimmungen in welchen der Mensch,
von einem Schmerze überwältigt, sich den Tod wünscht als das
Ende seines Leides. So verlangt den Menelaos im heftigsten
Schmerze über Agamemnons trauriges Ende selbst auch nach dem
Tode (Od. IV, 539 f.); Odysseus, ohne Aussicht auf Heimkehr auf
der Insel der Kalypso festgehalten, Q'aveeiv [(isigstai, (Od. I, 59.
vgl. X, 497 f.), und im Angesichte seines Heimatlandes durch
seiner Gefährten unvorsichtige Entfesslung der Winde des Aiolos
weit in die See zurückgetrieben geht er mit sich zu Rathe ob er
sich nicht ins Meer stürzen solle (Od. X, 50); bei Patroklos'
Leiche sehnt Achilleus sich nach dem Tode (II. XVUI, 98 ff.),
und Antilochos fürchtet er möchte selbst Hand an sich legen
(ib. 34) ; aber derselbe Achilleus ist es auch den die Odyssee (XI,
488 ff.) den berühmten Ausspruch tbun lässt dass er lieber Tag-
löhner wäre bei dem Niedrigsten und Aermsten der Menschen auf
der Erde als König aller Todten. Um solche Aeusserungen voll-
ständig zu begreifen müssen wir uns die Vorstellungen der homer-
ischen Welt über den Zustand nachdem Tode im Zusammen-
hange vergegenwärtigen. Aber auch hier wieder stossen wir auf
dieselbe Schwierigkeit die uns bei den Vorstellungen über das Wesen
der Götter und über ihr Verhältniss zum Schicksal begegnet ist:
in allen diesen ausserhalb des Kreises der unmittelbaren Wahr-
nehmung liegenden Punkten ist der Willkür der Vorstellung und
Imagination der weiteste Spielraum gelassen, neben der einen
3* I
3^> Ziir Einloitniipf in Homer.
Anschauung findet sich — nur etwa in anderen Kreisen desselben
Voll^es — die entgegengesetzte, oder diese drängt sich im Laufe
der Zeit neben jener ein und verdrängt sie wohl auch; das Ge-
dicht aber, das weder Einer Zeit noch Einem Volkskreise seine
jetzige Gestalt verdankt, zeigt uns diese verschiedenen und zum
Theil sich ausschliessenden VorstcHungsweisen unvermittelt neben
einander, und die Aufgabe der Kritik ist es nun, das Zusammen-
gehörige zu vereinigen, das Widerstreitende auszuscheiden, aber
zugleich auch das positive Vcrhältniss des einen zum andern
nachzuweisen, von dieser zu jener Vorstellung gleichsam eine
Brücke zu schlagen. Machen wir hievon die Anwendung auf
unsere specielle Frage, so sehen wir einerseits wie innerhalb
des Vorstellungskreises der homerischen Gedichte der Glaube an
die Forldauer der Persönlichkeit von einem schwachen unschein-
baren Gräschen zu einem wenn auch noch schlanken und schüch-
ternen, so doch keime vollen Bäumchen emporwächst, anderer-
seits wie der natürlichen Anschauungsweise vom Schauplatze der
Unterwelt sich eine kunstliche, gelehrte — wenn gleich nur mit
kurzem Erfolge — an die Seite drängt. Was das Erste betrifft,
so ist bei Homer das was die Persönlichkeit ausmacht der Leib,
und daher lieisst auch noch der Leichnam z. B. des Patroklos
oder des Ilektor: Patroklos und Hektor (II. XXIII, 21. 45. 182.
vgl. XXIV, 227). Dagegen ist es nur ungenauer Ausdruck wenn
die ipvxrj mit dem Namen der Person bezeichnet und es dar-
29 gestellt wird als ob die ganze Person zum Hades gienge, wie
z. B. II. XXH, 482 f.: vvv 8h av ^ihv (Hektor) Uidcco dofiovg —
€QX£ccl; XXIII, 244: bIcoxbv avrög "Jiät xevd^co^ca. Vom Leibe
aber sieht der Mensch dass er verwest, dass er verbrannt wird;
er kann daher nicht zweifeln dass mit dem Tode die Persönlich-
keit untergeht und kann sich die Fortdauer von dieser nur so
denken dass durch besondere Gnade der Götter der ganze Mensch
mit seinem Leibe dem Loose des Todes entzogen wird , wie Mene-
laos, als Zeus' Eidam, lebendigen Leibs in das elysische Gefilde
im Westen entruckt wird, wo der blondgelockte freundliche Rha-
damanthys herrscht und alle Noth des Menschenlebens ein Ende
hat (Od. IV, 561— 569). Zugleich aber zeigt die sinnliche Wahr-
nehmung auch diess dass nach dem Tode etwas nicht mehr da
ist was während des Lebens eine so grosse Rolle spielte und das
Triebrad des ganzen Organismus zu sein schien: es ist diess
das Athmen, der Hauch, das Leben, die t^XV» ^'»^ "^^n sich
Homerische Eschatologie. 37
als etwas im Leibe Wohnendes, von ihm Eingeschlossenes dachte.
Diese t^xv ^^^ ^^ wenig materiell, zu sehr luftariig als dass
man sie verwunden und tödten könnte; und doch ist sie nicht
mehr da, also — muss sie aus dem Leibe entwichen sein, ent-
weder durch den Mund (IL IX, 409), wofür das Aushauchen
Sterbender zu sprechen schien, oder durch die Wunde (II. XIV,
518. vgl. XVI, 505), durch welche ihr gleichsam ein Ausgang,
eine Thure, geöffnet wird. Also nur nicht mehr im Leibe ist
die ^vxrj vom Tode des Leibes an, ausserhalb desselben kann
sie aber um so eher fortbestehen weil sie ja auch zu Lebzeiten
des Leibes mit diesem keineswegs so innig verbunden ist dass
ihr Schicksal schlechthin von dem seinigen bedingt und abhängig
v>äre. An diesen Strohhalm nun hängt sich das Bewusstsein um
sich vor dem gefürchteten Gedanken der völligen Vernichtung
zu retten ; es setzt das Mögliche als wirklich , es scheidet strenge
zwischen dem Ergehen des Leibes im Tode und dem der tl^vxrj,
es überlässt jenen dem augenfälligen Untergang, glaubt aber von
dieser dass sie fortbestehe auch nachdem die Gemeinschaft mit
jenem für immer (IL IX, 408) aufgehoben ist. Diese Unter-
scheidung ist am schärfsten ausgesprochen in solchen Stellen wo
die zu Aides gegangene ^v^i) entgegengesetzt wird dem der Ver-
nichtung anheimgefallenen wahren Ich, dem avrog, z. B. IL I,
3 f. V, 654. XVI, 855 ff. XXIII, 65 f. vgl. Od. X, 560. XI, 601 f.
Getrennt vom Leibe ist aber die fvx'^ unwesenhaft und leer;
denn alles eigentlich Seelische, die fpgiveg^ TtgaSCri^ ijtoQ,
6til%'og, wohl auch der d'Vfiog, voog und (isvog, hat eine so-
matische Grundlage, mit deren Untergang es selbst aufliört.
OgivBg werden daher IL XXIII, 104 den Gestorbenen ausdrück-
lich abgesprochen , und dass Tiresias auch noch im Hades q)QSvsg
und voog hat wird Od. X, 493 — 495 ausdrucklich als Ausnahme
bezeichnet, bestätigt also die Regel. Mit dem Körper fehlt aber
den Todten so gut als Alles; seitdem das Feuer ihr Fleisch und
Bein verzehrt hat (Od. XI, 219 f.) haben sie weder an sich eine
Consistenz noch sind sie fassbar (IL XXIII, 99 f. Od. XI, 206—
208); sie sind Mose etSioXa (Od .XI, 476 u. sonst), axial (Od. X,
495 u. A.), aitBvqvtt xägr^va (Od. XI, 29. 49 u. A.) , Traumbildern
(Od. XI, 222) oder dem Rauche (IL XXIII, 100) vergleichbar;
sie sind ohne Bewusstsein und Erinnerung, axtJQioi (IL XI, 392),
dq)QadB6g (Od. XI, 476), so dass den Odysseus seine eigene
Mutter nicht kennt (vgl. Od. XI, 153); ihre Existenz ist ein
38 Zur Einleitung in Homer.
dumpfes träumerisches Dahinleben. Aber diese Vorstellung von
der Unkörperlichkeit und Bewusstlosigkeit der Gestorbenen wird
nicht mit rechtem Ernste vollzogen und ohne Consequenz durch-
geführt. Was die Unkörperlichkeit betrifll, so zeigt sich auch
hier wieder dass för das homerische Bewusstsein eine starke quan-
30 titative Unterscheidung die Stelle einer qualitativen vertritt: ein
Minimum von Körperlichkeit ist hier Unkörperlichkeit. Die In-
consequenz dass die Todten trotz ihrer Unkörperlichkeit (Schatten-
haftigkeit) doch Stimme haben glaubt man dadurch verdeckt oder
gar beseitigt dass man ihnen nur eine ganz schwache Stimme
zuschreibt» ein klangloses Summen und Zischen, ein rgC^aiv
{II. XXIII, 101. Od. XXIV, 5. vgl. Claudian. in Rufin. l, 126 f.
tenuis Stridor), eine xAayy^ oloväv tSg (Od. XI, 605), eine
fjxr} (Od. XI, 633). Weiter kann diese unleiblichen Wesen
Odysseus mit dem Schwerte schrecken (Od. XI, 48 fT. 88 ff.),
unterscheidet und erkennt die einzelnen Schatten (z. B. seine
Mutter), Od. XI, 83 ff., ja Achilleus zeichnet sich noch jetzt
aldog TS dSfiag ts vor allen seinen Landsleuten aus (Od. XI,
469 f.) und spielt eine grosse Rolle unter den Todten (ib. 485),
was doch das Vorhafidensein körperlicher Umrisse voraussetzt.
Auch das ist eine Inconsequenz dass die Schatten Blut trinken
können, was denn auf sie ungefähr dieselbe Wirkung bat wie
der Genuss von Nektar auf die Menschen^ dass sie nämlich
vorübergehend belebt werden, auf einen Augenblick zu Körper-
lichkeit (Persönlichkeit) und damit auch zu Bewusstsein gelangen.
Ebensowenig streng wie die Unkörperlichkeit wird auch die Be-
wusstlosigkeit der blosen ifv^i^ festgehalten. Es werden ihr viel-
mehr an mehreren Stellen Erinnerung und Empfindungen zuge-
schrieben. So heisst es II. XIII, 415 f. von Asios er werde eine
Freude haben dass auch sein Mörder erschlagen sei und ihm nach-
folge; Patroklos' Seele flieht aus den Gliedern und geht zum Hades
ov TCotfLov yo6(X)0a, hjtovö' aögof^ta xal '^ßrjv (II. XVI, 855 ff.
XXII, 361 ff.); Achilleus bittet den Patroklos nicht zu zürnen,
ai^xs Ttv^rjUL aiv "Ai86g tcbq idv, dass er den Hektor sich habe
abkaufen lassen (II. XXIV, 592 f.), und gelobt auch noch in der
Behausung des Hades seines Freundes zu gedenken (II. XXII,
390); Aias grollt dem Odysseus auch nach dem Tode noch (Od.
XI, 553 f.) und bleibt (nachdem er ihn in Folge des Bluttrinkens
erkannt) zürnend und trotzig in der Ferne stehen (ib. 543 f.)
und würdigt ihn auf seine Anrede keiner Antwort (ib. 563). ,Nur
Homerische Eschatologie. 39
Scherz ist es aber wenn Polydamas meint der von ihm getroffene
Achaier werde, gestutzt auf die Lanze die ihn getödtet, in die
Wohnung des Aides hinabgehn (IL XIV, 456 f.). Sogar eine ge-
steigerte ISrkenntniss zeigen die Seelen des unbeerdigt gebliebenen
Elpenor (Od. XI, 69 f.) und des gleichfalls noch nicht beerdigten
Patroklos (IL XXIIi, 80 f.), indem sie jener dem Odysseus, dieser
dem Achilleus ihr liünfti'ges Schicksal voraussagen. Diese Incon-
sequenzen alle zeigen aber wie mächtig der Hang ist von der
Persönlichkeit mehr zu retten als ein bloses Schattenbild ; es darf
uns daher nicht überraschen in der zweiten, späteren Nekyia
(Od. XXIV) das was in der ersten (Od. XI) Inconsequenz und
Ausnahme war nunmehr als die Regel zu finden: dort werden
die Freier von Hermes Psychopompos in die Unterwelt geleitet
und unterhalten sich in derselben über die Vorgänge während
ihres Lebens (v. 15 — 204), sind also in vollkommenem Besitze
von Bewusstsein, Gedächtniss und Sprache, was in der ersten
Nekyia nur in Folge von Bluttrinken auf Augenblicke zurück-
gekehrt war. Von dieser zweiten Vorstellung aus war nur ein
kleiner Schritt zu der weiteren, welche das Leben durch den
Tod eigentlich gar nicht unterbrechen lässt, gleichsam nur eine
Wohnungsveränderung zugibt und nicht bios das Sein der Per-
sönlichkeit sondern auch die Art ihrer Bethätigung und Aeusserung,
ihre V^irksamkeit rettet. Diess ist der Fall in dem ganz späten,
vielleicht erst zur Zeit des Peisistratos eingeschobenen und in
jeder Beziehung ungeschickten Abschnitt Od. XI, 568 ff. , wonach
Minos seine Richterthätigkeit unter den (processierenden) Todten
noch fortsetzt," Orion noch die eherne Keule schwingt und über
Berge jagt u. s. w. Hieher gehört dann auch die ideelle Nachwir-
kung des Lebens auf der Erde welche durch das Vorkommen von 31
Strafen in der Unterwelt bezeichnet ist. In der ursprünglichen
homerischen Vorstellung ist unter den Todten kein Unterschied,
alle sind gleich schattenhaft. Gute und Böse; auch im Leben ist
unter den Menschen noch kein durchgreifender sittlicher Unter-
schied, es gibt keine habituell Guten oder Bösen ^ überhaupt
keine Gute und Böse, sondern nur Frevler, und zu freveln kann
jedem Menschen gleich sehr begegnen, dem ausgezeichnetsten
sogar am leichtesten. Diese sittliche Gleichheit bringt es mit
sich dass die Menschen auch nur Ein Loos trifft, nämlich der
Tod; mit diesem ist alle UnvoUkommenheit der menschlichen
Natur hinreichend abgebüsst, das Sterbenmüssen an sich ist so
40 Zur Einleitung in Homer.
traurig da>s es einer weiteren Strafe gar nicht mehr bedarr, ja
eine solche ungerecht i^äre, auch \\enn sie möglich sein würde;
was doch hei der Weseulosigkeit der Geslorhenen uichl der FaU
ibl. Damit eine Strafe empfunden werden konnte müssle der
(ieslorbene mit Bewusstsein ausgestattet werden, und dieses wäre
keine Strafe, sondern eine Belohnung, wie das Beispiel des Tei-
resias zeigt. Eine Bestrafung h\ der Unterwelt für das im Leben
verübte Unrecht hat sonach keinen Kaum im homerischen Vor-
steliuiigskrcise, und der Abschnitt wo die Strafen des Tantalos,
Tityos und Sisyphos erzählt sind (Od. XI, 576—600) stellt sich
somit von selbst ausserhalb desselben und gehört einer späteren
Stufe des sittlichen Bewusstseins an. Jedoch von einer allge-
meinen und conscquenten Vergeltung ist auch hier uoch keine
Spur; nur einige wenige ausgezeichnete Frevler werden ausnahms-
weise hier bestraft, solche deren schrankenlose Gier auch das
Höchste und Heiligste anzufassen sich nicht gescheut hat (Tityos],
deren Genusssucht auch durch die reichste Fülle des Gewährten
nicht befriedigt worden ist (Tantalos), deren Klugheit und Betrieb-
samkeit durch ihre gierige Unermüdlichkeil ihnen selbst zur Pein
ausgeschlagen hat (Sisyphos) , also lauter Bilder der vßQcg welche
über die Schranken der Menschlichkeit hinausstrebt und welche
durch ihre eigene Masslosigkeit homöopathisch und symbolisch ge-
straft wird; s. Nitzsch zur Odyss. Tbl. HL S. 332 f. Dass aber
diese ganze Scene den homerischen Vorstellungen total widerspricht
werden wir finden wenn wir
Zweitens die homerischen Vorstellungen über die Loca-
lilät des Todtenreichs in Betracht ziehen. Die naturliche und
nächstliegende Vorstellung hierüber ist dass die Gestorbenen im
Innern der Erde sich befinden; denn in die Erde rinnt das Blut
des Verwundeten, in die Erde legt man den Leib des Begrabenen,
die Äsche des Verbrannten , und in der Tiefe sucht der natürliche
Inslinct das Schauerliche, Düstere und Geheimnissvolle. Diese
natürliche Vorstellungsweise ist denn auch die der Ilias. Diese
gibt als Aufenthaltsort der tlfvxccl der Gestorbenen einfach und
allgemein das Innere der Erde an; yatay dv(i£vav (11. VI, 19),
Xd'öva dv^svav (II. VI, 411), vTto yalav slvai (II. XVIII, 333),
V7c6 KBvd'SiSi yalrig (II. XXII, 482), xata %^ovbg (II. XXIII,
100), vTtivsQd's (IL III, 278) etc. wird daher von den Todten
gesagt; hier ist die Behausung des Aides und der Persephone
(z. B. IL XXII, 482), zu welcher man hinabgeht (IL VI, 284.
Homerische Eßchatologie. 41
XIV, 457. XX, 294. XXII, 425 u. A.), und Aides heisst daher
Zevg xataxd'ovLog (II. IX, 457), evegoiCiv ävccö0(ov (11. XV,
188), äval^ iveQCJV, der bei einer Erderschullerung fürchtet seine
Wohnungen {olxia) möchten den Blicken der Götter und Menschen
biosgestellt werden (II. XX, 61 ff.). Vgl. Vöicker homerische Geo-
graphie §. 72. S. 140 f. Von diesem Aufenthaltsorte unter der
Oberfläche der Erde sagt uns die liias nur im Allgemeinen dass
es olxia 0fi£QdaXi\ evQcisvta seien, td xb CtvyiovOi d^soi
TtBQ (II. XX, 65), wo i6q>og rjsQosLg (IL XXI, 56) herrscht, daher
auch das Ganze "EQeßog heisst (IL VIII, 368. IX, 572. XVI, 327); 32
auch kennt die Ilias im Todtenlande nur Einen Fluss, die Styx^
bei der die Götter schwören (IL VIII, 369. XIV, 271 ff. XV,
37 f.). Vom Wohnorte der gestorbenen Menschen wird unter-
schieden das Gefängniss der besiegten Götter, der Tartaros, „so weit
unter dem Ais wie über der Erd' ist der Himmel", IL VIII,
13—16. 478-481. XIV, 204. vgL Vöicker S. 156— 159. Diese
unbestimmte populäre Vorstellung Anden wir bedeutend erweitert
und mit Gelehrsamkeit ausgeführt in den älteren Stücken der
Odyssee. In dieser selbst sind nämlich wiederum zweierlei Vor-
stellungen zu unterscheiden, die der alten (oder echten) und
die der späteren (oder interpolierten) Theile, zu welchen letzteren
Od. XI, 225—332. 568—626 mit Sicherheit zu rechnen sind.
Die Darstellungen der alten Theile lassen sich mit den Angaben,
der Ilias vereinigen und als Ausmalung derselben auffassen; die
späteren, neueren Theile beruhen auf einer wesentlich ver-
schiedenen Grundanschauung. Wenn in der lUas das Todtenland
nur überhaupt als finster bezeichnet wird, so wird diess in den
älteren Stücken der Odyssee dahin specificiert dass hier keine
Sonne scheine, die Strahlen derselben hieher nicht dringen (Od.
XI, 93. 223. XII, 382. vgl. XI, 498. 619) ; wenn in der Ilias
das Todtenreich nur allgemein unter die Erde gesetzt wird und
die ifvxccl von jedem beliebigen Punkte aus unmittelbar in das-
selbe gelangen, so treffen wir in den echten Theilen der Odyssee
eine ausgebildete Vorstellung über einen Haupteingang in jenes
Reich. Dieser Eingang ist erstens im Westen; denn hier wo die
Sonne untergeht denkt man sich das Reich der Nacht und Finster-
niss, des Todes. Zweitens ist er jenseits des die Erde von Süd
nach Nord rings umströmenden Okeanos; denn Odysseus muss,
um zu ihm zu gelangen , Sc* 'Slxsävoio tcsqSv (Od. X, 508) und
stellt sich beim Opfern so auf dass er dem Erebos den Rücken,
42 Zur Einleitung in Homer.
dem Okeanos aber das Gesicht zuwendet (ib. 528 f.), der Okeanos
ist also östlich von ihm (s. Völcker S. 144. Nitzsch III. S. 154 f.
172 f.). Wie aber der Eingang selbst zu denken sei, ob als
Schlund, Kluft u. dergl. , darüber findet sich in der Odyssee keine
Angabe; nur so viel ist gewiss dass Odysseus, nachdem er am
Hain der Persephone gelandet, nic&t in der Unterwelt selbst sich
beflndet (wie* Völcker meint), sondern erst am Eingange derselben.
Denn wäre er bereits im Todtenreiche, so dürfte er nur zu-
schreiten, nur die Augen aufmachen, um Alles zu sehen, so
könnte er den Teiresias, seine Mutter, den Achilleus u. s. w. selbst
aufsuchen, so hätte er nicht nöthig eine Grube zu graben und
die Todten zu sich herauf zu eitleren; sein ganzes Verfahren
beweist dass er ausserhalb des Todtenreiches, an dessen Eingang
steht. Diess ist ausdrücklich ausgesprochen XI, 150, wo die
i^XV ^^^ Teiresias von Odysseus weg aßrj d6(iov "AtSog eCecs
(sie, und somit auch Odysseus, war also zuvor nicht darin). Dass
es wiederholt heisst er habe sich im Hause des Aides befunden
(Od. X, 512. 564. XI, 475. XII, 21) kann hiebei nicht irre
machen; es ist nur ein allgemeiner, ungenauer Ausdruck, denn
den Aides bekommt er ja doch nicht zu sehen. Vielmehr kommen
die Schatten zu ihm herauf: vjrig 'EQißsvg (XI, 37. vgl. 564),
wiewohl er selbst schon in einer gewissen Tiefe, am Anfange,
Eingange der Unterwelt, sich befindet, daher ihm ein xatskd'inBv
(XI, 475), ein SQXsiJd^av vnb t^otpov (v. 57. 155) zugeschrieben
wird. In diesen Vorstellungskreis gehört auch der Schluss der
Uias, wo die ^t^%i) desPatroklos einerseits in die Erde verschwindet
{Ttatä x^ovog rfixB xajtvog &xbt oter Qcyvta, 11. XXIII, 100 f.),
andererseits über den Strom, den Okeanos, muss um in das
Todtenreich zu gelangen (ib. 73); der Wohnort der Todten ist
somit auch hier unter der Erde, und der förmliche Eingang
33 jenseits des Okeanos. Dagegen in den unechten Bestandtheilen
der ersten Nekyia (Od. XI) ist das Todtenreich ein Gebiet auf
der Oberfläche, ein Land mit Seen (v. 583), Bergen (v. 574. 596 f.),
Bäumen (v. 588), Wind und Wolken (v. 592), während in den
echten nur die Asphodeloswiese genannt wird, über welche die
Schatten hinschreiten und welche wohl gleichfalls unterirdisch zu
denken ist (Od. XI, 538. vgl. 573. XXIV, 14. Nitzsch III. S.
296 f.). In letzteren sieht Odysseus nur was zu ihm herankommt, in
den unechten aber überblickt er ohne Weiteres die ganze Unterwelt
oder ist vom Einen zum Andern gehend gedacht, von Minos zu
/
Homerische Eschatologie. 43
". w., während er in den früheren Stöcken sich
•vegt. Auch, damit kommt jene Vorstellung
''•h der Todlen ßnster, von keiner Sonne
-^nte Odysseus nicht so den ganzen
'nr Fall war wenn dasselbe auf
oontrastiert aber wiederum
jier auf dem Wege zum
.iien Felsen, am Sonnenthor,
.Kommen und endlich an ihrem
als dem Wohnplatz der il)v%aiy an-
i4), was dann v. 204 identificiert wird
o X6vd'€0t yalriQ, Diese Vorstellung erweist
(.e dadurch dass einmal der Okeanos zu einer
ichl einmal entfernten) Station herabgesetzt ist,
.1 die hinzugekommene Allegorie vom äi^fiog ^OvbIqchv.
.urch ist die Stelle bemerkenswerth dass keine Rucksicht
genommen ist dass die Leiber der Freier noch nicht
idigt sind (v. 186), was auch Od. Xl, 398 f. 405 f. XXIV,
i09 vorkommt, während Patroklos' '^vxr^ nicht über den Okeanos
kann bis sein Ldb bestattet ist (U. XXIII, 71 — 74) und Elpenor's
^VCT vvenigslens am Eingange der Unterwelt sich umhertreibt,
noch Körperlichkeit an sich hat und daher den Odysseus flehentlich
um Bestattung bittet (Od. XI, 51 IT.). "A^tkavtog, ad'ccjttog zu
sterben ist ein Unglück (vgl. Od. XI, 54. 72); es ziemt sich die
Todten zu beweinen und zum Zeichen der Trauer das Haar zu
scheeren (Od. IV, 197 f.); sonst sind sie freilich bald aus dem
Gedächtniss der Menschen verschwunden. (II. XXII, 389),
Ausser dieser Ausbildung welche die Vorstellungen vom Schau-
platze des Todtenreiches in ihr gefunden haben ist der Odyssee
auch noch diess eigenthümlich dass in ihr Anfänge der späteren
Sitte der Todtenopfer und Todtencitation vorhanden sind. Das
Ritual der Todtenopfer ist Od. X u. XI im Wesentlichen schon
ganz so wie es später gebräuchlich war: Darbringen dunkel-
farbiger, unfruchtbarer Thiere, Spenden von Honigtrank; Wein
u. s. w. Diess macht die Stelle verdächtig ; denn ein solches Ritual
erklärt sich nur aus der Vorstellung dass die Todten Mächte seien
welche auf das Menschenleben Einfiluss üben, deren Gunst man
sich daher erwerben müsse. Nun hat aber diese Vorstellung im
homerischen Gedankenkreise gar keinen Raum, denn hier sind
die Todten nicht divi manes, sondern unglückliche, wesenlose
44 Zur Einleitung in Homer.
Schatten. Auch Odysseus will ihnen nicht eine Huldigung dar-
bringen, sondern sie sind ihm nur Mittel um etwas über sein
Schicksal zu erfahren und dienen ihm zur Befriedigung seiner
Neugierde. Um so auffallender ist es dass ihm ein rituelles Ver-
fahren zugeschrieben wird das auf ganz anderen Voraussetzungen
beruht, dass das einmalige, für einen bestimmten persönlichen Zweck
unternommene Opfer gerade eben so ausgeführt wird wie das
spätere regelmässige, als Suhnungsmiltci dargebrachte. Auch die
Todtencitalion der Odyssee weicht in wesentlichen Punkten
von der späteren Nekromantie und Psychagogie ab. Die Ver-
di Stellung w)n der Möglichkeit der Wiederkehr Gestorbener ist bei
ilomer noch nicht vorhanden; sie wird ausdrücklich verneint
iL IX^ 408, und implicite liegt dieselbe Verneinung darin dass
Odysseus um die Todten zu befragen zu ihnen selbst sich
begeben muss; er kann sie nicht zu sich her eitleren. Die
Erscheinung des Patroklos ist gleichfalls nur eine Bestätigung
jener Unmöglichkeit; denn einmal ist er noch gar nicht in der
Unterwelt, sodann kommt die tl^vx'^ nicht in Folge einer magischen
Beschwörung, einer Vorladung, sondern sie drängt sich vielmehr
von selbst auf. Andererseits liegt aber doch in Odysseus Befragen
der Todten ein — wenn auch schüchterner — Anfang von Psychago-
gie, und das Local hat vielleicht eben darum so viel Unbestimmtes,
die Scene so viel Undeutliches, weil die ganze Stelle zwischen
zwei entgegengesetzten Anschauungen schwankt, zwischen den
zwei Arten von Todtenbefragung : dadurch dass man sich zu
ihnen in die Unterwelt begibt und dadurch dass man sie mittelst
Opfern u. s. w. auf die Oberwelt citiert. Und so könnte es der Fall
sein dass auch die älteren Abschnitte der ersten Nekyia einer
verhältnissmässig späten Zeit angehörten, wobei dann wieder
zweierlei möglich wäre, dass nämlich die übrige Odyssee diese
Entstehungszeit theilte, oder dass jene Abschnitte jünger wären
als diese.
II.
Die Stellung der Frauen in der griechischen Poesie.*)
Die Stellung der Frauen In der griechischen Poesie bietet
der Betrachtung eine doppelte Seite dar. Einmal nämlich haben
wir zu erörtern in welchem Masse und in welcher Weise Ange-
hörige des weiblichen Geschlechts selbstthätig auf dem Gebiete
der Poesie aufgetreten sind; sodann darzulegen wie weit und in
welcher Art die Dichtkunst das weibliche Geschlecht im Ganzen
und einzelne Mitglieder desselben zu ihrem Gegenstande gemacht
hat. Es wurden beim zweiten Punkte 'dreierlei Arten zu unter-
scheiden sein: rein sachliche Darstellungen, Lobpreisungen und
endlich Angriffe, scherzhafte wie ernst gemeinte. ladessen wer-
den wir diese Eintheilung der folgenden Ausfuhrung nicht zu
Grunde legen. Die durchgängige Aneinanderreihung des Gleich-
artigen würde ermüden, innerlich Zusammengehöriges müsste aus-
einander gerissen werden, wir kämen oft in Verlegenheit ob wir
einen Darsteller nicht vielmehr zu den Angreifern oder auch zu
den Lobpreisern zu rechnen haben, und endlich würden wir auf
diesein Wege nicht zu sittengeschichtlichen Ergebnissen gelangen.
*) Vortrag, gehalten 1853 vor einer gemischten Versammlnng. In-
zwischen ist das gleiche oder ein ähnliches Thema auch von Anderen
behandelt worden. Vgl. E. v. Lasaulx, zur Geschichte der Ehe bei den
Griechen, München 1852, 108 S. 4. J. A. Mähly, die Frauen des grie-
chischen Alterthums, Basel 1853. 36 S. L. Wiese, über die Stellung
der Frauen im Alterthum und in der christlichen Zeit, Berlin 1854.
32 S. Köchly , Acad. Reden u. s. w. I. 1859. S. 153 ff. Von diesen Schriften
wurde bei der ursprünglichen Ausarbeitung des Nachstehenden keine
benützt, und auch bei der Durchsicht zum Zwecke der Veröffentlichung
[im Morgenblatt 1855, S. 1158 ff.] der Gebrauch derselben mit Absicht
vermieclen, da bei der Verschiedenheit des Plans und der Gesichtspunkte
davon mehr Verwirrung als Nutzen zu erwarten war.
46 Die Fraacn in der griechlBchen Poesie.
Wir ziehen es daher vor das Einzelne in derjenigen Ordnung
aufzuführen in welcher es der Zeit nach auf einander folgt, um
so mehr als wir dadurch zugleich eine ?ollkommen passende Sach-
ordnung gewinnen.
Die griechische Literaturgeschichte hat nämlich die wunder-
bare, in ihrer Art einzig dastehende Eigenthömlichkeit dass nie
mehrere Dichtarten neben einander bestehen und betrieben wer-
den , sondern immer eine die andere an einer ganz fest bestimm-
baren Zeitgrenze ablöst, wie eine neue Generation die alte; eine
Eigenthümlichkeit die erst mit dem griechischen Geiste selbst
erlosch. So ist die älteste Zeit der Griechen vom Epos beherrscht;
auf den Schultern des Epos erhebt sich dann beim ionischen
Stamme die Elegie und deren Kehrseite, die lambik, etwas später
bei den Doriern die chorische Lyrik, bei den Aeoliern die rein
subjective, individuelle Lyrik. Erst nach den Perserkriegen er-
steigt die griechische Poesie ihren höchsten Gipfel mit der atti-
schen Tragödie und Komödie.
Was diese verschiedenen Gattungen und Zeiten in Bezug auf
unsern Gegenstand bieten will ich nun in der durch die Fülle
des Stoffs gebotenen Kürze vorüber führen.
Schon im homerischen Epos finden wir das weibliche
Geschlecht auf einer hohen Stufe innerer Ausbildung und daher
auch äusserlicher Werthschätzung. Wie die Helden, besonders
der Ilias, an gesunder Kraft, Ehrlichkeit und Rohheit, sowie an
Sucht nach Abenteuern lebhaft an die Ritter in der besten Zeit
des Mittelalters erinnern, so gleichen einander beide auch in
ihrer Verehrung der Frauen. Zwar ist sie in der homerischen
Zeit frei von dem schwärmerischen, phantastischen Anstriche des
Mittelalters, aber an Wärme und Zartheit der Empfindung steht
der griechische Ritler seinem germanischen und romanischen
Geistesverwandten nur wenig nach. Um die schöne Helena wieder
nach Hellas zurück zu bringen und ihren Entführer zu züchtigen,
haben sich ja alle die Schaaren von Rittern , Reisigen und Knap-
pen aus allen Enden von Griechenland auf den Weg gemacht,
und erdulden um dieses Zweckes willen die Mühsale eines zehn-
jährigen Wechsel vollen Kampfes. Und nicht minder ihre Feinde, die
Troer: warum machen sie nicht aller ihrer Bedrängniss kurzweg ein
Ende, indem sie Helenas Zurückgabe und die Auslieferung des
Paris erzwingen? Die Macht' der Schönheit hat auch sie besiegt,
für sie stürzen sie sich freudig in Kampf und Tod. Flüstern doch
Homerisches Epos. 47
selbst die greisen Räthe des Priamos, als sie Helena erbliclien,
einander zu:
'S ist doch nicht zu verdenken dem Danaervolk nnd den Troern
Dass sie um solch ein Weib so 'lange sich schlagen und plagen!
Einer Unsterblichen gleicht sie fürwahr an entzückender Schönheit!*)
Zwar fügen sie in ilirer greisenhaften Erhabenheit über solche
romantische Gefühle alsbald hinzu:
Trotzdem schiffe sie nur, so reizend sie ist, in die Heimat,
Statt dass hier sie für uns und unsere Kinder ein Fluch wird!
Aber der edle Priamos, der selbst am meisten vom Kriege zu
leiden und zu fürchten hat, denkt anders. Er ruft ihr entgegen:
Komm, lieb Töchterchen, näher und setze dich gegen mir über;
Nichts hast du mir verschuldet: die Schuld lieg^ nur an den Göttern,
Deren Geschick mich bestürmt mit dem traurigen Krieg der Achaier.
Dasselbe Motiv wiederholt sich bei dem eigentlichen Ausgangs-
punkte der liias. Ilion kann nicht erobert werden weil Achilleus,
aus Groll gegen Agamemnon, seine Mitwirkung am Kampfe den
Griechen vorenthält. Die Ursache dieses Grolls aber ist dass
Agamemnon ihm seinen Beuteantheil , die schönwangige, rosige
Tochter des Briseus, gewaltsam entrissen hat; und er beharrt auf
seinem Grolle, trotzdem dass man ihm zum Ersatz für die Eine
Geliebte sieben auserlesene Sklavinnen anbietot (Uias IX, 636 ff.).
Diess zum Beweise des Werthes welchen man den Frauen
beimisst, der Wärme womit man hier an ihnen hängt. Aber sie
verdienen dieselbe auch durch ihre Reinheit als Jungfrauen, durch
ihre Treue als Gattinnen. Von Jungfrauen bietet die Odyssee ein
Bild von unübertrefflicher Lieblichkeit in Nausikaa. Der Gedanke
an die nahe Hochzeit, an der sie selbst in glänzenden Gewän-
dern erscheinen und die Theilnehmer damit ausstatten müsse,
treibt sie vor Tagesanbruch vom Lager. Sie bittet sich vom
Vater ein Gespann aus, um mit ihren Mägden am Ufer des Meeres
Wäsche zu halten, und verbirgt dabei mit züchtiger Verschämt-
heit ihren eigentlichen Beweggrund hinter ihrer Besorgtheit für
Vater und Brüder. Nachdem die Gewänder gewaschen sind
werden sie zum Trocknen am Strande ausgebreitet, und die Ge-
sellschaft vertreibt sich inzwischen die Zeit mit Gesang und Ball-
spiel. Nausikaa nimmt muntern Antheil am fröhlichen Treiben,
aber weit ragt sie an Wuchs und edler Haltung hervor über die
♦) Ilias III, 156 flf.
'
4H Die Franon in dor griecliischen Poesie.
Schaar ihrer Dienerinnen, so weit wie Artemis über ihre Nym-
phen. Als nun der Ball, statt von der Dienerin auFgefangen zu
werden, ins Meer fliegt, da schreien die Mädchen wie aus einem
Munde laut auF. Davon erwacht Odysseus, der im Slrandgebusrli
lodesmöde von den überslandenen Gefahren schlummert, und
gellt den menschlichen Stimmen nach, trotz seines verwilderten
Aussehens und seiner sehr mangelhaften Bekleidung. Bei seinem
Anblicke stäuben die Dienerinnen auseinander, wie Hirsche vor dem
Löwen; nur des Alkinoos Tochter bleibt ruhig stehen; denn von
Furcht Ist sie frei und das Gemeine kennt sie nicht, es findet
in ihrem Innern keinen Anknüpfungspunkt, und arglos und oflen
kann sie daher dem fremden Manne Ins Gesicht schauen, in
dem sie augenblicklich einen •Unglücklichen ahnt, der ihrer Ilülfe
bedürfe.
Noch reicher sind die homerischen Gedichte an Beispielen
edler, treuer Frauen. Bekannt ist aus der Ilias Andromache,
welche an ihren Gemahl die bekannten rührend einfachen und
doch so tiefen und schonen Worte richtet:
Hektor, du bist Vater mir jetzt und yerehrete Mutter,
Bist mir Bruder zugleich und mein blühender Lagergenosse I
— Würd* ich deiner beraubt, so wäre mir besser zu sterben.*)
Und aus der Odyssee brauche ich Penelope nur zu nennen.**)
Aber auch Helena bereut bitter den Leichtsinn womit sie den
Gemahl verlassen , nennt sich ein verworfenes , schändliches Weib,
wünscht dass sie nie geboren wäre (Ilias VI, 344 (f.), und ruft ein
ander Mal (Ilias III, 173 ff.) aus:
Hätt' ich doch lieber dem Tod mich geweiht als dass ich mit Paris
Hieber zog und die Freunde verliess und die bräutliche Kammer,
Auch mein einziges Kind und die holden Gespielinnen alle!
Ach, nicht also geschah^s; drum muss ich in Thränen rergehen.
Und Arete, die Mutter der Nausikaa, übt sogar auf die öiTent-
lichen Angelegenheiten Einfluss aus. Ihre Tochter sagt von ihr
(Odyss. VII, 66 ff.):
— Alkinoos nahm sie zum Weibe,
Und er erweist ihr Ehre wie Keine auf Erden geehrt wird
Unter den Frauen die walten im Haus, nachstehend dem Manne.
Also ward sie von Herzen geehrt und wird es noch immer,
Wie von den eigenen Kindern, so auch von Alkinoos selber,
*) Ilias VI , 429 f. 410.
**) Ueber diese vgl. besonders Lasaulx a. a. O. S. 17 f. mit Anm. 35.
Homerisches und Hesiodisches Epos. 49
Und von dem Volk, das sie anschaut als \^äre sie Göttin
Und sie mit Worten hegrüsset so oft in der Stadt sie umhergeht.
Denn nicht fehlt es fürwahr ihr selber an wackerem Sinne:
Männern sogar, wenn sie freundlich gesiunt ist, löst sie den Hader.
Drum, ist sie dir im Herzen geneigt und freundlich gewogen.
Dann darfst Hoffnung du hegen die Heimat wieder zu schauen.
Ueberhaupt hat die homerische Frau ihrem Manne gegenüber
zwar eine nalurgemäss untergeordnete, aber keineswegs eine
unwürdige und unselbständige Stellung. Warm schildert nament-
lich Oüysseus das Glück einer einträchtigen Ehe, indem er zu
Nausikaa dankend sagt (Odyssee VI, 180 ff.):
Mögen die Götter dir schenken wonach dein Herz dir hegehret,
Einen Gemahl und ein Haus, und dazu herzinnige Eintracht
Mögen sie spenden; denn nichts Werthvolleres gibt es und Bessres
Als wenn einigen Sinnes und Herzens im Hause zusammen
Wohnet der Mann und die Frau, für die Feinde zum grossen Verdrusse,
Aber zur Freude den Freunden; am meisten geniessen sie^s selber.
Einen starken Abstieb von der idealen Herrlichkeit der Welt
des homeriscben Epos bildet die derbe Wirklichkeit des hesio-
discben. Vertritt jenes den Standpunkt und die AufTassungs-
weise des Ritters, so dieses den des Bauern. Materielle An-
gelegenheiten und Sorgen bilden hier den Mittelpunkt des Ge-
dankenkreises , und eine handfeste Rechtschaffenbeit , daneben aber
auch etwas selbstsüchtig Pfiffiges, ein allgemeines Misstrauen
gegen Andere, insbesondere gegen alle Erfindungen der Cultur
und Alles was von den „Herren" ausgeht, etwas Herbes und
Bissiges spricht aus dem ganzen Gedichte. Bei einem Bauern
wäre es thöricht ritterliche Gefühle suchen zu wollen; man muss
es daher ganz natürlich finden dass bei Hesiod das weibliche
Geschleckt übel wegkommt. Alles was über den allerdringendsten
Bedarf hinausgebt, alles was in das Gebiet des Schönen hinüber-
spielt, ist ihm vom Uebel und ein Greuel in seinen Augen; er
sieht daher in dem Schönbeitstriebe des weiblichen Geschlechts,
der in keinem Verhältnisse ganz auszutilgen ist, nichts als Ver-
schwendung, lauter Verderben für den Mann und seine Habe,
und bat diess durch den Mythus ausgedrückt dass Zeus das Weib
(Pandora), mit allen Gaben der Anmut und Verführung ausge-
stattet, den Menschen zur Strafe auf die Erde gesandt habe. *)
Diese seine Denkweise erreicht ihren Gipfelpunkt in dem Ralhe
♦) Werke und Tage 57 ff. Vgl. Theogonie v. 570 ff.
Teuf fei, Studien. 4
50 Die Frauen in der griechischen Poesie.
Vom putzsüchtigen Weib nicht lasse den Sinn dir berücken,
Welches dich kosend bestrickt, nach dem Gelde dir spähend mit
Habgier.
Wer auf Weiber vertraut, der trauet dem hellen Betrüge.*}
Um SO mehr aber ist er entzückt von einem braven, d. h. spar-
samen Weibe.
Grösseres Glück für den Mann gibts nicht denn ein wackeres Weib ist,
sagt er**), sezt aber dann gleich hinzu:
Aber ein grösseres Unheil nicht denn ein schlechtes, Visiten
Nur nachjagendes; die brennt nieder dem fleissigsten Manne
Ohne ein Feuer das Haus und macht ihm bitter das Alter.
Die grosse Kluft welche in dieser Beziehung zwischen Homer und
Hesiod liegt hat ihren Grund nicht nur in der Verschiedenheit
der Stämme und Gegenden welchen diese beiden Dichter ange-
hören, sondern namentlich auch darin dass zwischen beide hinein
der Untergang der Herde hellenischer Ritterlichkeit fallt, das
Erlöschen der alten Adelsgeschlechler, die Beseitigung der kleinen
Höfe. Keine der Staatsformen welche an die Stelle der patri-
archalisch monarchischen traten erwies sich in demselben Masse
der Anerkennung des weiblichen Geschlechts günstig, nicht die
Tyrannis, die mit ihrem Princip der Rechtlosigkeit und Gewalt
auch die Familie berührte, noch die Demokratie, die dem Burger,
indem sie ihn in den Strudel politischer Thätigkeit hiiieinstürzte,
weder Zeit noch Stimmung liess dem zarteren Geschlechte zu
huldigen.
Weniger als man es nach dem heutigen Begriffe von Elegie
erwarten würde beschäftigen sich gleich die elegischen Dich-
ter der Griechen mit dein weiblichen Geschlechte. Die Elegie
ist eben bei den Griechen nicht das weinerliche, süssliche Ding
das man jezt darunter versteht, sondern eine kräftige, markige
Gestalt. Bald rollt sie zürnend über den Häuptern des erschlaff-
ten Volks dahin, bald reisst sie, unwiderstehlich wie ein Berg-
strom, es fort zu einem vorgesteckten Ziele. Sie ist die Trägerin
der Gedanken von Männern die mit Herz und Leben inmitten
ihres Volkes stehen, mit ihrer Einsicht, ihrer Bildung und ihrem
Willen aber über dasselbe hervorragen und ihre höhere Begabung
dazu verwenden ihr Volk für einen grossen, edeln Zweck zu
begeistern, bestehe dieser nun in heldenmütigem Kampfe und
*) Werke nnd Tage 373 ff.
**) Werke und Tage v. 702 ff. Vgl. Theog. 690 — 612.
Elegie. Mimnermos, 51
freudigem Tode für das Vaterland oder in hingebendem Verzichten
auf die eigenen Interessen zum Besten derGesammtheit. Die Elegie
ist die Spraclie in welcher der höher Gebildete zum Volke redet;
sie steht in der Mitte zwischen der Herrscliaft des Epos und
dem Aufkommen einer schriftmässigen Prosa; sie ist zwar noch
Poesie, aber ihr Inhalt ist. die Gegenwart, und sie verfolgt in
dieser einen bestimmten praktischen Zweck; nur dass dieser ein
grosser idealer ist, denn nicht für kleine Anliegen seiner Person
ölTnet der Seher seinen gottgeweihten Mund.
So ist denn die griechische Elegie von Anfang an ausschliess-
lich ethisch und politisch, mit den grossen Interessen des Vater-
landes so vollauf beschäftigt dass daneben die Angelegenheiten
des Privatlebens keinen Raum finden. Der einzige unter den
älteren Elegikern der davon eine Ausnahme macht ist Mimnermos;
aber gleich dessen jüngerer Zeitgenosse Selon hat um so reiner
und reicher den ursprünglichen Charakter dieser Dichtart durch-
geführt. Mimnermos dagegen war der Erste der die Elegie
verwendete zur Darstellung von Zuständen und Empfindungen
des Privatlebens, insbesondere der Liebe. Diess hatte seinen
Grund in den besonderen Verhältnissen des Dichters und seines
Volkes. Mimnermos gehörte zum Volksstamme der lonier, die,
durch nordische Eindringlinge aus ihrer Heimat in Griechenland
vertrieben, gen Osten gewandert waren und an der Rüste von
Kleinasien sich ein neues Vaterland gegründet hatten. Durch
die Ueppigkeit des Bodens und durch ausgedehnten Handel schnell
reich geworden, versanken sie in Weichlichkeit und wurden so
eine Beute ihrer kriegerischen Nachbarn, der Lyder (unter Krösus
und dessen Vorgänger). In diese Zeit der Knechtung seines
Volkes fällt nun das Leben des Mimnermos, und er kann selbst
dazu dienen uns diese Knechtung zu erklären. Während nämlich
die früheren Elegiker die Noth des Vaterlandes in bekümmertem
Herzen getragen und an ihrem Theile dazu mitgewirkt hatten
derselben, wo es möglich wäre, ein Ende zu machen, lässt
Mimnermos das sich entfernt nicht anfechten. Er findet nicht
dass der Himmel seitdem weniger blau sei, er nimmt die Dinge
wie sie einmal sind, und sucht sich innerhalb derselben möglichst
behaglich und vergnüglich einzurichten. Mimnermos ist ein treues
Abbild der sittlichen Erschlaffung welche den Untergang von
loniens Unabhängigkeit herbeigeführt hatte, der einseitigen Aus-
bildung des hellenischen Schönheitsgefühls. Er kennt nichts
52 Die Frauen in der griechischen Poesie.
Höheres als die Schönheit .und deren Genuss, die Liebe. Er
ruft aus:
Was war' Leben und Lust, wenn die goldene Kypria fehlte?
Todtsein möcht^ ich, wofern nimmer mir wäre vergönnt
Heimlicher Liebesgenuss und Umarmung und süsse Geschenke.
Es Stört ihn daher nicht dass sein Volk unterjocht ist; im Gegen-
theil, nicht mehr in Anspruch genommen durch öffentliche An-
gelegenheiten, kann er sich jezt jim. so ungetheilter hingeben an
das was für ihn das Höchste ist. Desto mehr aber beengt ihn
der Gedanke dass das alles so kurz dauert, dass das traurige
Alter und die grausige Hand des Todes diesem schönen Traume
unfehlbar ein baldiges Ende macht. Dieser Gedanke wirft einen
trüben Schatten hinein iii das freudenreiche Dasein, es verküm-
mert und vergällt dem Dichter schon jezt, noch ehe das Ge-
fürchtete eingetreten ist^ allen Genuss, es hindert ihn an voller,
ruckhaltsloser Hingabe an das was die Gegenwart Schönes bietet
So sagt er in einem Bruchstücke:
Alsbald rinnet den Körper hinab unsäglicher Schweiss mir ,
Und nur zitternden Leibs kann die Gespielen ich sehn
Blühend und Heblich und schön. 0 dass es doch länger so bliebe!
Doch nur wenige Zeit dauert sie, gleichwie ein Traum,
Diese gepriesene Jugend, und jählings hänget das Alter
Ueber dem Haupt ihr da, lästig und hässlich zu schaun,
Allen verhasst und verachtet; es macht unkenntlich den Menschen,
Legt sich um Augen und Qeist, machet sie trübe und blind.
Dieses Gewinsel über die Kürze der Jugend, dieses Grauen vor
dem Alter bildet überhaupt den stehenden Inhalt von Mimncrmos'
Gedichten, so weit wir sie noch haben. Es wird berichtet dass
diese vorherrschende Richtung seiner Gedanken ihren Grund
gehabt habe in persönlichen Erfahrungen des Dichters, sofern
er nämlich aus der Gunst seiner Geliebten , der Flötenspielerin
Nanno, durch jüngere Nebenbuhler verdrängt worden sei. Mag
diess richtig sein oder nicht, jedenfalls werden wir in diesen
Aengsten, diesem Albdrücken, eine wohlverdiente Strafe für den
Leichtsinn und die Gesinnungslosigkeit erkennen womit der Dich-
ter in schwerer Zeit kein ander Heil wusste als in rückhaltslosester
Hingabe an die Sinnlichkeit.
Kein Dichter seines Volks folgte ihm auf dieser Bahn; wohl
aber kam er, nach dem Untergange des eigentlichen griechischen
Wesens und Lebens, in Alexandria wieder zu Ehren. Unter
den kunstliebenden Ptolcmäern sammelte sich dort ein Kreis von
_,j
Alexandrinische Elegie. Idyll. 53
Männern welche insbesondere die bequeme und doch elegante
und anmutige elegische Dichtungsart wieder aus dem Schlummer
erweckten. Hofdichter wie sie waren, und Dichter eines Hofes
der für sein Dasein in diesem Lande kein anderes Recht hatte
als das des Schwertes, entbehrten sie der Stoffe aus dem öffent-
Heben Leben der Gegenwart, durch welche die Dichtungen der
alten Elegiker so reichhaltig und werthvoll geworden waren.
Dieser Epigonen Welt waren dagegen die Bucher, der Hof und
Ihre kleinen persönlichen Erlebnisse. Diese drei Gegenstände
bilden denn den Inhalt wie aller ihrer Gedichte so namentlich
auch ihrer Elegien, die Elemente welche nur in verschiedener
Mischung bei ihnen immer wiederkehren. Auch wo sie sich selbst
zum Gegenstande machen, eigene Gefühle darzustellen scheinen,
ist es hauptsächlich das Gedächtniss , die Gelehrsamkeit, die
Bücher, was aus ihnen redet. So wenn sie die Reize einer
wirklichen oder geträumten Schönen zu schildern sich anschicken
plündern sie zu diesem Behufe die ganze Mythologie, und eben
so wenig können sie irgend welche Verwicklung des Lebens,
z. B. der Liebe, und die Stimmung welche sie erregt, in der
naturgemässen Weise darstellen : Leben und Gelehrsamkeit fliessen
bei ihnen fortwährend in einander über, oder vielmehr die Ge-
lehrsamkeit überflutet und erstickt das Leben. Ein abschrecken-
des Beispiel dieser Art ist uns durch CatuUus erhalten, der
das elegische Gedicht des Alexandriners Kallimachos „auf das
Haar der Königin Berenike" frei übersezt hat, bei welchem Ge-
dichte schon die Wahl des Stoffs bezeichnend genug ist. Je
weiter man sich aber selbst von der Natur entfernte, um so leb-
hafter wurde das Gefühl für das was eigentlich das Natürliche
wäre, und der Trieb dasselbe, wenigstens in so weit als die
eigenen Kräfte es gestatteten, durch die Mittel der poetischen Dar-
stellung ins Leben ^u rufen: das Idyll ist ein Erzeugniss der
alexandrinischen Zeit. Freilich brachte es selbst der bedeutendste
Idyllendichter, Theokritos aus Syrakus, nur zu blassen Ge-
stalten, ohne Blut und Leben, und lieferte den schlagendsten
Beweis davon wie tief die Verschrobenheit in diesem Kreise
wurzelte, indem sie selbst da wo sie eigens darauf ausgiengen
natürlich zu- sein vielmehr nur eine neue Species der Unnatur
zu Tage förderten. Indessen würden wir dem Theokrit Unrecht
thun wenn wir nicht auch hinzufügten dass er da wo er sich
von seiner Manier emancipiert, wo er einen Griff in das wirk-
54 Die Frauen in der griechischen Poesie.
liehe Leben hinein thut, eine Meisterschaft bekundet, die es nur
um so tiefer beklagen lässt dass er sonst dem Trugbilde einer
unwahren Idealität nachgestrebt hat. Diese Meislerschaft verräth
besonders Theokrits berühmtestes Idyll „die Weiber am Adonis-
fest.'' Um bei der öffentlichen Feier des lezteren zuzuschauen,
holt eine Frau die andere ab und begibt sich mit ihr auf die
Strasse, wo dann der Festzug an ihnen vorüber geht und durch
ihre Exclamationen und zungenfertigen Beschreibungen auch uns
vor die Augen tritt , endlich im Königspalaste das Festlied mit
angehört wird. Die Festfeier ist der eigentliche Zweck und
Mittelpunkt des Gedichts, aber die Vorbereitungen zur Theil-
nahme daran und das Verhalten der Frauen auf der Strasse selbst
sind mit solcher Liebe ausgeführt dass hiedurch der grössere
Theil des Raums und des Interesses in Anspruch genommen
wird. Da ist mit köstlicher Anschaulichkeit und wahrhaft dra-
matischer Lebendigkeit ein grosses Stück Frauenart biosgelegt.
Die Abholende trifft ihre Freundin* noch über der Toilette, sie
plaudern gemütlich und räsonnieren gelegentlich über ihre
Männer, bis es ihnen auf einmal einfällt dass sie ja eigentlich
Eile haben, und nun die bei der Toilette behülfliche Dienerin
angefahren wird, dass sie vor Bestürzung erst recht Alles ver-
kehrt macht. Das Kleid ist endlich glücklich angezogen; die
Freundin bewundert es und fragt nach dem Preise; auch der
übrige Putz wird rasch angelegt, das unbequeme Kind, das sich
von der Mutter nicht trennen will, mit Entschiedenheit abge-
schüttelt: „Ich kann dich nicht mitnehmen, mein Kind. Huhu!
die Pferde beissen! Weine so viel du willst: zum Krüppel darfst
du mir nicht werden. Gehen wir! Phrygia, unterhalte den
Kleinen, rufe den Hund herein uud schliesse die Hausthüre zu.''
So sind sie denn auf der Strasse und wundern sich über die
Menge Menschen und die gute Ordnung die trotzdem herrscht.
Da geräth die eine der Frauen durch die Pferde des Zugs in
Angst und ruft ihrer Freundin zu: „Liebste Gorgo, was wird
aus uns? Des Königs Schlachtrosse! Lieber Mann, tritt mich
nicht! Der Goldfuchs bäumt sich! Ach, seht wie wild er ist!
Gott Lob und Dank dass ich mein Kleines, zu Hause gelassen
habe!** Gorgo beruhigt sie: „Fasse dich, Praxinoa, sie sind
ihres Wegs gegangen und jezt weit von uns weg.*' Praxinoa
fasst sich auch und versichert dass Pferde und Schlangen ihr
von jeher das Aergste gewesen seien. Sie drängen sich in den
Theokritos. lambik. 55
Palast hinein , und Praxinoas neues Kleid kommt dabei in Lebens-
gefahr, doch haben sie sich auch der Galanterie eines Mannes
im Publikum zu erfreuen ; einen andern, der sich über ihr stören-
des Geplauder beklagt und über ihren Dialekt sich lustig macht,
trumpfen sie gehörig ab. „Seht doch, woher ist denn der Mensch?
Was geht es dich an wenn wir schwatzen? Willst du den Ge-
bieter spielen, so kaufe dir jemand; wir sind Syrakusaner."
Erst der Beginn des Gesangs bringt sie zum Schweigen. „Es
wird gewiss schön werden," bemerkt Gorgo, „schon räuspert
sich die Sängerin.^' Durch seine ganze Haltung und viele kleine
Züge erweist sich dieses Idyll vielmehr als ein satirisches Sitten-
gemälde , und liefert dadurch einen neuen Beweis von der nahen
Verwandtschaft dieser beiden Diclitgattungen.
Noch grösser und augenfälliger ist die Verwandtschaft mit
der Satire bei derjenigen Dichtart welche fast gleichzeitig neben
der Elegie entstand, der lambik. Eben so sehr wie die Elegie
wurzelt auch die lambik in der Gegenwart; aber es sind andere
Gebiete der Gegenwart welche beide behandeln, und beider Ver-
halten zu ihr ist ein verschiedenes. Während die Elegie an das
Grosse und Allgemeine sich macht, sucht die lambik sich ge-
flissentlich das Kleine und Persönliche aus, und während die
Elegie von dem idealisch aufgefassten Allgemeinen ausgeht und
dieses dem Einzelnen als Spiegel vorhält, als Ziel und Zweck
hinstellt, ist dagegen die lambik die kecke Kritik welche der
Einzelne übt, wie an allen Einzelnen die ihm zu nahe kommen,
so auch am Allgemeinen selbst, wenn es sich auf unangenehme
Weise geltend machen will. Während daher die eigentlichen
Elegiker grösslentheils Männer von hoher Stellung im Staate waren,
sind dagegen die lambographen Männer welche bei glänzender
geistiger Begabung und dem lebhaftesten Bewustsein davon dennoch,
theils in Folge unglücklicher Verhältnisse, theils durch eigene
Verschuldung, es zu keiner öffentlichen Anerkennung und Gel-
tung zu bringen vermochten, daher mit der ganzen Gesellschaft
zerfallen sind und nun eine grausame Freude daran finden überall
Schwächen aufzudecken und Täuschungen zu zerstören. Dadurch
erhielt bei den Griechen „lambos" allmählich die Bedeutung
von Scbmähgedicht und machte sich gefürchtet bei Freund und
Feind. Doch bestand die Gattung nicht lange, indem der Geist
derselben in der Komödie bald einen reicheren und vollkomme-
neren Schauplatz für seine Entfaltung gewann und für seine
56 Die Frauen in der griechifichen Poesie.
persönlicheren Zwecke an der immer mehr zum Epigramm sich
zusanimenziehenden und zuspitzenden Elegie ein ganz ausreichen-
des und sogar bequemeres Werkzeug erlangte. Es sind daher
hauptsächlich nur drei Namen an \velche sich die Geschichte der
lambik kettet, Archilochos, Simonides und Hipponax; alle drei
aber haben sich in ihren Gedichten mehr oder weniger mit dem
weiblichen Geschlechte zu schaffen gemacht.
Weitaus der bedeutendste unter diesen ist der älteste, Archi-
lochos, ein künstlerisches Genie ersten Ranges, ?on übersprudeln-
der Schöpferkraft, einem Reichthum der Begabung und einer
Lebendigkeit und Unruhe dass es ihn gegen jede Schranke hin-
trieb, um sie zu überspringen oder zu zertrümmern. Er hat
durch seine Genialität die griechische Poesie , welche nahe daran
war der Einförmigkeit zu verfallen und in Conventionellen For-
men zu erstarren, neu in Gang gebracht, hat ihr dieThüre ge-
öffnet, dass ein frischer Lebensodem herein drang und der Strom
der Poesie sich reich und voll über alle Fluren ergiessen konnte.
Aber freilich ist es ihm in der.Masslosigkeit und dem Ueber-
mute der Jugend begegnet dass er auch über solche Schranken
hinweg sezte welche nicht von gestern sind und nicht von der
Willkür oder der Beschränktheit gezogen, hinter denen vielmehr
dem verwegenen Springer ein Abgrund entgegengähnt; und er
hat diess, erbittert durch persönliches Missgeschick, namentlich
dem weiblichen Geschlechte gegenüber gethan. Archilochos liebte
Neobule, die Tochter eines Lykambes, mit der ganzen Glut sei-
nes leidenschaftlichen Wesens, und der Vater sagte ihm ihre
Hand zu, nahm aber später — aus uns unbekannten Gründen
— sein Versprechen wieder zurück. Diess versezte den heiss-
blutigen Dichter in solche Wut dass er gegen Lykambes und
dessen ganzes Haus die giftigsten Geschosse richtete und mit
grimmiger Rücksichtslosigkeit in jedes Geheimniss des Lebens
und der Liebe hinunter leuchtete. Nichts Gutes lässt er jezt
weder am Vater noch an seiner einstigen Braut; er will jezt,
wo er sie nicht bekommt, zu der Einsicht gelangt, sein dass
mit ihr das baare Unglück in sein Haus gezogen wäre, und ent-
schuldigt gleichsam seine frühere Liebe mit ihrer Koketterie:
Der Myrte Blüte trag sie in der Hand,
Der Kose dafVge Blume, und ihr dunkles« Haar
Floss reich hinab auf Hals und Schulter; selbst ein Qreis
Er war' in Lieb^ entbrannt.
Archilochos. Simonides Amorg. 57
So unbarmherzig, so vernichtend waren seine Angriffe dass in
späterer Zeit die Sage entstand^ Lykambes habe sich in Folge
derselben sammt seinen Töchtern erhängt. Archilochos sezte nach
dem Scheitern seines Versuchs sich einen festen Herd zu gründen
nur um so mehr sein ruheloses, unstetes Wanderleben fort, auf
dem er das Samenkorn der Poesie in ganz Hellas umherstreute.
Indessen sind von den Gedichten des Archilochos nur Trümmer auf
uns gekommen, da dieselben, nachdem sie ungefähr ein Jahrtausend
lang allgemein gelesen worden waren , wegen gewisser allzu greller
Zeichnungen unter den byzantinischen Kaisern systematisch ver-
nichtet wurden; Trümmer freilich die auch noch in ihrer kläg-
lichen Zerstücklung erkennen lassen dass das Alterthum Grund
hatte wenn es den Archilochos zu den leuchtendsten Gestirnen an
dem wahrlich an Glanz nicht armen Himmel der hellenischen
Poesie zählte.
Während aber so das Geistvolle untergegangen ist, hat von
dem zweiten der genannten lambiker, von Simonides aus Amor-
gos, ein ziemlich untergeordnetes Erzeugniss das Dasein zu erhalten
gewusst. Es ist dessen Schmähgedicht auf die Weiber. Das
Gedicht hat die Einkleidung dass die Frauen je nach einer her-
vortretenden Eigenschaft in Art^n abgetheilt und diese Arten
je von einem entsprechenden Thiere abgeleitet werden. So stamme
die gefallsüchtige von einem Pferde ab, die träge von einer
Eselin, die fleissige von einer Biene, die hässliche von einer
Aeffin, und mit welchem Thiere er in seiner Plumpheit vollends
diejenige in genealogischen Zusammenhang gebracht hat welche
auf Ordnung und Reinlichkeit nicht streng hält wage ich gar
nicht zu sagen. So wenig dieser Grundgedanke Anspruch hat
auf Feinheit, Tiefe oder Geistreichigkeit, so scheint doch sein
Urheber davon sehr befriedigt gewesen zu sein; , wenigstens ver-
folgt er ihn mehr als hundert Verse hindurch mit schrecklicher
Ausdauer. Einige Proben daraus:
Die eine stammt vom Meer; die hat ein Doppelherz:
Den einen Tag, da ist sie heiter nnd vergnügt,
Dass jeder Fremde der sie sieht im Hause, spricht:
„Es gibt doch in der ganzen weiten Welt fürwahr
Kein bessres nnd kein schön'res Weib als diese ist!'*
Nicht aaszuhalten ist sie schon am Tag darauf, |
Nicht anzusehen, anzurühren; denn sie ist
Unfreundlich, widerwärtig gegen Jedermann. ... i
58 Die Frauen in der griecliischen Poesie.
Vom mähnenreichen Bosse stammt die andre ab,
Die Sklayendienste und die harte Arbeit flieht.
Die rührt euch keine Mühle an, nimmt nicht das Sieb
Zur Hand und kehrt den Staub euch nicht zum Haus hinaus*;
Vom Herde bleibt sie fem, wo man nur russig wird.
Zweimal des Tags, auch dreimal, wascht sie sich den Leib
Vom Schmutze rein und salbet sich mit duftigem .Oel.
Auch trägt sie allezeit den reichen Lockenschmuck
Kunstreich geflochten und mit Blumen hübsch durchwirkt.
Ein schöner Anblick ist ein solches Weib gewiss
Für Andere, ihrem Mann jedoch ein bitterer Kelch,
Wofern er nicht ein Herrscher ist, auf Thronen sizt,
Und an dergleichen eben seine Freude hat.
Die andre von der Biene: glücklich ist der Mann
Dem sie zu Theil wird; ihr nur darf der Spott nicht nahn.
Die Habe dehnt und mehret sich durch sie.
Geliebt und liebend wird sie mit dem Gatten grau,
Umschaart von schönen und gepriesenen Sprösslingen,
Und unter allen Weibern ist sie hochgeehrt,
Von allen Göttern und von Menschen hochgeliebt.
Nicht gerne sizt die Reine in der Weiber Kreis,
Wenn sie zusammen schwatzen über Tanz und Putz.
Nur diese eine Art lässt der Dichter gelten; im Ganzen aber ist
sein Urteil:
Das Schlimmste was heryorgieng aus der Hand des Zeus
Ist doch das Weib, und scheint es einmal etwas nütz.
So folgt dem scheinbar Glücklichen das grösste Leid;
Denn nimmer bleibt in ungetrübter Heiterkeit
Den ganzen .Tag hindurch wer an ein Weib sich hängt.
Denn wo ein Weib ist kann man kaum den alten Freund,
Der uns besucht, willkommen heissen in dem Haus.
Und immer die Frau die besonders gut erscheint,
Die eben ist von allen noch die schädlichste.
An dieser Schilderung ist Lob wie Tadel gleich bezeichnend
Tür den Standpunkt des Redenden. Es ist der der selbstgewis-
sesten Spiessbürgerlichkeit, welche schon darum gegen das weib-
liche Geschlecht eingenommen ist weil sie durch dasselbe von
Zeit zu Zeit aus ihrer stagnierenden „Ruhe" herausgeruttelt
wird, und welche vollends ganz ausser sich kommt wenn sie um
der Frau willen in die Tasche greifen muss. Diese Spiessbärger-
lichkeit schüttet hier ihren Aerger aus in der Form von gewiss
sehr oberflächlichen Beobachtungen, die ohne einen Anflug von
Geist, Humor oder Leidenschaft in massivster Weise vorgetragen
Simouides Am. Hipponax. 59
sind , nichts desto weniger aber oder eben desswegen bei der
Masse Anklang gefunden haben und lange im Umlauf blieben.
An Geist nun zwar fehlt es durchaus nicht dem dritten
unter den bedeutenderen lambographen, dem Hipponax^ von
welchem der berüchtigte Ausspruch herrührt dass das Weib nur
zweimal in seinem Leben liebenswürdig sei:
„Am Tag der Hochzeit und an seinem Sterbtage/*
Wir werden dieses giftige Wort vollkommen begreifen und, sogar
verzeihen, wenn wir uns vergegenwärtigen dass Hipponax häss-
lich war, eine zwar nervigte, aber verkrüppelte Gestalt mit
einer abscheulichen Fratze von einem Gesicht. Dadurch war er
im Lande der schönen Form von vornherein gebrandmarkt, aus-
gestossen, zum Kriege gegen alles Wohlgebildete und Schöne
verurteilt; und wenn er in seiner Erbitterung auch der Götter
und der eigenen Eltern nicht schonte, weil sie sich *um ihn so
schlecht verdient gemacht, so werden wir nicht erwarten dass
er mit dem weiblichen Geschlechte glimpflicher verfahren sei,
und durch jenen Ausspruch uns eher an die wegwerfende Aeusse-
rung des Fuchses über die hochhängenden Trauben erinnert
fühlen. Wenn ihm von einem schlechten Gewährsmann die Verse
zugeschrieben werden:
Die beste Ehe ist für einen weisen Mann
Ins Hans zu nehmen eine tugendsame Frau;
Denn diese Mitgift einzig hilft dem Hanse auf;
Und wer auf Sparsamkeit bei Wahl des Weibes sieht,
Der hat statt einer Herrin eine Mitarbeiterin,
Voll Lieb' und Treue für die ganze Lebenszeit, —
SO springt sogleich in die Augen dass sie nicht von Hipponax
herrühren können, sondern vielmehr von seinem Collegen, dem
ehrenfesten Burger Simonides.
Haben wir bisher mit der Elegie und (ambik uns auf dem
Boden des ionischen Stammes bewegt, so führt uns dagegen die
Lyrik zu den beiden andern Hauptstämmen der Hellenen, den
Doriern und Aeoliern, und zwar gehört die Dichtung für Chöre
(die chorische Melik) dem dorischen Stamme, die für den Einzel-
gesang dem äolischen an. Wenn man nun an diese Dichtgattung
mit. der Erwartung herantreten würde hier eine besonders er-
giebige Ausbeute für unsern Gegenstand zu finden, so würde
man sich zum Theil getauscht finden; nicht nur weil die Zeit
auf diesem Gebiete unbarmherziger als sonstwo gehaust und uns
60 Die Fraaen in der griechischen Poesie.
nur Haufen von Trümmern übrig gelassen hat, als Zeugen der
Tergangenen Pracbt, sondern auch weil die Lyrik selbst von An-
fang an sich nur in beschränktem Masse mit dem weiblichen
Gescblechte befasst hat. Bei der chorischen Lyrik liegt diess
in der Natur der Sache: diese hatte einen kirchlichen Zweck,
sie war ein Bestandtheil des Gottesdienstes und behielt dieser
ihrer Bestimmung gemäss immer einen ernsten, strengen und
würdevollen Charakter. Es machte in dieser Beziehung keinen
wesentlichen Unterschied ob ein Lied bestimmt war von einem
Chore Männer oder Mädchen vorgetragen zu werden ; nur einzelne
Dichter, welche sich zu der Weise der subjectiven Lyrik hinneigen,
hielten die Lieder für Jungfrauen - Chöre (Parthenien) in etwas
weniger strengem Tone. So namentlich Alk man, der einem
solchen Jungfrauenchor den naiven Wunsch in den Mund legt :
„Himmlidcher Vater, o schenke mir den zum Gemahle!'*
Verwandten Inhalts war auch das Lied des Stesichoros, Kalyke
betitelt und gleichfalls von Jungfrauen gesungen. Es schilderte
die unglückliche Liebe der Kalyke zu Euathlos, wie Kalyke züch-
tig zu Aphrodite flehte dass Euathlos sie zur Frau nehme und,
von ihm verschmäht, sich vom leukadischen Felsen hinabstürzte;
eben so desselben Dichters Lied auf das Liebespaar Rhadina und
Leontichos, das von dem Tyrannen Korinths getödtet wurde, wie
Stesichoros überhaupt unter den Dichtern der Liebe genannt wird.
Zu diesen gehört in gewissem Sinn auch Ibykos aus Rhegium,
von dem z. B. ein Lied begann:
Eros blicket mich wieder mit schmachtenden Augen ans dunkelen
Wimpern hervor an,
Und lockt mich mit allerlei Künsten hinein in der Kypris unendliche
Netze.
Schon bebt vor dem Nahenden mir das Gemüt,
So wie ein siegegekröntes, im Joche gealtertes Ross auch
Ungern in den Wettstreit geht mit dem raschen Gespann.
Wie Ibykos haben auch Anakreon und Pindaros sich vor-
zugsweise mit dem Preise männlicher Schönheit befasst, wozu
dem Letzteren die Verherrlichung der Sieger in den öfTentlichen
Wettkämpfen gelegentlich Anlass bot. Von Pindars jüngerem
Zeitgenossen, Simon i des von Keos, aber besitzen wir noch
ein Lied worin die Mutterliebe in unnachahmlich schöner Weise
sich ausspricht. Er lässt nämlich Danae, die mit ihrem neu-
geborenen Söhnchen Perseus von ihrem Vater Akrisios in einen
Melik. Alkman. Ibykos. Simonides K. Alkaios. 61
Kasten geworfen und dem Meere preisgegeben worden ist, als
die Wogen an ihren Behälter heranschlagen, mit feuchten Wangen
den Arm schlingen um ihr schlummerndes Kind und sprechen:
,,0 Kind; wie leide ich Pein! Und du schlummerst ruhigen
Sinnes und schläfst in der unfreundlichen ehernen Behausung,
hingestreckt in schwarzer Nacht! Dass dein Haar, von den
Wellen gestreift, erstarrt, kümmert dich nicht, nicht das Sausen
der Winde unter deiner Purpurdecke, holdes Antlitz! Wäre dir
schrecklich das Schreckliche, würdest du hören auf meine Worte.
So schlummere denn, süsser Kleiner; es schlummere auch das
Meer und schlummere das unermessliche Leid. Abhülfe erscheine,
Vater Zeus, von dir! Dass kühnen Worts ich flehe verzeihe
mir um des Kindes willen!"
Unter den Dichtern für den Einzelgesang, den subjectiv
lyrischen, wie sie bei den Aeoliern erstanden, ist Alkaios zu
lief verflochten in die politischen Geschicke seiner Heimat Lesbos
und zu sehr* Mann der Partei als dass er oft die Sammlung und
den Frieden in sich gefunden hätte seine Leier der Liebe zu
widmen. Neben den religiösen und den politischen Stoffen nehmen
bei ihm die Freuden der Freundschaft und Geselligkeit den aus-
gedehntesten Raum ein ; für die Liebe scheint nur ein bescheidenes
Plätzchen übrig geblieben zu sein. So lässt er ein liebekrankes
Mädchen seufzen:
„O ich Arme, der von Allem was es Schlimmstes |;ibt zu Theil ward!'*
und einen Nachtschwärmer vor ^ einer geschlossenen Thüre sehr
beweglich bitten:
„O nimm mich Schwärmer auf, o nimm mich auf, ich bitte, bitte dich!"
Und an seine Landsmännin und Kunstgenossin Sappho richtet
er die verlegene Liebeserklärung: „Veilchengelockte, keusche,
süsslächelnde Sappho, ich möchte ein Wort dir sagen, aber Scheu
verbietet mh^'s," worauf die Dichterin erwiderte:
Wenn du nach Gutem trügst und nach Schönem Lust,
Und nicht was Schlimmes hätte die Zunge vor,
Nicht würde Scheu das Aug* umfangen,
Sondern du sprächest heraus was Recht ist.
Damit sind wir bereits der glänzendsten Erscheinung nahe getreten
welche das Altcrthum hinsichtlich der thätigen Theilnahme des
weiblichen Geschlechts an der Poesie aufzuweisen hat, der Dichterin
Sappho.
62 Die Frauen in der griechischen Poesie.
Bei- dem äolischen Stamme hatte das weibliche Geschlecht
eine weit freiere Stellung als bei dem ionischen.; nur bei jenem
konnte daher in so grossartigem Massstabe geschehen was in
Athen völlig undenkbar war und bei den Doriern wenigstens, in
beschränkterem Masse statt fand, dass ein Weib als Dichterin
auftrat. Aber diese Verschiedenheit der Sitten hatte zugleich
die Folge dass Sappho's Sein und Thun ausserhalb ihres Stam-
mes verkannt, missdeutet und verhöhnt wurde, insbesondere in
Athen. Und da Athen in der Literatur immer mehr tonangebend
wurde , und spätere Pedanten das was zu Athen über Sappho als
mehr oder weniger boshafter Witz erdichtet und behauptet
worden war für baare Münze nahmen , so geschah es dasä Sappbo's
Bild uns in ganz verzerrter Gestalt überliefert wurde, bis im
Jahr 1816 ein deutscher Gelehrter (F. G. Weicker) die Zuthaten
des Mutwillens von dem eigentlichen Bilde abschied und dieses
in seiner ursprünglichen Beinheit wiederherstellte, so dnss jezt
keine Kluft mehr ist zwischen der Weise ihres Lebiens und der
ihres Dichtens.
Sappho macht nach den Ueberresten ihrer Gedichte den
Eindruck reicher und .tiefer Weiblichkeit. Das Weib ist seiner
ganzen Natur nach auf das enge, aber inhaltsreiche Gebiet des
Privatlebens angewiesen; die Beziehungen von Person zu Person
sind ihre Welt,, das schmale, aber tiefe und reissende Wasser
der persönlichen Gefühle ist es worauf ihr Nachen sicher und
anmutig dahinfährt, das weite Meer mit seinen Gefahren, seinem
Gewinne und seinem Buhme dem schwerer gezimmerten Schiffe
des Mannes überlassend. So findet sich auch bei Sappho keine
Spur von den politischen Leidenschaften wovon Alkaios' Lieder
getränkt sind. Ihre Leidenschaft ist die Liebe; der Frühling des
weiblichen Herzens, der Gipfelpunkt seines Seins und Wesens ist
der Mittelpunkt ihrer ganzen Dichtung. Sappho ist durchaus
Dichterin der Liebe, und Alles was wir gegen einen Mann sagen
müssten der mit derselben Ausschliesslichkeit dieses eine Gebiet
der Empfindung anbauen würde spricht für die volle Berechtigung
des Weibes zur Wahl gerade dieses Stoffes. Aber sie ist ein hel-
lenisches und insbesondere ein lesbisches Weib, und nicht nur
Zartheit und Wärme dürfen wir daher bei ihr suchen, sondern
auch Glut und Leidenschaft. Die Eigenschaft der Zartheit prägt
sich namentlich darin aus dass Sappho für das stille Weben der
leblosen Natur, besonders der Pflanzenwelt, ein Verständniss und
Melik. Sappho. 63
ein Mitgefühl hat wie es sich in dieser Innigkeit innerhalb des
ganzen Alterthums nicht wieder findet Aber von Sentimentali-
tät, von Hineinlegen unendlicher Gefühle in die harmlose Natur,
oder von zerfliessendem Schmachten ist bei ihr keine Spur, auf
diesem Gebiete so wenig als in der Liebe. Vielmehr gibt sie
mit treuherziger Offenheit dem ganzen Ungestüm ihres heissen
Herzens Worte, so dass man schon im Alterthum gesagt hat,
ihre Lieder steigen wie Flammen aus der Glut ihres Herzens
empor. So schildert sie den überwältigenden Eindruck welchen
der Anblick der Schönheit auf sie macht mit folgenden Worten:
Mir bewegt diess vrogend das Herz im Busen;
Denn erscheinst vor Augen mir du, so stockt gleich
Jeglicher Laut mir.
Ja gelähmt erstarret die Zung' und leises
Feuer rinnt dann über die Haut mir plötzlich;
Nacht umhüllet mir das Gesicht, und gellend
Klingen die Ohren;
Kalter Schweiss entträufelt der Stirn, und Zittern
Fasst mich ganz, und falber denn Qras erblass* ich,
Und nur wenig ferne der Nacht des Todes
Schein' ich, Geliebter.»)
In einem andern Gedichte betet sie, von unglücklicher Liebe
gequält , zu Aphrodite um Hülfe , wie einst , wo sie auf ihr Gebet
erschienen sei:
Fragtest lächelnd dann mit dem Himmelsantlitz,
Was geschehn mir wäre, warum ich flehend
Her dich beriefe?
Was ich meinem feuerberauschten Herzen
Allermeist ersehnete? „Wen nur wieder
Soll ich herzumstrickend dir fahn? O wer denn
Kränkt dich, o Sappho?''
„Flieht er dich, bald soll er von selber^ folgen ;
Schlägt er Gaben aus, — o er soll sie geben;
Liebt er nicht, — bald soll er dich lieben, ob auch
Du es verschmähtest/'
Komm* zu mir auch jezt und erlös* aus bangen
Sorgen mich, und welche Gewährung immer
Mir das Herz verlanget, gewähr*, und selber
Leihe mir Beistand!*)
Die Gewaltsamkeit ihrer Gefühle bezeichnet sie selbst am besten,
wenn sie einmal sagt:
^■) Nach F. W. Richter*s Uebersetzung.
64 Die Frauen in der griechischen Poesie.
Eros qnält mich von Neuem mit Allgewalt,
Mit süsshitterem Zanher, der Wüterich;
Atthis, aher o du bist im Herzen mir
Fremd und kalt, zu Andromeda flatterst du.
So tritt Sappho als Ideal lesbischer Weiblichkeit würdig ihrem
ritterlichen Landsmann Alkaios zur Seite. Allgemein erkannte
man im Alterthum an dass sie unerreicht dastehe unter den Frauen,
und Solon, der hochbetagt einst seinen Neffen ein Lied von ihr
vortragen hörte, bat es sich aus, weil er nicht sterben möchte
ohne es gelernt zu haben.
Neben ihr können die andern Frauen ans dorischem und
dorisch - äolischem Stamme welche als Dichterinnen genannt werden
kaum in Betracht kommen. Es sind Damophila aus Böotien,
Erinna von Tenos, die Spartanerinnen Kleitagora und Myia, Telesllla
aus Argos, Praxilla aus Sikyon, die Böoterinnen Myrtis und
Korinna, und die Lokrerinnen Theano und Nossis. Verhnltniss-
mässig am bedeutendsten scheinen unter diesen gewesen zu sein
Erinna, die aber schon in ihrem neunzehnten Jahre den Tod
fand, und Korinna, welche nicht ohne Einfluss auf die Aus-
bildung Pindars gewesen sein und in dichterischen Weltkämpfen
mehrere Haie den Sieg über ihn davon getragen haben soll.
Von ihrem feinen Urteile zeugt eine Bemerkung die sie in
Bezug auf ein etwas überladenes Lied dieses ihres jüngeren
Landsmannes machte: man säe mit der Hand ivnd nicht mit dem
ganzen Sacke.
In Athen ist nie eine Dichterin erstanden, wohl aber hat
das eigenste und vollendetste Erzeugniss des attischen Geistes,
das Drama der Athener, der Natur der Sache nach das weib-
liche Geschlecht häufig genug in seinen Kreis gezogen, nach allen
Seiten hin dargestellt und zum Theil in ganz entgegengesezter
Weise aufgefasst und beurteilt.
Schon unter den drei grossen Tragikern ist in dieser
Beziehung ein bemerkenswerther Unterschied.
Aeschylos sieht vermöge des ganzen grossartigen, heroi-
schen Zuschnitts seiner Poesie in dem weiblichen Geschlechte
vorzugsweise das schwache Geschlecht, weichem Schweigen, Be-
scheidenheit und Zurückhaltung gezieme."^) Er liebt es daher
seinen starken männlichen Charakteren einen weiblichen Chor
•) Sieben gegen Theben 200 f. 230 ff.
Erinna u. A. Aeschylos. 65
zur Seite zu stellen, hauptsächlich um das Mannhafte in jenen
um so wirksamer hervortreten zu lassen. So in den Sieben
gegen Theben, so im Prometheus. Dort stellt die Angst des
aus thebanischen Jungfrauen bestehenden Chors die Grösse der
Gefahr in der belagerten Stadt, aber zugleich auch den uner-
schütterlichen Heldensinn des Eteokles in desto hellere Beleuch-
tung; hier — im Prometheus — dient die schmiegsame Nach-
giebigkeit, furchtsame Berechnung und oberflächliche Denkweise
der Töchter des Okeanos, welche den Chor bilden, dazu, durch
den Gegensatz die geistige Ueberlegenheit, den Stolz und die
eherne Unbeugsamkeit des Prometheus zu heben. Indessen nicht
bloss Scheu vor allem schroffen Auftreten und Neugierde sind
die Eigenschaften durch welche Aeschylos im Prometheus den
Chor als einen weiblichen zeichnet, sondern ebenso die Tugend
der Treue, des wandellosen Ausharrens auch im Unglück, legt
er ihm bei. Auf die Ermahnung des Hermes, den Prometheus
jezt zu verlassen, damit sie nicht mit ihm zu leiden haben, ant-
wortet der Chor:
Was forderst da mich zu der Schlechtheit auf?
Treu theiP ich mit ihm sein hartes Geschick;
Denn ich hasse Verrath, hah* stets ihn gehasst,
Und es gibt kein Qift
Das mehr als diess ieh verabscheut.*)
Und dass auch die weibliche Natur, bei aller ihrer durchschnitt-
lichen Schwäche, dennoch, wenn es einer gemütlichen Pflicht
oder einer Leidenschaft gilt, gleichfalls einer Steigerung sogar
ins Heldenhafte fähig sei ist niemand weniger verborgen geblieben
als dem Aeschylos. Ein solcher Charakter ist in den Sieben
gegen Theben seine Antigone. Eben war sie noch ganz auf-
gelöst in Schmerz um die beiden Brüder, die in unseligem Zwei-
kampf gegenseitig einander erschlagen haben; als aber nun
der Befehl verkündigt wird den einen von beiden als Vater-
landsverräther unbestattet liegen zu lassen und so noch im
Tode zu beschimpfen, da richtet sie sich mitten aus dem
tiefsten Gram heraus stolz empor und gibt die feste Erklärung:
wenn niemand ihn bestattet, so werde ich es thun (v. 1026 ff.).
Ist es bei Antigone ein edler Beweggrund der sie über die
sonstigen Schranken ihres Geschlechtes hinaus führt, so hat der
♦) Prometheus v. 1066 ff.
Teuf fei, Studien.
66 Die Frauen in der griecliiBchen Poesie.
Dichter in seiner Klytämnestra (im Agamemnon) ein Weib
gezeichnet das, durch eine unerlaubte Leidenschaft auf die Bahn
des Verbrechens gestossen, nun auch an Gefährlichkeit, an un-
versöhnlichem Grimm und Bösartigkeit alle Männer weit hinter
sich lässt. In Klytämnestra vereinigt sich Falschheit und Grau-
samkeit zu einem grauenhaften Bunde. Mit gleissender Freund-
lichkeit lockt sie den arglos aus dem Kriege heimkehrenden
edlen Gatten ins Verderben, und als sie ihn gemordet, mit
eigener Hand gemordet, beschreibt sie mit schauerlicher Offen-
heit und höllischem Hohngelächter ihre verruchte ThaU Die
Rollen der Geschlechter sind hier gewechselt: ihr Buhle Aigisthos
ist in diesem Stucke das Weib, Klytämnestra die eigentliche Hel-
din, überlegen an Geist, und auch vor dem Fürchterlichsten
nicht zurückbebend. Auch als der Tag der Vergeltung gekommen,
ist sie es welche keinen Augenblick die Gegenwart des Geistes
verliert und sich, wiewohl vergebens, zu thätlichem Widerstände
anschickt Trotz dem dass die Verhältnisse ihres Bildes über
das Menschliche hinaus gehen, sind doch die einzelnen Züge mit
wahrer Feinheit gezeichnet, und auch jene Uebertreibung in den
Dimensionen ist wohl von der künstlerischen Absicht geleitet dem
Acte der Rache, den der eigene Sohn an diesem furchtbaren Wesen
vollzieht, von seiner Grassheit zu benehmen. Ausserdem ist bei
den alten Dramatikern in der Zeichnung weiblicher Charaktere
eine gewisse Härte und Herbigkeit die natürliche Folge davon
dass es nicht nur Männer waren welche dieselben schilderten,
und Männer diejenigen für weiche sie geschildert wurden, sondern
Männer auch die welche auf der Bühne sie darstellten.
Jene Herbigkeit findet sich bis auf einen gewissen. Grad sogar
noch bei Sophokles, obwohl dieser mehr als irgend ein anderer
griechischer Dichter das weibliche Wesen zu würdigen und zu
schildern verstanden hat. Der glänzendste Beweis davon ist das
Schwesterpaar Antigone und Ismene (in der Tragödie Antigene).
Antigene ist das Heldenweib, das mit männlicher Entschlossen-
heit die Gemütswärme und hingebende Begeisterung des Weibes
ps^rt, vermöge der sie .für das worein sie ihr Gemüt gelegt
mit l'Yeuden das höchste Opfer bringt, aber zugleich auch so
einseilig ist dass sie alles was nicht ihre Begeisterung theilt oder
gar ihr in den Weg tritt verachtet und hassl; daher ihr heraus-
fordernder Trotz gegen Kreon, ihre wehthuende Härte gegen
Ismene. Stellt Antigone die energische Seite des Gemüts dar
Aeschylos. Sophokles. 67
die zündende, so dagegen Ismen e die erwärmende, elegische.
Sie achtet das Mögliche und Erlaubte als die Schranke ihres
Wollens und Thuns, innerhalb welcher sie den ganzen Reich-
thum |ihres tiefen Gemüts entfaltet; sanft und schüchtern bebt
sie zurück vor der vermessenen That, und selbst die kränkende
Härte der Antigone vermag sie weder über die Grenze der
Weiblichkeit hinüber zu locken, noch irre zu machen in ihrer
Liebe und Verehrung für die Schwester. Ganz Sanftmut und
Milde vor der entscheidenden That, wird sie durch die Gefahr
der Antigone aufgeschreckt; nicht mit entflammt, so lange es
einer Idee galt, findet sie jezt, wo ein theures Leben bedroht
ist, auch in sich Heldenmut; kühn, aber nicht trotzig, tritt auch
sie jezt vor Kreon und will von ihm den Tod als Mitschuldige;
denn In den echt weiblichen Leistungen des Duldens, der Auf-
opferung und Hingebung, darin ist auch sie Heldin; und von der
Schwester abermals — jezt durch schnöde Zurückweisung —
schmerzlich verwundet, -sezt sie nichts destoweniger alles in Be-
wegung was sie als Weib für Antigone thun kann, das Mittel
der Ueberredung und Fürbitte. Ismene ist eine Gestalt die unsere
Liebe noch viel ungetheilter in Anspruch nimmt als Antigone
unsere Bewunderung; sie ist überhaupt die vollendetste, reinste
Darstellung echter Weiblichkeit die wir aus dem Alterthum besitzen.
Dieses Geschwisterpaar scheint auch eine Lieblingsschöpfung des
Dichters selbst gewesen zu sein; denn nicht nur kehren sie im
Oedipus auf Kolonos wieder — wiewohl dort einfach als treue
Töchter ihres unglücklichen blinden Vaters — sondern der Dich-
ter hat auch In der Elektra den Versuch gemacht denselben
Gegensatz noch einmal, aber jetzt von einer andern Seite her,
darzustellen , freilich ohne die Vollkommenheit des ersten Wurfes
wieder zu erreichen.
Auch Elektra ist die Heldenjungfrau, welche durch das
sie beseelende Pathos sich über die Grenzen ihres Alters und
ihres Geschlechts hinaus treiben lässt; aber dieses Palhos ist nicht,
wie bei Antigone, das edle und weibliche der Bruderliebe, son-
dern es ist das wilde, grausige der Rache. Und indem nun hier
diesem blutdürstigen Drange dieselbe Glut und dieselbe Unwider-
stehlichkeit beigelegt wird wie dort dem Drange der Liebe, so
wird Elektra statt zu einer grossartigen, vielmehr zu einer
schauerlichen Erscheinung, von der sich unser Blick mit Ent«
setzen abkehrt. Andererseits ist der Charakter ihrer Schwester
5*
68 Die Frauen in der griechischen Poesie.
Chrysothemis weit entfernt von der Zartheit die uns an der
Zeichnung der Ismene so wohlthuend ist. Was bei Ismene Tact
und Gefühl, das ist bei Chrysothemis verständige Reflexion; sie
unterwirft sich ohne Widerstand dem Stärkeren, nicht aus in-
stinktiver Schwäclie und Schüchternheit, sondern aus Grundsatz
und. ruhiger Ueberlegung, aus Einsicht in die obwaltenden Um-
stände. In dieser selbstbewussten Nüchternheit des Verstandes
spöttelt sie über die Schwester, als eine Närrin, und lässt sich von
ihr weder erbittern noch begeistern ^ immer bleibt sie ruhig,
kalt und bedächtig.
Von untergeordneten weiblichen Charakteren ist zu nennen
Tekmessa im Aias, die mysische Königstochter, von Aias zur
Sklavin und Gattin gemacht , voll rührender Liebe und Anhänglich-
keit für ihren Herrn und inniger Mutterliebe; aus den Trachi-
nerinnen Deianeira , die gutmütige, aber beschränkte Gattin
des Herakles; aus dem König Oedipus die leichtsinnige und herz-
lose Gattin des Haupthelden, lokaste; endlich aus der Eiektra
die sophistische Verbrecherin Klytämnestra. Ueberhaupt ist unter
den auf uns gekommenen sieben Stücken des Sophokles der Philok-
tet das einzige welches keinen Frauencharakter enthält; in allen
andern finden sich deren sogar jedesmal mehrere. Diese Vorliebe,
wie die Meisterschaft in der Zeichnung dieser Charaktere , welche
Sophokles mit Goethe gemein hat, erklärt sich daraus dass er
selbst, wie der deutsche Dichter, ein weiblich weicher, receptiver
Charakter war, von Natur und Schicksal um die Wette mit ihren
Gaben beschenkt und daher auch mehr als Andere in der Lage
sich Kenntniss des weiblichen Herzens zu verschafTen.
In diesen Beziehungen allen ist das Gegentheil von Sophokles
sein jüngerer Nebenbuhler Euripides."^) Zwar fehlte es auch
ihm keineswegs an genauer Kenntniss und tiefem Verständniss
des weiblichen Wesens; wie überhaupt seine Stärke besonders
in der Zergliederung und Darstellung von Vorgängen in der
menschlichen Seele besteht, namentlich in der Zeichnung von
Leidenschaften ; so hat er diese Fertigkeit besonders auch in
seinen Frauencharakteren bewährt. Seine Phädra, seine Medea
sind Meisterstücke in der Seelenmalerei, und wo es darauf ankam
eine hingebende treue Gattin zu schildern, wie Alkestis und
*) Vergl. über diesen die Zasammenstellungen von Lasaulx a. a.
O. I. S. 62—60.
Sophokles. Euripides. 69
Andromache, oder eine edie, reine und doch dabei starke Jung-
frau, wie Iphigenia, Polyxena und Makaria, da hat der Dichter
die ganze Kunst seines Pinsels aufgeboten und wirklich auch
vollendete Bilder geliefert, auf welche näher einzugehen ich mich
aber darum enthalte weil sich in Bezug auf die euripideischen
Stücke nicht in demselben Masse wie bei den sophokleischen
genauere Bekanntschaft auch in weiteren Kreisen voraussetzen
lasst. Indessen was den Euripides bei seinen weiblichen Charakteren
leitet ist nur ein allgemeines psychologisches Interesse; dass er
sie mit wirklicher Liebe studiert und entworfen hätte tritt nirgends
hervor , wohl aber finden sich Anzeichen genug dass der Dichter
gegen das Geschlecht im Ganzen mit Vorurteilen und übler Laune
erfüllt ist. Euripides war im Alterthum berühmt als Weiberfeind;
eine eigene Komödie des Aristophanes behandelt diesen Gegen-
stand. Hier beschliessen die Weiber in einer Versammlung an
dem Dichter Rache zu nehmen für die fortwährenden Anschwär-
zungen ihres Geschlechts:
Verlästert er uns nicht so oft zusammen
Sich finden Chor, Schauspieler und Zuschauer,
Nennji schwazhaft uns, und falsch, worthrüchig, treulos,
Verdorben durch und durch, die Pein der Männer?
Und die Tragödien des Euripides zeigen in genügendem Masse
dass es dieser Anklage an Grund nicht fehlte. So lasst er einmal
Hedea sagen (v. 412):
Wir Weiber sind von Natur zum Guten ungeschickt.
In allem Schlimmen aber ganz erfinderisch;
anderswo (Phon. 198):
Die Weiber sind von Natur ein tadelsüchtig Ding;
oder (Sthenob. 6):
In Nichts wird einem Weibe traun wer weise ist.
Der berühmteste Erguss seines Weiberhasses aber ist im Hippolytos,
wo er den Titelhelden die Worte herauspoltern lasst (v. 611 if.):
O Zeus, was hast du dieses hinterlistige Leid,
Das Fraungeschlecht, zur Welt gesandt ans Sonnenlicht?
Denn wenn du erhalten wolltest der Sterblichen Geschlecht,
Nicht durch die Weiber musstest du bewirken diess.
In deine Tempel sollten dir die Sterblichen
Erz oder Eisen weihen oder schweres Gold,
Und dafür Kinder kaufen, jeder nach dem Werth
Bestimmter Schätzung, aber in den Wohnungen
70 Die Frauen in der griechischen Poesie.
Vom Frauenvolke ledig, unbehelligt sein.
So aber wird schon wenn man diese Plage sich
Heimführen will des Hauses Wohlstand schwer verlezt.
Und dass das Weib ein grosses Uebel, zeiget diess:
Der Vater, der sie zengV und auferzog, er gibt
Ihr eine Mitgift noch, um ihrer los zu sein.
Der aber freut sich der das Unkraut nimmt und legt
Dem schlimmen Wesen schöne Kleider an und puzt,
Bildsäulen gleich, es durch Geschmeide stolz heraus,
Der Armg, der des Hauses Wohlstand untergräbt!
Dann muss er drein sich fügen, braver Schwägerschaft
Zu Lieb die Pein im Haus zu lassen, oder auch
Des braven Weibes wegen schlimme Vetterschaft
Zu tragen, seinen Schmerz dadurch bewältigend.
Am besten fährt noch wem ein ganz einfältig Ding
Von einem Weib, ein blosses Nichts, im Zimmer sizt.
Gescheidte hass ich; weile nie in meinem Haus
Ein Weib das klüger wär^ als Frauen ziemlich ist!
Weit mehr erzeugt die Leidenschaft in klugen Fraun
Nichtswürdigkeit; dagegen eine Alberne
Beschüzt vor Thorheit eben ihr beschränkter Sinn.
Bei dieser Tirade muss man zwar io Abzug bringen dass nach
dem Plane des Stacks Hippolytos einseitig ungerecht und ver-
letzend sein muss, damit Phädra ein gewisses Recht erhalte ihre
Liebe zu ihm in Hass und Rachgier zu verwandeln; nichtsdesto-
weniger zeigt die ganze Art und der Umfang dieser Ausführung,
so wie die Vergleichung mit vielen andern gelegentlichen Aeus-
serungen in demselben Sinne, dass der Dichter diesen Gegenstand
wirklich con amore behandelt hat. Diese Erscheinung erklärt sich
uns zunächst aus einer Verstimmung gegen das ganze Geschlecht,
herbeigeführt durch unangenehme persönliche Erfahrungen. Euri-
pides war ein Bücherwurm und ernsten, verschlossenen Wesens,
daher für eine oberflächliche Frau , wie sie damals in Athen alle
waren, wenig anziehend, und in Folge dessen in der Ehe unglück-
lich. Von seiner ersten Frau trennte er sich wegen ihrer Untreue,
und als er sich dann wieder verheiratete gieng es ihm nicht viel
besser. Dieses Geschick aber lässt des Dichters Abneigung gegen
das ganze weibliche Geschlecht nicht nur als individuell ver-
zeihlich erscheinen, sondern es zeigt auch deren theilweise Be-
rechtigung: die Frauen des damaligen Athen lieferten ihren Ver-
ächtern selber den Stoff zu ihrer Anklage. Dabei aber fiel freilich
der grösste Theil der Schuld auf das Geschlecht der Männer.
Von Kindheit an zurückgesetzt, in ihrer Erziehung verwahrlost,
Euripides Aristophanes. 71
vom Manne nicht viel höher geachtet als eine Sklavin, woher
hätten sie den innern Halt haben sollen um dem sie umwogenden
Zerfall der Sittlichkeit NViderstand zu leisten? Ihre Fehler und
Sünden sind nur ein Symptom der allgemeinen Verderbniss, welche
nicht durch sie, die willenlosen, unterdrückten, herbeigeführt
war, sondern ausschliesslich durch die Männer« und erst von
diesen aus auch auf sie übergieng. Alle Vorwürfe welche die
Männer dieser Zeit ihnen machen fallen daher in ihrem letzten
Grunde auf diese selbst zurück , zwar nicht immer auf den Ein-
zelnen, aber doch auf sein Geschlecht, und nicht auf die lebende
Generation allein, sondern auch auf die vorausgegangenen.
Durch diese Erwägung haben wir einen Standpunkt gewonnen
auf welchem die Schmähungen mit welchen insbesondere die
Dichter der attischen Komödie das weibliche Geschlecht über-
schütteten für uns ihren Stachel verloren haben und uns zu
Zeugnissen geworden sind von der sittlichen Versunkenheit der
ganzen Zeit, zu Beweisen dass die Männer noch sittenloser
waren. Indessen wird der Leser nach näheren Mittheilungen über
diese Schmähungen nicht verlangen wenn ich sage dass einen
der Anklagepunkte — und noch nicht einmal den allerschlimmsten
— die Trunkliebe der Frauen ausmacht. Nur Zweierlei will ich
hervorheben. Einmal dass es auch bei diesen Dichtern weder an
Vertheidigungen der Frauen fehlt, noch an der Anerkennung der
Thatsache dass diese immer noch entschieden besser sind als
die Männer dieser Zeit. So lässt Aristophanes eine Frau sprechen:*)
Zwar schimpfen sie all auf das FraueDgeschlecht und setzen es
schmählich herunter.
Wir seien, so lügt man, der Fluch der Welt, und der Urquell alles
Verderbens;
Wir gebären nur Hass , Zank , Kummer und Noth und Empörung und
Krieg. — Nun, wohlan denn:
Wenn ein Fluch wir sind, warum freit ihr uns denn? warum, wenn
wir wirklich ein Fluch sind?
Was verbietet ihr uns auf die Strasse zu gehn, ja nur aus dem
Fenster zu gucken?
Was bemüht ihr euch denn mit so ängstlichem Fleiss zu hüten den
Fluch und zu halten?
Kaum gucken einmal wir zum Fenster heraus, will Jeder den Fluch
sich betrachten,
Und zieht man verschämt sich ein bischen zurück, da gafifen sie nur
noch verrückter,
*) Tbesm. 800 flf. nach L. Seeger's Uebersetzung.
72 Die Frauen in der griechischen Poesie.
Ob der Fluch nicht wieder am Fenster erscheint! — Und was sehn
wir aus Allem? — Wir seien
Viel besser denn ihr! Und wir können's sogleich euch unter die Nase
beweisen.
Was denn dadurch bewerkstelligt wird dass eine Reihe von
lebenden Personen beiderlei Geschlechts einander gegenüber-
gestellt und mit einander verglichen wird. — In einem andern
Stücke lässt der Dichter , weil die Männer durch ihre Thorheiten
den Staat in Krieg und Verderben gestürzt haben, und mit allen
ihren Versuchen herauszugelangen sich nur immer tiefer darein
verwickein , nun endlich die Frauen die Sache zur Hand nehmen :
Wir ertrugen es stets in der vorigen Zeit und im Jammer des Krieges
geduldig,
Sittsamer Natur, wie wir Frauen nun sind, wie immer ihr Männer es
triebet.
Nicht durften wir mucksen, so hieltet ihr uns! Und gewiss nicht
wart ihr zu loben.
Wir bemerkten es wohl und besorgten Gefahr, und da kam denn,
wenn wir zu Hause
Still Sassen, zu Ohren uns oft wie verkehrt ihr die wichtigsten Dinge
behandelt.
Da fragten wir wohl euch, im Herzen betrübt tief innen, doch lächehi-
den Mundes:
Was habt ihr im Rathe des Volks heut früh nun wegen des Friedens
beschlossen?
„Was kümmert das dich? Ich rathe dir, schweig!** gab brummend
der Mann mir zur Antwort.
Nicht lange y so hörten wir wieder, ihr habt noch verkehrtere Dinge
beschlossen.
Und so fragten wir wieder: Nein, sage mir. Mann, was macht ihr
für dumme Beschlüsse?
Da sah er mich an von der Seit* und begann: „Wenn du nicht
bleibst ruhig beim Webstuhl,
Dann setz* ich zurecht dir den störrigen Kopf; denn der Krieg ist
Sache der Männer!**
Doch trifift er uns Fraun nicht weit mehr noch? Sind wir nicht
Mütter der Krieger?
Und während wir sollten des Lebens uns freun und die Tage der
Jugend gemessen,
Da werden zu Wittwen vom Krieg wir gemacht. Und wären nur wir
so verlassen!
Doch die Jungfern zu sehn die im Kämmerlein still hinaltern, das
schmerzt mich noch bittrer.
Wenn der Mann auch kommt als Graukopf heim, — er erkiest sich
ein blühendes Mädchen;
Alte und neue attische Komödie. 73
Doch des Weibes Loos ist ein flüchtiger Lenz, und verpasst sie die
Tage der Blüte,
Kein Mann mehr will sie zur Ehe; sie sizt und legt sich auf Träum'
und Orakel.*)
Das Zweite worauf ich in Bezug auf die attische Komödie
aurmerksam machen wollte ist dass auch auf diesem Gebiete /wie
auf dem der Lyrik ^ die Bedeutung der Frauen für die Literatur
in umgekehrtem Verhäitniss zu der des öffentlichen bebens zu-
nimmt. Wie das Liebesgedicht eine Sumpfpflanze ist und nur da
zu üppigem Wüchse gedeiht wo das geistige Leben erstorben
ist, in einer verkommenen, mattherzigen Zeit, welche die Energie
des WoUens und die Fähigkeit des Handelns eingebüsst hat, so
nehmen umgekehrt auch die Anfeindungen des weiblichen Ge-
schlechts in dem Masse an Häufigkeit und Bitterkeit zu als das
öfl'entliche Leben aufhört für den Dichter ein Gegenstand der
freien Besprechung und Kritik zu sein. Diess lässt sich schon
innerhalb der Dichterlaufbahn des Aristophanes verfolgen. Während
er in einem seiner früheren Stücke sich noch zum Ruhme an-
rechnet dass er Weiber nicht zur Zielscheibe seiner Komödie
mache (Frieden 751), fmden wir in seinen späteren Stücken
diesen Stoff in grösster Ausdehnung ausgebeutet, ja er bildet all-
mählich neben der Literatur den Hauptgegenstand derselben. Und
je trüber sich fortwährend die politischen Verhältnisse von Hellas
gestalteten, desto ausschliesslicher zog sich die Komödie auf das
Privatleben zurück, bis dieser Kreis in der sogenannten neuen
attischen Komödie, der Mutter unseres bürgerlichen Schauspiels,
mit Bewusstsein zur eigentlichen und einzigen Aufgabe für den
komischen Dichter gewählt wurde.
Liebesintriken treten nun hier in den Vordergrund, abef
in einer sehr eigenthümlichen Gestalt. Im Zusammenhang mit
Verhältnissen die zu den tiefsten Schäden des hellenischen Lebens
gehören, standen einander namentlich in Athen zwei Klassen von
Frauen gegenüber: die sittsamen, aber wenig gebildeten und fast
in orientalischer Abgeschlossenheit gehaltenen freigeborenen Töchter
und Frauen, und andererseits die in allen Künsten unterrichteten,
oft geistreichen , gewöhnlich reizenden , immer aber leichtfertigen
freigelassenen Mädchen. Dass man nur die zweite Klasse lieben
und nur die erste heiraten könne wurde nun ein so fest stehen-
der Satz dass auf ihm der grösste Theil der Verwicklungen in
^) Lysistr. 486 ff. 565 ff. nach L. Seeger^s Uehersetzung.
74 Die Frauen in d^r griechischen Poesie.
jener neuen attischen Komödie beruhte. Liebe und Ehe stehen
hier ganz regelmassig im Verhältniss des Gegensatzes: die Liebe
ist hier eine Schwäche, eine Leidenschall, wie jede andere, und
ihre Ueberwindung Pflicht und Gewinn, die Ehe dagegen ein
Vertrag bei dem man, wie bei jedem andern, möglichst auf seinen
Vortheil denken muss. Bei dieser Sachlage und bei der ganzen
Blasiertheit dieser Zeit kann es uns nicht verwundern dass in der-
selben Aeusserungen der Geringschätzung und Abneigung gegen
das weibliche Geschieht ganz stehend sind; zugleich aber werden
wir darin nur eine Bestätigung des Satzes finden, den wir über-
haupt als das Schlussergebniss dieser Darlegung betrachten dürfen,
des Satzes, dass der Grad der Achtung in welcher die Frauen
stehen zwar nicht immer bei den Einzelnen — denn hier wirken
mancherlei Zufälligkeiten mit — aber doch im Ganzen einer
Zeit den Hassstab ihrer Sittlichkeit bildet. Und diess einmal sofern
die Achtung vor ihnen auf ihrer eigenen Achtbarkeit beruht;
denn vermöge ihrer grösseren Bestimmbarkeit durch die öffentliche
Meinung sind die Frauen ein treuerer Spiegel dessen was in
einer Zeit als erlaubt gilt, und durch ihre feinere Besaitung über-
haupt den Einwirkungen des in der Luft liegenden Geistes mehr
ausgesetzt als der Mann, der sich aus sich selbst heraus be-
stimmt, und nöthigenfalls auch im Gegensatze und Kampfe mit
seiner Zeit und Umgebung. Anderntheils bemisst sich die Sittlich-
keit einer Zeit nach dem Verhältniss der beiden Geschlechter
auch in sofern als in der Frau der Mann sich selbst achtet, und
dadurch dass er das Wesen und die Bestimmung der Frau 6del
auffasst seine eigene Richtung auf das Edele bethätigt. Schon
.darum bildet das Germanenthum , das in der Anerkennung der
sittlichen Gleichberechtigung beider Geschlechter mit dem Christen-
thum zusammentraf, gegenüber vom Hellenismus einen Fortschritt
in der Weltgeschichte.
III.
Zur Vergleichung antiker und moderner Lyrik.*)
Wenn wir es unternehmen antike und moderne Lyrik nach
einigen Seiten hin unter einander zu vergleichen, so müssen wir
uns vor Allem klar machen was wir unter beiden verstehen. Bei
der modernen Lyrik macht diess wenig Schwierigkeit, weil der
Begriff des Modernen so eng und der Begriff der Lyrik so weit
ist. Die moderne Literatur überhaupt ist bekanntlich von ziem-
lich jungem Datum. Noch lange über die Mitte des achtzehnten
Jahrhunderts hinaus sehen wir in unserer Literatur ein unsicheres
Uerumtasten nach Formen und Stoffen. Klopstock war der Erste
der in grösserem Massstabe das Gebiet der personlichen Gefühle,
insbesondere der Liebe, für die Poesie zu erobern suchte, und
seine Versuche waren noch sehr schüchtern und ungelenk. Herz-
hafter griff Wieland zu, aber er vergriff sich auch. Erst mit
Goethe und Schiller beginnt eigentlich die moderne Literatur,
nachdem Lessing ihnen durch Wegschaffung des alten Wustes
und Klärung der Atmosphäre energisch vorgearbeitet hatte. Auf
ihren Schultern erhoben sich die Romantiker, aus den Literaturen
aller Zeiten und Völker neue Ideen und neue Formen emsig zu-
sammentragend. Dann weckte die Noth des Vaterlandes in be-
geisterten Männern patriotische Lieder. Seitdem sind die Bahnen
fest vorgezeichnet und geebnet auf denen die Poesie der Gegen-
wart dahinschreitet; kaum eine Richtung lässt sich einschlagen
die nicht schon ihre Vorgänger und ihr Vorbild hätte, und man
sieht wie es oft verzweifelte Anstrengungen kostet um neu zu
sein oder auch nur zu scheinen. So eng sie aber zeitlich be-
*) Vortrag, gehalten im Saale des Königsbaues za Stuttgart, den
10. Biärz 1866, abgedruckt in der deutschen Vierte Ijahrsschrift 1866,
Nr. CXV, S. 269—281.
76 Zur Vergleichung antiker und moderner Lyrik,
grenzt ist, die moderne Lyrik, so weit ist ihr Umfang. Wir
heissen heutzutage Lyrik alle persönlich gefärbte, alle subjective
Poesie , und diese wird in der neuern Literatur immer mehr die
Universalgattung, in deren weiten Räumen alle Stoffe und alle
Formen , ja beinahe auch alle andern Gattungen , bequeme Unter-
kunft ßnden. Die moderneu Lyriker
Singen von allem Süssen was Menschenbrust durchbebt,
Sie singen von allem Hohen was Menschenherz erhebt;
ihr Stoff ist die ganze Welt, Vergangenheit und Gegenwart, die
grossen Vorgänge der Geschichte wie das stille Wehen der un-
belebten Natur, die Freuden und Schmerzen der Menschenbrust
und das Ringen des Menschengeistes nach Licht und Wahrheit.
Und die Manchfaltigkeit der Formen ist fast unabsehbar, wenig-
stens in der deutschen Literatur; denn bei dem Reichthum und
der Biegsamkeit unserer Sprache gibt es kaum eine Form aus
irgend welcher Zeit oder irgend welchem Volke welche der Nach-
bildung unerreichbar wäre. Aber auch in die andern Gattungen
hinein treibt die Lyrik ihre Wurzeln; nicht nur dass sie dem
Epos seine ansprechendsten Stoffe entnimmt, um sie zu Balladen
und Romanzen zu verwenden : auch mit dem Drama wagt sie sich
zu messen; oder ist nicht Goethe's Zauberlehrling z. B. ein
Drama im Kleinen? Ganz anders verhält es sich In beiden Be-
ziehungen mit der antiken Lyrik. Wenn die Flüssigkeit der
modernen Lyrik fast an Verschwommenheit streift, so hat dagegen
die antike nach allen Seiten hin feste Grenzen, zwar nicht so
.starre dass sie nicht durch geniale Dichter ausgeweitet werden
könnten, aber fest genug um dem einzelnen Dichter wie einen
sichern Halt zu gewähren so andererseits den Gesichtskreis ein
wenig einzuengen. Schon in der zeitlichen Existenz der gesamm-
ten Lyrik wie ihrer einzelnen Arten tritt diese feste Begrenzung
zu Tage. Es ist eine Eigenthumlichkeit der hellenischen Poesie
— und an diese muss vorzugsweise gedacht werden, wenn von
antiker Poesie die Rede ist, da das was die Römer Originales
geleistet haben wenig ins Gewicht fällt — dass ihre Entwicklung
mit der ganzen Stetigkeit und Regelmässigkeit eines Naturgebil-
des vor sich gent, ein Zweig um den andern hervortreibt an
dem Baume der Literatur. Von den grossen Gattungen tritt
keine eher ins Leben als bis ihre Vorgängerin das ihrige voll-
endet hat. Erst wie das Epos am Ende seiner Entwicklung ange-
Allgemeiner Charakter. 77
•
kommen ist entsteht die Uebergangsform der Elegie; die eigent-
liche Lyrik (Melik) taucht erst auf wie die Elegie in allem Wesent-
lichen fertig ist; und me das Drama beginnt, so verzichtet die
Lyrik auf Portsetzung ihres eigenen Daseins und lebt nur in
Unterordnung unter die neue Gattung fort, als das Lied des
tragischen oder des komischen Chors. Ebenso sind die Haupt-
arten der Lyrik nicht nur zeillich sondern sogar räumlich ge-
schieden und an verschiedene Stämme verlheilt. Die kriegerisch
organisierten, in compacten aber ivohlgegliederten Massen sich
bewegenden Dorier entwickeln aus sich das Chorlied, wo der
Beitrag des Einzelnen untergeht in der Leistung des Ganzen;
dagegen bei den Aeoliern und loniern, wo der Einzelne in un-
gehemmter Freiheit sich bewegt, ersteht die individuelle Lyrik.
Durch dieses Sachverhältniss ist auch dem einzelnen Dichter im
Voraus der Kreis für seine Wirksamkeit unabänderlich gezogen,
und er gewinnt dadurch Sicherheit der Bewegung innerhalb der
genau bekannten Schranken, Virtuosität in dem Gebiete das er
sich zur Lebensaufgabe gewählt; und die Technik der einzelnen
Gattungen erlangt eine Feinheit und Strenge wie sie nur unter
solchen Umständen möglich war. In Folge dessen nahm die
Dichtweise des Einzelnen leicht einen typischen Charakter an, die
landschaftlich Zusammengehörigen zeigen ein gemeinsames Gepräge,
wie Alkäos und Sappho, Stesichoros und Ibykos, Simonides und
Bakchylides; ja es bildeten sich Dichterschulen, wo ein Meister
jüngere Genossen die Kunst des Liedes lehrte. Denn eine Kunst
war im Alterthum das Dichten, und der Dichter vor Allem ein
Künstler, der zwar einen weniger spröden Stoff bearbeitete als etwa
der Bildhauer, aber für seine Gebilde der künstlerischen Be-
sonnenheit und Ausdauer nicht viel weniger bedurfte als dieser,
und der auch nicht leicht aus den Augen verlor dass seine
Schöpfungen dazu bestimmt seien von Andern gesungen zu werden
und ihnen als geistige Nahrung zu dienen. Dieses wesentlich
künstlerische Verhalten des antiken Dichters hängt selbst wiederum
mit zwei Thatsachen zusammen. Einmal dass jeder Dichter zu-
gleich sein eigener Tonsetzer war. Die Noth dass ein Lied,
wenn es der Zufall will, sein Leben lang ohne die zu ihm gehörige
musikalische Hälfte bleibt, und dass umgekehrt von Schaffensdrang
erfüllte Tonsetzer vergeblich nach Texten schmachten worein sie
ihre musikalischen Ideen niederlegen könnten, eine Noth von der
uns Mendelssohn's. Briefe so rührende Beweise liefern, diese
78 Zur Vergleichung antiker und moderner Lyrik.
kannte das Alterthnm nicht. Das Lied kam mit seiner MeloiUe
gleich zur Welt» und in dem antiken BegrifTe der Musenkunst
waren diese beiden Seiten ganz unzertrennlich beisammen. Der
andere Umstand ist die Wichtigkeit welche in der antiken Poesie
die äussere Form hat. Sie ist es hauptsächlich welche die ein-
zelnen Gattungen und Arten von einander scheidet, welche die
eigentliche Lyrik, d. h. Melik, abgrenzt, nicht nur gegen Epos
und Drama , sondern ebenso sehr auch gegen die Elegie und den
lambos. Die Strenge in der Reinhaltung der Form gieng so weit
dass sie sich sogar auf scheinbar Zufälliges erstreckte, wie den
Dialekt. So war die Elegie ursprünglich eine Schöpfung des
ionischen Stammes, somit von Anfang an im ionischen Dialekt
gehalten ; wenn daher ein Dichter aus anderem Stamme Elegieen
verfasste, so that er es im ionischen Dialekt. Ebenso ist die
Chorlyrik, wie gesagt, auf dem Boden des dorischen Stanunes
entsprossen; wenn daher der attische Dichter in seine Dramen
ein Chorlied einflocht, so vergass er niemals es mit dorischen
Formen auszustatten. Mag hievon auch viel auf Rechnung der
Pietät für alles Conventionelle und Traditionelle zu setzen sein,
so liegt jener Auffassung doch hauptsächlich die Ansicht zu Grunde
dass die Schöpfungen des dichtenden Künstlers Individuen sind,
die man nicht beliebig in dieses oder jenes Gewand kleiden
kann, Organismen, welche zu ihrem Gedeihen den heimischen
Boden und den heimischen Himmel verlangen.
Diese Grundverschiedenheit der beiderseitigen Ausgangspunkte
und Lebensbedingungen legt die Gefahr nahe dass wir Ungleich-
artiges vergleichen und in Folge dessen unsere Vergleichung un-
gerecht und schief wird. Um dieser Gefahr zu entgehen, müssen
wir erstens auch für das Alterthum den Kreis der Lyrik so weit
ziehen als ihn die moderne Welt auffasst und somit die Chorlyrik
so gut wie die Einzelmelik berücksichtigen und auch die Elegie
und den lambos. um ihren lyrischen Gehalt befragen. Sodann
müssen wir auch die Zeitgrenzen wenigstens in so. weit an-
nähernd gleich machen dass wir bei dem Alterthum uns auf die
klassische Zeit der Hellenen beschränken und nur beiläufig der
Vergleichung wegen diese Grenze zu überschreiten uns erlauben.
Endlich muss sich unsere Vergleichung vorzugsweise an die beider-
seitigen Stoffe halten , da die Form schon durch die Verschieden-
heit der Sprachen und das Fehlen des Reims in der antiken
Lyrik der einfachen Gegenüberstellung widerstrebt.
]
Allgemeiner Charakter. 79
Auch so noch bleibt freilich eine sehr grosse Ungleichheit,
welche zu beseitigen aber leider nicht in unserer Macht steht.
Während nämlich die Erzeugnisse der modernen Lyrik auf Weg
und Steg uns begegnen, und oft in glänzendem und lockendem
Gewände uns umschwärmen, so haben wir von der antiken Lyrik,
den einzigen Plndar ausgenommen, nur Trümmer. Es. ist um-
sonst dass wir gern so manches Gleichgültige, Fade und Geschmack-
lose hingäben was uns aus dem Alterthum erhalten ist, um dafür
ein Buch Lieder zu erkaufen von einem Heister ersten Ranges^
wie Archilochos, von welchem ein stimmfähiger alter Kritiker
urteilt dass es nur an seinem Stoffe liege wenn er nicht der
absolut Erste unter allen Dichtern der Hellenen sei. Auch von
so grossen Künstlern wie Alkman und Stesichoros, wie Alkäos,
Sappho und Anakreon, wie Ibykos und Simonides aus Keos,
haben wir nur kümmerliche Ueberreste, die wir hauptsächlich
alten Schulmännern verdanken, welche aus jenen Liedern theils
Sprüche der Lebensweisheit excerpierten, theils für ihre sprach-
lichen Bemerkungen und Regeln aus ihnen Belege entnahmen.
Und nicht blos blinder Zufall hat hier an dem Werke der Zer-
störung gearbeitet , sondern theilweise auch noch blinderer Fana-
tismus, wie wir aus der byzantinischen Zeit wissen dass hier
namentlich die Gedichte des Archilochos, weil sie der ethischen
und religiösen Orthodoxie allzu unverdaulich erschienen, plan-
massig verfolgt und vernichtet wurden. Diese Sachlage müssen
wir uns vergegenwärtigen, wenn etwa die Ausbeute aus den
alten Lyrikern nicht so reichlich ausfallen sollte als wir wohl
erwarten, und wenn die Beschaffenheit der Proben vielleicht
nicht immer ganz im Verhäitniss steht zu dem traditionellen
Rufe welchen diese Dichter geniessen und auch verdienen; denn
obwohl so wenig von ihnen auf uns gekommen ist und keines-
wegs gerade ihr Bestes, so legt doch das Erhaltene, selbst in
seiner traurigen Zertrümmerung, noch oft genug lautes Zeugniss
ab von der einstigen Kühnheit und Pracht dieser künstlerischen
Gebilde.
Betrachten wir nunmehr die hauptsächlichsten Stoffe der
Lyrik. Unter diesen nimmt die äussere Natur in der antiken
Lyrik theils keine so hervorragende Stellung ein wie in der
modernen, theils ist die Auffassung derselben dort eine andere
als hier. Das Verhäitniss des modernen Menschen zur Natur ist
überwiegend das des Gegensatzes. Mögen einzelne weichere Ge-
80 Zur Vergleichung antiker tnjd modemer Lyrik.
m
muter sich auf sioniges Nachempfinden der Stimmungen der
äussern Natur beschränken, im grossen Ganzen besteht für das
moderne Bewusstsein zwischen Natur und Geist eine Kluft und eine
Spannung. Wir sind von der Natur weit abgekommen, sie ist uns
fremd und fern geworden, wir liegen mit ihr im Kampfe, wir
wollen sie uns unterwerfen, und empfinden ihren Widerstand als
Auflehnung. Aber dieses Grundverhältniss spiegelt sich in den
verschiedenen Dichtercharakteren in verschiedener Weise. Den
Einen schmerzt unser Abfall von der Natur, er sehnt sich nach
ihr zurück als nach einem verlorenen Paradiese; im Gegensatze zu
dem wirren Wogen des Menschenherzens, seinen trüben Leiden-
schaften und Kämpfen empfindet er die Natur als die ewig Reine
und erquickt sich an ihrem stillen Frieden , und richtet sich auf
an dem Anblick ihrer Herrlichkeit. Ein anderer, der die Brust
voll unendlicher Gefühle in sie hineintritt, erhebt laute Klage,
dass sie ihm keine Antwort gebe auf seine Fragen, keinen Trost
spende in seinen Schmerzen, und ungerührt von all dem Weh
des Menschenlebens starr und kalt und herzlos ihre ewige Bahn
weiter wandle. Ein drittes Verhalten ist dass der Mensch in
titanenhaftem Stolze sich ihr gegenüberstellt und dem tobenden
Sturme zuruft: mich beugst du nicht, und zur Sonne am Firma-
mente spricht: ich bin mehr als du. Im Unterschiede Ton diesem
modernen Idealismus und Spiritualismus fühlt der antike Mensch,
weil das specifisch Geistige in ihm noch nicht so reich entwickelt
ist, sich als wesentlich gleichartig mit der Natur, sich selbst
als ein Naturprodukt, ein Naturkiiid, und die Natur als Seines-
gleichen, als belebt und beseelt wie er. Es besteht zwischen
beiden ein Verhältniss herzlicher Freundschaft: die Natur reicht
dem Menschen willig ihre besten Gaben und findet es ganz in
der Ordnung dass er Alles was sie hat als sein eigen behandelt;
und der Mensch widmet ihr aufrichtige Theilnahme, es ist ihm
wohl zu Mute in ihrer Nähe, er blickt mit inniger Freude in
ihre schönen Züge, er verfolgt mit hellem Auge alle ihre Ge-
stalten und Wandlungen, und er legt sich sterbend vertrauensvoll
ihr in die Arme. Dieses Verhalten kommt zu seinem Ausdrucke
wie in den religiösen Vorstellungen und dem praktischen Leben
so auch in der Literatur der Alten, insbesondere ihrer Lyrik.
Von den religiösen Vorstellungen gehört hieher das Personificieren
von Gegenständen der Natur, wie Quellen, Bäume, Pflanzen,
und der Glaube an ein Ineinanderfliessen der verschiedenen Ge-
Verhalten zuf Natur. 81
«
biete, wie er in den Mythen von Verwandlungen uns entgegen-
tritt. Im Leben zeigte sich dieses Verhalten unter Anderm auch
in einer gewissen Brüderlichkeit gegenüber von den Thieren,*)
so dass Plalon**) sogar die Behauptung aufstellt, in Athen seien
auch die Pferde und Esel von dem allgemeinen demokratischen
Gleichheitsgefühle ergrilTen und gehen trotzig ihre Strasse, das
Ausweichen Andern überlassend. In der Literatur hat uns diese
Stellung zur Natur eine Fülle feiner und sympathischer Beobach-
tungen des Pflanzen- und Thierlebens verschafft. Schon bei
einem der ältesten hellenischen Meliker, bei Alkman, finden sich
überraschende Proben solchen Naturgefühls, obwohl noch in
epischer Breite der Ausführung, wie z. B.***) in folgender
Schilderung der Nacht:
Schlummernd liegen die Gipfel der Berge und die Schluchten,
Hügel insgesammt und Klüfte,
AUe die Schaaren so kriechen umher auf dunkler Erde,
Thiere des Hochwalds und der Bienen fleissig Völklein,
Die Ungethüme in dem Schoos des hlauen Meers,
Schlummernd auch der Vögel fittiggewandtes Geschlecht.
Oder wenn der vom Alter schwerfällig gewordene Dichter sich
wünscht dass er ein Meervogel (xflQvlog) wäre und sorglos über
die Fläche des Meers hinflattern könnte : f )
Nimmer, ihr Mädchen mit lieblicher Stimm* und holdem Gesänge,
Mögen die Kniee mich tragen; o dass ich ein Kerylos wäre,
Welcher am Saume des Meers dahin mit Alkyonen flattert,
Frei von Sorg* in der Brust, er der Vogel des goldenen Lenzes.
Ganz besonders aber bei Sappho begegnen wir verhältnissmässig
zahlreichen Beweisen zarten Verständnisses für das stille Weben
der Pflanzenwelt. So klingt Mitleid mit der misshandelten Blume
hindurch wenn sie singt:
Wie auf dem rauhen Gehirg Hyakinthen von weidenden Männern
Werden mit Füssen getreten, zu Boden die glänzende Blüte.
*) Vergl. Plutarch Cato maj. 6 und meinen Commentar zu Horaz
Satiren II, I, 20. S. 19 f.
**) Staat VIII. p. 563 C.
***) Fragm. 44 = 53 der lyrici graeci von Bergk. Die üeher-
setzungen rühren, wo nicht etwas Anderes ausdrücklich bemerkt ist,
von dem Verfasser selbst her.
t) Fragm. 13 = 21 bei Bergk.
Teuf fei, Studien. 0
82 Zur Vergleichung antiker und moderner Lyrik.
Oder:
So tanzten dereinst, kundig des Tacts, mit zartem
Fuss Töchter des Lands rings um den holden Altar,
Nnr sanft auf das Haupt tretend des Rasens Blumen.
Und gewiss eine anmutige Vergleichung ist es deren sie sich in
einem Hochzeitliede von der Braut bedient:
Wie rothwangig der Apfel erglänzt an dem obersten Aste,
Hoch an dem obersten oben, er ward beim Brechen vergessen,
Nein, nicht ward er vergessen, jedoch war nicht zu erreichen.
EI)enso ist voll Anschaulichkeit die Schilderung:
Kühlung rauscht ringsum in des Apfelbaumes
Zweigen, von den schwankenden Blättern fliesset
Schlummer hernieder.
Auch für die eigenthiimliche Stimmung eines Waldes , einer Quelle
zeigen die hellenischen Dichter und insbesondere die Lyriker ein
sicheres Verständniss; sie fühlen und schildern lebhaft das Weh-
mütige, das in den lauggezogenen Tönen der Nachtigall liegt,
die mütterliche Fürsorge der Vögel für ihre Jungen , ihre Angst
wenn ein Raubvogel sich dem Neste naht, und gar nicht selten
sind in allen Literaturgattungen Wendungen wie dass die Rebe
den Arm schlingt um die Pappel,*) dass die Platane zärtlich
flüstert mit der Ulme,**) dass die Cypressen einander erzählen
von dem Liebesglück eines jungen Paares.***) Doppelt innig
aber ist das Verhältniss zu denjenigen Naturgegenständen welche
die gewöhnliche Umgebung des Menschen bilden, welche die trauten
Gespielen seiner Kindheit waren, die mit ihm gross geworden
und ihm ans Herz gewachsen sind, zu der Natur seiner Heimat.
So sind die letzten Worte des zum Tod entschlossenen Aias ein
Abschied von der Heimat:
O Licht, 0 Heimatserde, heiiges Salamis,
O Schwelle meines Vaterherds, o stolze Stadt
Athen, und ihr Genossen meiner Jugendzeit,
Ihr Flüsse dort und Quellen, — lehet wohüf)
So bietet selbst ein attischer Redner, der ernste Lykurgos, am
Schlüsse seiner Rede, „das Land und die Bäume'' auf, dass sie
die Geschworenen anflehen sie nicht unbeschützt und ungerächt
♦) Ion Fragm. el. 1,4 ff.
♦♦) Aristoph. Wolken 1008.
♦*♦) Theokrit Id. XXVII, 56.
f) Soph. Ajas V. 859 ff., nach der Uobersetzung von Minckwitz.
Verhalten zur Natur, 83
zu lassen. Das schönste Denkmal dieses Heimatsgefuhls aber ist
das berühmte Cborlied in Sophokles' Oedipus auf Kolonos, wo
es unter Anderm heisst:"*)
Fremdling, staune die schönste Fhir
Unter Attika's Himmel an: Kolonos*
Glanzvoll helles Gefild, woselbst
Nachtigallen im Silherton,
Zahlreich nistend in grünen Hags
Waldnacht, seufzen und klagen.
Prachtvoll unter des Himmels Than
Siehst du, jeglichen Morgen neu, Narkissos
Blühn, an prangenden Trauben reich,
Siehst goldglänzenden Erokos blühn.
Stolz ausbreitet sich hier über das Land, schwellend und üppig,
Wild fortwuchernd, der hochheilige Oelbaum,
Welcher des Feinds Lanze zurückscheucht
Und dessen Zweig kränzt des Knaben Wiege.
Diese kindliche Unmiltelbarkeit im Verhalten zur umgebenden
Natur, wie es das klassische Allerthum und seine Literatur charak-
terisiert, bringt es auch mit sich dass im Allgemeinen die Schrift-
steller nicht viel reden von den Eindrücken welche die Natur
auf sie macht; nichts liegt ihnen ferner als ihre Empfindungen
darüber im Spiegel zu besehen und Andern zu beschreiben. Erst
bei den Römern, mit dem Beginne der Kaiserzeit, tritt an dessen
Stelle ein reflectierteres, dem modernen ähnliches Verhalten.*'^)
Als die Gegenwart trübe, die Verhältnisse des Lebens über-
künstlich, verwickelt und schwierig geworden waren, da erst
erschien manchem weichgeslimmten Dichter die Natur mit ihrer
Einfachheit und ewig gleichen Noth wendigkeit als ein Ideal, nach
dem er mit schmerzlicher Sehnsucht die Arme ausstreckte und
das doch bei jedem Schritte mit dem er sich ihm zu nähern
suchte immer weiter zurückwich, weil es nichts war als der
Schatten den sein eigenes Innere vor sich her warf.
Wenden wir uns fernef von der äussern Natur - zum
Menschenleben, so ist hier wiederum der moderne Dichter
sehr im Vortheil gegenüber von dem antiken. Dem modernen
steht die geistige Errungenschaft von Jahrtausenden zur Ver-
*) V. 669 ff. nach Minckwitz.
**) AehnUch schon auf griechischem Boden in der Zeit des Helle-
nismus, s. W. Heibig, Rhein. Mus. XXIV. S. 614 ff.
6*
84 Zur Vergleichung antiker und modemer Lyrik.
fügung; die so unendlich erweiterten und vertieften Anschauungen
und Gedanken der neuern Zeit sind der reiche Born woraus ihm
Anregung und Stoff in Fülle zuströmt. Die antike Weltanschauung
dagegen beschränkt sich auf die wesentlichen Grundbestimmungen
menschlichen Daseins, die ewiggleichen, unwandelbaren, die älter
sind als das Menschengeschlecht und es überdauern werden. Diese
Beschränkung bewirkt bei dem antiken Dichter eine gewisse Enge
und Einförmigkeit des Gesichtskreises, aber sie verschafft zugleich
den von ihm ausgesprochenen Gedanken eine Geltung die an
keine Schranke der Zeit und der Nation gebunden ist. Hier ist
es vor Allem der Fundamentalsatz von der Vergänglichkeit aller
menschlichen Herrlichkeit, von der Kürze des Lebens und der
Wandelbarkeit irdischen Glückes, der in tausend Variationen durch
die ganze antike Literatur sich hindurchzieht und ihr eine resig-
nierte, wehmütige Grundiarbung verleiht. Von Homer*) bis zu
dem spätesten Erzeugniss des Alterthums, den Liedern in der
Weise des Anakreon, wird dieses Thema unermüdlich abgehandelt,
und als Folgerung daraus gezogen bald die Mahnung zum Mass-
halten in Freude und Schmerz, bald auch die Aufforderung zum
Genüsse des Lebens so lange man es hat, zum Auskosten der
Stunde die man sicher sein eigen nennen kann. Die erstere
Richtung, die Mahnung zu einem gedämpften Milteltone des Lebens,
vertritt unter den Lyrikern hauptsächlich ein Dichter welcher
selbst vergebens darnach rang, der energische, immer kampf-
bereite und doch dabei innerlich unglückliche Archilochos, wenn
er sich zuruft:
Herz, mein Herz, von Qual und Sorgen ruhelos umhergehetzt,
Harre standhaft aus und kühnlich wirf entgegen deine Brust;
Neben deinen Feinden schlage herzhaft deine Wohnung auf,
Und wenn dir der Sieg zu Theil wird juble weder überlaut.
Noch wenn du besiegt wirst falle weinend nieder in dem Haus;
Sondern in der Freude freu* dich und im Unglück sei betrübt
Nie im Uebermass, bedenkend was der Gang des Lebens ist.
Für die andere , weichmütigere Folgerung mag Mimnermos Wort-
führer sein, in dessen Elegieen der Schmerz um die kurze Dauer
der Jugend und Schönheit bis ins Weinerliche geht. So sagt
er z. B.
*) Ilias VI, 146 ff.: Gleichwie der Blätter Geschlecht, so sind die
Geschlechte der Menschen u. s. w.
1
Verhalten zum Menschenleben, 85
Wir sind ähnlich den Blättern, geweckt vom blumengeschmückten
Lenze, wenn kräftiger wird wieder des Helios Strahl.
Also laben wir uns an den Blüten der Jugend die kurze
Spanne von Zeit, was Gott Gutes und Schlimmes bescheert
Nicht noch wissend; dabei stehn aber die finsteren Keren,
Bringend die eine das Ziel traurigen Alters daher.
Jene den zeitigen Tod. Ein Weilchen bestehet der Jugend
Frucht, so lang wie das Licht über die Erde sich giesst.
Aber sobald diess Ziel in dem Laufe des Lebens erreicht ist,
Dann ist Sterben sogleich besser denn längeres Sein.
Denn viel Uebles begibt dem Gemüte sich; keiner der Menschen
Lebte noch dem nicht Zeus Leiden in Menge verlieh.
Dagegen der resolute lebensfrohe Alkäos meint:
Man muss das Herz nlcbt hängen ans Ungemach;
Es hilft ja nichts doch falls wir uns härmen ab ,
O Freunde, und der beste Balsam
Ist in dem Weine sich froh bezechen.
Diese ganze Anschauungsweise vom Leben fuhrt in ihrem letzten
Ziele zu dem im Alterthum oft ausgesprochenen Satze, dass es
sich eigentlich gar nicht verlohne ins Leben einzutreten, me
der greise Sophokles einen Chor von Greisen singen lässt:*)
Nicht geboren zu sein , o Mensch ,
Ist das höchste, das beste Loos;
Doch wofern du das Liebt erblickt,
Acht' als Zweites, dahinzugehn
Wieder von wannen du kamst, in Bälde.
Denn betratst du der Jugend Feld,
Das Thorheiten umgaukeln, haust
Nicht ein jeglicher Jammer drin?
Streit, Blutvergiessen , Hader, Kampf,
Hass und Neid; und endlich wartet
Schmachbeladen, mürrisch, einsam,
Krank und schwach das Alter unser.
Das der Uebel
Uebel all' umlagern.
•
Dieses trübselige Ergebniss zeigt dass der Ausgangspunkt ein
unrichtiger war , dass diese Sinnesweise des Lebens wahre Deutung
Dicht getroffen hat. Das Menschenleben ist nicht arm, — wenn
es mit reichem Inhalt sich zu erfüllen versteht und zum Segen
wird für sich und Andere; und das Leben ist nicht kurz> —
wenn es dem Dienste des Unvergänglichen sich weiht, wenn es
*) Oedipus auf Kolonos 1225 ff. nach Minckwitz.
86 Zur Vergleichung antiker und moderner Lyrik.
nicht den kleinen irdischen Zielen nachjagt, sondern seine Auf-
gabe darein setzt ein Theil zu sein und ein Abbild des Ewigen.
Unter den Beziehungen des einzelnen Menschen zu grösseren
Ganzen nimmt billig die erste Stelle ein das Vaterland. Hiebei
müssen wir zweierlei auseinanderhalten. Das Vaterland ist erstens
die Summe der von dem Einzelnen vorgefundenen Lebensbe-
dingungen, der mutterliche Boden aus dem er hervorgegangen
ist, in dem sein ganzes Sein wurzelt und immer neue Nahrung
zieht. In diesem elementaren Sinne besteht das Vaterland nicht
blos aus dem gewohnten Himmel und den Bergen und Thälern
und Triften in denen man als Knabe umhergeschweift, sondern
ganz besonders auch aus Menschen, lebenden wie einst gewesenen,
aus Eltern und Geschwistern und Freunden und Ahnen, an die
man mit lausend Banden gekettet ist, bewussten me unbewussten.
Das Vaterland in diesem Sinne, als Heimat, ist auch von moder-
nen Dichtern viel besungen — ich darf nur an Lenau erinnern
— und im Alterthum ist es die Form in welcher das Vaterland
vorzugsweise empfunden wird. Ablösung von den Wurzeln seines
Daseins empfindet der Einzelne wie Vernichtung seines Daseins,
Verbannung gilt gleich Tod. In den grossen Krisen des Lebens
ist es der Gedanke an die Heimat — oder, wie dieser Begriff
gewöhnlich umschrieben wird, an Weib und Kind, an die Tempel
der Götter und die Gräber der Ahnen — was den Einzelnen be-
geistert, dass er mutig sich in Kampf und Tod stürzt. Je tiefer
aber dieses Gefühl liegt, desto weniger drängt es sich an die
Oberfläche; und in den bedeutendsten Mitgliedern der Nation, die
mit ihrem Geiste weit hinausragen über die kleinen Verhältnisse
ihrer Vaterstadt und die in ihrer Kunst oder ihrem Berufe eine
neue Heimat sich selbst geschaffen haben, wird die Vaterlands-
liebe in dieser instinctiven Form sogar am leichtesten abgeschwächt
und verflüchtigt. Archilochos und Xenophanes irrten heimatlos
umher in Hellas; Ibykos, Anakreon, Simonides^ Bakchylides
ziehen der Sonne der Fürstenhöfe nach ; auch Pindar ist viel von
Hause weg. Desto lebendiger ist das Gefühl der Anhänglichkeit
an die Heimat bei denjenigen Schriftstellern die auf ihrer Vater-
stadt Stellung stolz zusein alle Ursache haben, bei den attischen,
Aeschylos an ihrer Spitze,*) und besonders innig bei Sophokles,
aus dessen Preise seiner engsten Heimat, Kolonos, wir schon oben
♦) Vergl. Eumeniden 916 ff.
Heimat und Vaterland. 87
Proben gegeben haben. Die zweite Seite am Begriffe des Vater-
lands ist die politische. Und zwar ist das Vaterland in diesem
Sinne theils die Gesammtheit der einzelnen Heimaten und Stämme,
zusammengefasst in den Gedanken dos einen grossen Vaterlandes»
der Nation, theils die Summe der politischen Einrichtungen in
denen der Einzelne seine Wirksamkeit entfaltet, durch die er sich
gehemmt oder gehoben fühlt, in denen er seine Ideale verkörpert
oder verzerrt sieht. Das Nalionalgefühl nun ist in dem Hellenen
aufs Schärfste ausgeprägt dem Nichthellenen, dem Barbaren
gegenüber; unter sich aber sind sie vor Allem Athener oder
Spartlaten, Boeotier oder Argiver; standen ja doch nicht einmal
in dem Vertheidigungskriege gegen den persischen Einfall alle
Hellenen auf hellenischer Seite. Die Centrifugalkraft überwiegt
bei ihnen in einem Masse dass Hellas ewig zu politischer Unmaclit
verdammt blieb und bald eine Beute der Römer wurde. Keine
Spur daher von einer eigentlichen Nationallyrik; eine grosse
Schranke für eine solche bildete schon die Verschiedenheit der
Dialekte, von welchen fast ein jeder seine eigene reiche Literatur
besass. Um die Zeit der Perserkriege zwar wurde ein Anlauf
gemacht zu einer gemeinsamen Lyrik. Die Tage der Gefahr und
des Siegs hatten das Gefühl der Zusammengehörigkeit gestärkt,
und in gehobener Stimmung begieng man die festlichen Kampf-
spiele, bei denen Hellenen aller Stämme sich zusammenfanden,
die Agonen zn Olympia und Delphi, auf dem korinthischen Isth-
mos, im Thale von Nemea, und die Sieger in diesen Wett-
kämpfen fanden Herolde ihres Ruhms an Künstlern wie Simonides
und Pindar. Aber wie diese Feste selbst die politische Einigung
der Hellenen nicht bewirkt haben ^ so tritt auch in den durch •
sie veranlassten Liedern der nationale Gedanke kaum jemals zu
Tage, vielmehr beschränken sie sich auf die Verherrlichung der
Person des Siegers, seines Geschlechtes^ seiner Heimat und
ihrer Ciilte. Um so weniger aber fehlt es innerhalb der hel-
lenischen Lyrik an dem eigentlichen politischen Gedichte, und
die Klippen an denen dieses so leicht scheitert sind hier grossen-
theils vermieden. Die politische Lyrik der Modernen sieht sich
in eine schlimme Alternative versetzt: entweder lässt sie die con-
creten politischen Verhältnisse bei Seite, und wird dann g§r zu
leicht verschwommen declamatorisch und phraseologisch; oder sie
geht auf die bestehenden Einrichtungen und bestimmte einzelne
Ziele ein, und hört dann auf Poesie zu sein und muss durch
88 Zur VergleichuDg antiker und modemer Lyrik.
ihre dann unvermeidliche Einseitigkeit ebenso Viele abstossen als
anziehen und wissentlich Verzicht leisten auf einen schonen Vor-
zug echter Poesie, Alle zu erfreuen. Die erstere Gefahr veran-
schaulichen uns die vielen politischen Gedichte Vielehe sich mit
Vorliebe in den Begriffen Tyrannei — Freiheit — Knechtschaft
— Zwingburg — Ketten — Fesseln — Sklaven u. dergl. umher-
tummeln. Wie schwer es ist davon sich ganz frei zu erhalten, möge
ein sonst glänzendes Beispiel uns vergegenwärtigen. Es ist gewiss
sehr schön gesagt und sehr wirkungsvoll, wenn es am Schlüsse
eines bekannten Liedes von Kinkel heisst:
Hier steh* ich, nun zielt I Nun brichst du, o Leib,
Wenn achtzehn Mündungen knallen.
Die Seele, sie braust in den heiligen Chor
Der Freien die vor mir gefallen.
Wir kennen nicht Rast , wir durchstreichen die Welt
In Sonnenschein und Gewittern,
Bis die letzte Zwingburg flammend zerfällt
Und die letzten Ketten zersplittern.
Und doch^ wenn wir, ungeblendet von dem Glänze der Worte
und der Kraft der Sprache, nüchtern uns Rechenschaft zu geben
suchen über die Einzelheiten dieses farbenreichen Bildes, so
werden wir manchfach in Verlegenheit gerathen ; ganz abgesehen
von der Beleuchtung welche die Stelle erhält wenn wir sie ver-
gleichen mit der so sehr ähnlichen und doch so unendlich ver-
schiedenen unsers unvergesslichen Uhland, in der sich dieses
einzigen Mannes ganze Schlichtheit und grenzenlose Uneigennützig-
keit so rührend ausspricht:
Wohl werd' ichs nicht erleben»
Doch an der Sehnsucht Hand
Als Schatten noch durchschweben
Mein freies Vaterland.
Für die andere Gefahr aber, der Einbusse an Poesie, möge
Uhland selber uns Zeuge sein, wenn er klagt:
Einmal athmen möcht' ich wieder
In dem goldnen Märchenreich;
Doch ein strenger Geist der Lieder
Fällt mir in die Saiten gleich.
Diese Klippen nun sind für den hellenischen Dichter von vorn-
herein ungefährlicher gemacht durch die grandiose OelTentlichkeit
aller Verhältnisse, die schrankenlose Redefreiheit und dadurch
geminderte Empfindlichkeit des Einzelnen für öffentlichen Tadel.
Sodann wirkt der in der hellenischen Literatur überhaupt waltende
Politische Poesie. 89
Geist der Ordnung und Sauberkeit auch hier reinigend und ver-
söhnend. P'ur die politische Weisheit wie die poUtiscbe Leiden-
schaft werden alsbald eigene Gattungen abgegrenzt mit beson-
deren Gesetzen, welche die Voraussetzung der ganzen Gattung
bilden, für die Weisheit die Elegie, für die Leidenschaft der
lambos. So fest eingedämmt, können beide ihre Eigenthümlich-
keit zu voller Geltung bringen, ohne Nachtheil für die Nachbar-
gebiete und auch für die Dichter selbst. Denn wie man von der
Elegie erwartete und es in der Ordnung fand dass sie öffentliche
Verhältnisse ernsthaft und lehrhaft behandle, so vom lambos dass
er stachlicht sei und Niemand verschone und vor keinem StolTe
zurückscheue,, auch nicht dem niedrigsten, ja gemeinsten. Die
politische Weisheit der Elegie hat ihren glänzendsten Vertreter
an Solon, dessen verhältnissmässig umfangreiche Ueberreste haupt-
sächlich seine Wirksamkeit als Gründer der attischen Verfassung
beredt vertheidigen, z. B.:
So viel gab ich dem Volke Berechtigung als ihm genug ist,
Nicht ihm nehmend an Ehr* oder ihm fügend hinzu.
Und für die im Besitze der Macht, durch Beichthum Geehrten
Sann ich es aus dass nichts wider Gebür sie betraf.
Also stand ich, den mächtigen Schild vorhaltend vor Beide,
Und Hess wider das Recht keinem von Beiden den Sieg.
Daneben aber auch nachdrückliche Warnungen vor Peisisiratos,
der unter dem Scheine der Volksfreundlichkeit eigensüchtige
Zwecke verfolgte:
Aus dem Gewölk her naht sich des Schneees Gewalt und des Hagels,
Und auf leuchtenden Blitz folget des Donners Gebrüll:
Ueber den Staat kommt Noth von gewaltigen Männern; in seiner
Blindheit fällt in das Joch Eines Gebieters das Volk.
Wen man erhoben zu hoch, der ist schwer niederzuhalten
Später; man muss gleich jetzt nehmen auf Alles Bedacht.
Und als das Gefürchtete geschehen war , als Peisistratos sich zum
Tyrannen aufgeworfen hatte mit Hülfe der ihm vom Volke be-
willigten Leibwacbe:
Wenn ihr Schlimmes erfuhrt durch euere eigne Verblendung,
Dürft auf die Götter ihr nicht schieben die grössere Schuld.
Ihr selbst machtet ihn gross, Schutzmittel demselben verleihend;
Dafür ward euch jetzt schmähliche Knechtung zu Thieil.
Denn ihr seht auf die Zung* und die Worte des listigen Mannes,
Seht auf keinerlei That welche daneben geschieht.
Jeder von euch allein geht schlau einher wie der Fuchs ist,
Seid ihr beisammen, so ist thörichtes Wesen in euch.
90 Zur Vergleichung antiker und moderner Lyrik.
Ist die Elegie das Organ der Intelligenz, der geistigen Aristokratie
die an dem Volke arbeitet, so fällt dagegen die Rolle der Oppo-
sition, der rücksichtslosen einschneidenden Kritik, dem lambos
zu. Ihn schwang der geniale Archilochos als Keule wider seine
persönlichen Feinde; dass aber auch auf politische Gegner die
Wucht seiner Schläge fiel versteht sich von selbst und erhelil
aus Ueberresten wie folgender:
Nun ist Lophilos Gebieter, Lophilos ist unser Herr,
Lophilos verordnet .Alles, Alles hört anf Lophilos.
Elegie und lambos aber — wie innerhalb der römischen Literatur
die ähnlichem Stoffe gewidmete Satire — gehören den Grenz-
gebieten der Poesie an. Die Gedichte der ältesten Elegiker,
Kallinos, Tyrtäos und Solon, sind geradezu Standreden in ge-
bundener Form; und als den lambos ein Nachfolger des Archi-
lochos, der bissige Hipponax, einen Ton tiefer setzte, ward er
— im Hinkiambos — zur Verspottung der poetischen Form selbst.
Nur der kühne Alkäos wagte es die politische Leidenschaft in das
Innerste der Lyrik hineinzutragen. Als Mitglied eines Adelsge-
schlechtes auf Lesbos persönlich tief verflochten in die Parteikämpfe
seiner Heimat, welche bei diesen heissblütigen Insulanern den gewalt-
samen Verlauf eines Naturprocesses zu nehmen pflegten, indem
der siegreiche Theil den unterliegenden aus dem Staate stiess,
machte Alkäos seine Parteiinteressen offen zum Gegenstande von
Liedern, die er auch geradezu Parteilieder {UraöLcotLxd) be-
nannte. In diesen fand sich z. B. der Gedanke, der wohl den
Werth der ritterlichen Geschlechter ins Licht stellen sollte:
Nimmermehr
Steine die man zusammenlegt,
Vielmehr Männer von Mut bilden die Burg der Stadt.
Der Staat war darin in einer sorgfältig ausgeführten Allegorie
mit einem Schifle verglichen über das von allen Seiten die Wogen
hereinbrechen. Von seinen politischen Gegnern aber sprach Alkäos
im derbsten Stile des lambos, titulierte z. B. den weisen Pittakos
als „Plattfuss, Winkelfresser, Dickbauch" und rief aus:
Wirklich den Pittakos,
Diesen Landesverderb, haben sie hochpreisend in hellem Schwärm
Zum Zwingherren der jähzornigen und unglücklichen^ Stadt bestellt!
Beim Tode des Tyrannen Myrtilos aber meint er:
Jetzt gilt*s zu trinken, wuchtigen Trittes jetzt
Zu stampfen, weil nun Myrtilos todt ja ist.
Politik. Liebe. 91
Indessen ist sein Beispiel innerhalb des Alter thums ohne Nach-
folge geblieben.
Endlich bilden einen wichtigen Stoff der Lyrik die iJe-
ziehiingen von Person zu Person, und unter diesen ganz beson-
ders die Liebe. Hier würden wir uns aber schwer enttauscht
finden wenn wir mit Erwartungen wie sie das moderne Liebes-
lied erregt an die antike Lyrik herantreten wollten. In der
modernen Welt, wenigstens bei den Völkern germanischen Stam-
mes, steht das Weib dem Manne ebenbürtig zur Seite; die Wir-
kungskreise beider sind verschieden, aber das Recht für beide
gleich. Auch dem weiblichen Geschlechte ist die Högiicbkeit ge-
boten an dem geistigen Leben der Zeit und der Nation sich zu
betheiligen, und im Zusammenhange damit hat das weibliche
Gemüt unendlich gewonnen an Reichthum und Tiefe. Mit dem
höheren Werthe seines Gegenstandes hat denn auch das Gefühl
der Liebe selbst zugenommen an Innigkeit, Reinheit und Ideali-
tät. Der moderne Dichter kann die besten Schätze seines Geistes
ausbreiten vor der Geliebten und darf dabei auf Theilnahme nicht
nur, sondern auch auf volles Verständniss rechnen. Das Liebes-
lied hat sich daher in der modernen Literatur zu einer Bedeutung
und Manchfalligkeit entwickelt durch die es sich kühn jedem
andern Zweige an die Seite stellen kann, es durchläuft die ganze
Tonleiter der Gefühle und Töne, von stürmischer Leidenschaft
und Sinnenglut bis zu ätherischer Zartheit. Gedenken wir hier
wiederum eines Dichters aus dem engern Vaterlande, dem sein
furchtbares Unglück ein doppeltes Anrecht darauf erworben hat
von uns nicht vergessen zu werden. Kann man die Liebe als
einen Bund der Seelen beredter schildern, kann man das Gefühl
in der Geliebten das Wort zum Räthsel des ganzen Lebens ge-
funden zu haben, die herrliche Erfüllung dessen was bis dahin
unbewusst im Herzen schlummerte, kann man diess ergreifender
aussprechen als Hölderlin gethan hat in dem unvergleichlich
schönen Liede:
Diotima, edles Leben,
Schwester, heilig mir verwandt,
Eh* ich dir die Hand gegeben,
Hab* ich lange dich gekannt.
Damals schon als ich in Träumen,
Sanft umspielt vom goldnen Tag,
Unter meines Gartens Bäumen
Ein zufriedner Knabe lag;
92 Zur Vergleichung antiker und moderner Lyrik.
Da in leiser Lust und Schöne
Meines Lebens Mai begann,
Säuselte, wie Zephjrtöne,
Göttliche, dein Hauch mich an.
Diess Alles ist nun ganz anders im klassischen AUerthunie. Zwar
die hellenische Ritterzeit, wie sie uns die homerischen Gedichte
darstellen, zeigt das weibliche Geschlecht auf gleicher geistiger
Höhe mit dem männlichen und daher in geachteter äusserer
Stellung , und die Frauenliebe bei aller Natürlichkeit doch zugleich
voll Zartheit. Aber die eigentlich geschichtlichen Zeiten bieten
uns beim ionischen Stamme ein ganz anderes Bild dar: das weib-
liche Geschlecht ausgeschlossen von der allgemeinen Quelle der
Bildung, in halb orientalischer Abgeschiedenheit im Hause gehal-
ten und daher in einem Zustande geistiger Verkümmerung. Was
unter solchen Umständen aus dem Liebesliede werden musste ist
von selbst klar. Bei Mimnermos ist es daher nur ein weiteres
Symptom seiner ethischen Verkommenheit dass ein Theil seiner
Elegien einer Flötenbläserin, Namens Nanno, gewidmet war. Bei
den Doriern war zwar die sociale Stellung des Weibes eine bessere,
die geistige Bildung aber nicht grösser. Nur bei den Aeoliern
traf Beides zusammen^ geistige Regsamkeit des ganzen Stammes
und freiere Bewegung des weiblichen Geschlechtes, und hier
sehen wir denn alsbald das Liebeslied erblühen. Der stürmische
Alkäos zwar fand dazu nicht die Stimmung, desto mehr aber
seine berühmte Zeitgenossin und Landsmännin Sappho. Bei ihr
ist die Liebe sogar der Angelpunkt um den sich all ihr Denken
und Dichten dreht. Nur aber tritt bei so heissfühlenden Naturen
die Liebe nicht als ein sanftes Verlangen auf oder ein stilles
Glück, sondern als eine verzehrende Flamme, ein Alles mit sich
fortreissender Sturmwind, wie sie selbst dieses Bild gebraucht:
Eros wieder durchschüttelt die Seele mir,
Wie der Sturm im Gebirg sich auf Eichen stürzt.
Diese Leidenschaftlichkeit ihrer Liebe ist immer dieselbe, ob sie
nun schildert wie der Anblick des Geliebten ihre Sinne verwirrt
oder über Mangel an Erwiderung klagt oder von ihm verlassen
sich einsam fühlt und unglücklich.
Der Mond ist hinabgesunken,
Das Siebengestirn, und Mitte
Der Nacht ist^s, die Stunden schwinden.
Ich aber, ich liege einsam. ^
Liebeslied. 93
Bei Anakreon bildet die Liebe nur einen Theil des Lebensgenus-
ses, erotisches Getändel ein Mittel die Zeit auszufüllen. Dazu
stört bei ihm^ wie schon bei Ibykos, eine Weitherzigkeit in Bezug
auf die Gegenstände der Liebe, die nicht blos nach modernen
Begriffen, sondern nach den unabänderlichen Gesetzen der Natur,
die Möglichkeit echter Liebe geradezu ausschliesst. Ueberhaupt
haben im Alterthum nur prophetische Geister, welche ihrer Zeit
vorangeeilt waren, das Wesen der Liebe in seinem tiefsten Grunde
erfasst. Ein solches prophetisches Wort ist es wenn Piaton in
seinem Gastmahl"^) dem Aristophanes die Worte in den Mund
legt: „Die Liebenden mögen sich nicht von einander trennen,
auch nicht eine kurze Weile; . . . und dabei wissen sie doch
nicht zu sagen, was sie eigentlich von einander haben wollen;
denn nicht der sinnliche Genuss ist es um was es ihnen zu thun
ist, sondern ein unbestimmtes Anderes will ihre Seele, das sie
nicht im Stande ist auszusprechen, sondern sie ahnt nur was sie
will und hat davon ein dunkies Gefühl. Und diess ist das Eins-
sein mit dem Geliebten." Verhältnissmässig am nächsten kommen
der modernen Auffassung der Liebe unter den Dichtern des Alter-
thums die römischeji Elegiker. Die Liebeselegie von den Alexan-
drinern herubernehmend haben diese sie, statt wie die Alexan-
driner mit todter Gelehrsamkeit, vielmehr mit warmem Leben
erfüllt; und dieselben Verhältnisse welche damals für Natur-
empfindung zugänglicher machten haben auch ihren Liebesgedich-
ten manchmal einen schwärmerischen sentimentalen Anstrich ver-
lieben, ^"^j . Diess ist besonders häufig der Fall bei dem inner-
lichstMi unter diesen Dichtern, bei Tibull, von dem ein Wort das
er seiner Geliebten zuruft***) diese Betrachtung schliessen möge:
Du bist Trost mir im Leid, in der dunkelsten Nacht du mir Leuchte,
Aach in der Einsamkeit hab^ ich an Dir eine Welt.
♦) p. 192 C.
**) Diese Sentimentalität geht bei ihnen sogar vielfach bis zum
Vergessen der Manneswürde und zur Selbsterniedrigung. Im Gegensatze
dazu machen die Liebesgedichte des Horaz (besonders III, 9) einen
wohlthuenden Eindruck dadurch dass sie die Selbstachtung niemals aus
den Augen lassen. Eher thun sie im andern Extrem zu viel, darin dass
sich allzu deutlich zu fühlen gibt wie diese Verhältnisse und diese Per-
sonen für den Dichter nur zum Spiele dienen und zum Genüsse.
***) Eleg. IV, 1 3, 1 1 f. nach meiner Uebersetzung (Stuttgart 1853) S. 103.
Aristophanes Stellung zu seiner Zeit.*)
Es ist eine eben so anerkannte als leicht zu erklärende
Thatsache dass Athens bedeutendste Schriftsteller nahezu alle
vollkommen die gleiche Stellung zu ihrer Zeit einnahmen. Aeschylos
und Aristophanes, Thukydides und Isokrates, Piaton und Demo-
sthenes sind sich in dieser Beziehung zum Verwechseln ähnlich;
und nicht nur die allgemeine Richtung ist bei allen dieselbe,
sondern häufig genug erstreckt sich die Aehnlichkeit bis auf die
Wendungen und Worte. Alle stellen sich in bewussten und be-
stimmten Gegensatz zu ihrer Zeit, alle fähren bittere Klage über
die Gesunkenheit der Gegenwart und über die Fehler und Schwächen
des Volks, alle rücken die Vergangenheit in ein ideales Licht und
halten sie der Gegenwart als Spiegel vor zur Beschämung und
zur Nachahmung. Kaum dass man in dieser Hinsicht Sophokles
und Euripides von den übrigen unterscheiden darf; denn wenn
der milde, friedliebende Sophokles sich auch vom Kampfe fern
hält und directe Polemik vermeidet, so kann doch kein Zweifel
darüber sein welcher Seite seine Sympathien angehören; Euri-
pides aber, so entschieden er das Recht der Gegenwart verficht,
so klar er den neuen Geist als den seinigen erkennt, thut es
doch jedem der andern gleich in stolzem Herabsehen auf den
Unverstand und Wankelmut der Masse. Mit Einem Worte: die
grossen Geister des hellenischen Alterthums sind alle Aristokraten.
In dem Masse als sie sich geistig über die Menge erhoben, in
demselben waren sie auch abgeneigt sich an sie hinzugeben , sich
von ihr verschlingen oder auch nur beherrschen zu lassen. Und
da andererseits die Eigenschaften der Masse zu allen Zeiten die-
*) Vortrag, gehalten im Frühjahr 1855, gedruckt im Morgenblatt
1855, S. 777 ff.
Aristophanes Stellung zu seiner Zeit. 95
selben sind, trotzig und ungebärdig im Glück, verzagt, sobald
es nicht nach Wunsch geht, leicht in Wallung zu bringen, aber
noch schneller wieder erkaltend und in Thatlosigkeit zurück sinkend,
leichtgläubig, die willenlose Beute derer die sie zu behandeln,
ihr zu schmeicheln wissen, unfähig abweichende Ansichten zu
begreifen und Widerspruch zu ertragen: — da diese Merkmale,
trotz aller dazwischen liegenden Erfahrungen und Ermahnungen,
mit vollkommenster Regelmässigkeit immer wiederkekren, so war
es unvermeidlich dass auch diejenigen welche sich zur Masse^.
polemisch oder pädagogisch verhielten immer wieder in dasselbe
Geleise der Gedanken hineingeriethen.
Bei Aristophanes aber brachte es die Natur seiner Dicht-
gattung mit sich dass er seine persönliche Ueberzeugung zu be-
sonders vielen Gebieten des Lebens in Beziehung zu setzen hatte^
und schon darum verdient er vor andern um diese seine Ueber-
zeugung befragt zu werden, zumal sie auch sonst noch manches
Eigenthümliche darbietet und die Schwierigkeiten einer solchen
gegensätzlichen Stellung zur eigenen Zeit besonders klar zu Tage
treten lässt.
Der Bestand des altgriechischen Staates beruhte auf einer
mystisch religiösen Grundlage. So lange der Einzelne mit seinen)
ganzen Sein und Wollen im Staate aufgieng , seinen höchsten Stolz
darein setzte ein Glied desselben zu sein, und sein höchstes Glück
sich ihm zu eigen hinzugeben, so lange war es gut bestellt mit
dem Staatsganzeu wie mit dem Einzelnen; denn das Bewusstsein
dass die Augen des Vaterlandes auf ihm ruhen, und das Verlangen
demselben durch das eigene Auftreten Ehre zu machen, bewirkte
dass der althelienische Bürger auch in seinen persönlichen Be-
ziehungen sich der höchsten Achtbarkeit befliss. Je reicher aber
der Einzelne sich ausbildete, desto grösser wurde die Gefahr
dass er sich vom Ganzen abschäle, seinen Mittelpunkt in sich selbst
suche, und darüber das Ganze zerbröckle und allmählich sich
auflöse. Dieser Process war in der Zeit des Aristophanes schon
so weit gediehen dass die Risse für jedes Auge wahrzunehmen
waren, und er machte während der Lebenszeit unseres Dichters
furchtbar schnelle Fortschritte. Aristophanes erkannte die Gefahr
und suchte ihr zu begegnen, indem er die Zeit harmloser, un-
eigennütziger Hingabe an das Staatsganze, die gute alte Zeit der
Ehrbarkeit und Sittenstrenge, aufs Wärmste pries und empfahl,
und dem Eindringen des neuen Geistes, der Richtung auf selb-
96 Aristophanes Stellung zu seiner Zeit.
ständige und selbstsüchtige Ausbildung des Individuums, aus allen
Kräften sich entgegen stemmte und mit allen Waffen gegen die
losschlug welche er an der Zertrümmerung des naiven Verhaltens
zum Staate, und damit des Staates selbst, arbeiten sah. Als jene
Musterzeit betrachtete der Dichter diejenige welche um ein halbes
Jahrhundert seiner eigenen voraus lag, die Zeit der Perserkriege,
der Harathonskämpfer. Diese ist es die er mit den glänzendsten
Farben ausmalt, bei deren Preis es ihm warm ums Herz wird
und auf die er mit schmerzlicher Sehnsucht zurück blickt, wie
nach einem verlorenen Paradiese.
Diese Begeisterung unseres Dichters für die Vergangenheit
war ohne Zweifel höchst ehrlich gemeint und entbehrte auch
nicht der Begründung: die Zeit um die Perserkriege war un-
leugbar die Glanzperiode Athens, eine Zeit idealen Aufschwunges,
zunächst um die heranwogenden Feindesschaaren abzuwehren,
und dann im Gefühle der Dankbarkeit gegen die Götter, die ihnen
so sichtbarlich geholfen, und im seligen Genuss der eigenen Tapfer-
keit. Aber dieser Glanz nach aussen deckte im Innern manchen
Schaden zu. Dass schon damals nicht alles war wie es sein sollte
zeigte sich bald in der selbstsüchtigen Ausbeutung des gewonnenen
Sieges gegenüber von andern Hellenen, und Isokrates wusste
daher sehr wohl was er that wenn er als Athens beste Zeit nicht
die der Marathonskämpfer, sondern eine viel frühere, die solo-
nische, darstellte. Freilich war in Wahrheit diese so wenig wie
die andere geeignet als Ideal hingestellt zu werden, und des
Redners Verfahren nicht minder willkürlich als das unseres Dichters.
Und abgesehen davon war es ja doch ein eitles Beginnen eine
vergangene Zeit festhalten und zurückrufen zu wollen, das Be-
wusstsein auf einer Stufe festzubannen welche wohl schön und
herrlich war,, auf lange Dauer aber so wenig Anspruch hatte als
im Leben des einzelnen Menschen das Kindesalter.
In dieser Sehnsucht nach einer hinter ihm liegenden und
unwiederbringlich entschwundenen Zeit verräth sich am Dichter
ein Zug von Romantik, der bei ihm auch gar nicht allein steht,
vielmehr lässt sich Aehnliches auch in andern noch tiefer gehen-
den Merkmalen seines künstlerischen Standpunktes wahrnehmen.^)
*) Namentlich in der phantastischen Behandlnngsweise , der Wnnder-
haftigkeit der aristophanischen Komödie, ihrer Virtao8i1% weniger in
der Oekonomie des Ganzen als in einzelnen Scenen, zeigen sich solche
Berührungspunkte.
'Ideale. 97
Und wie die Romantiker der neueren Zeit nicht sowohl das Mittel-
alter, wie es wirklich war, als vielmehr ihre persönliche Vorstellung
von demselhen herzten und uns vorhielten, so auch der antike
Dichter. Auch darin besteht Aehnlichkeit zwischen den beiderlei
literarischen Erscheinungen dass auch Aristophanes , wo er zur
Praxis überzugiehen versuchte, wo er bestimmte einzelne Vorschläge
machte, wie die Umgestaltung zu bewirken^ der bessere Zustand
herbeizufuhren wäre, nur fromme Wünsche vorzubringen wusste,
oder Hitteichen deren Unzulänglichkeit in die Augen sprang.
So in den Rittern, 1358—1373:*)
Agorakritos.
Jezt sage mir:
Wenn irg^end ein schurkischer Staatsanwalt je wieder sagt:
„Ihr habt, Geschworne, femer nicht das liebe Brod,
Wofern ihr nicht in diesem Fall ein Schuldig sprecht!**
Was wirst mit solchem Staatsanwalt du machen? Sprich!
Demos.
Ich heb' ihn in die Höhe, häng* ihm an den Hals
Den Hyperbolos, und schleudr' ihn in das Barathron.
Agorakritos.
Das heisst einmal doch recht gesprochen und mit Verstand!
Lass sehn wie willst du sonst die Verwaltung führen? Sprich!
Demos.
Fürs Erste zahP ich allen Kriegsmatrosen, gleich
Sobald sie landen, ihre Löhnung unverkürzt.
Agorakritos.
Da wirst du manchen abgesessnen Steiss erfreun.
Demos.
Zum Zweiten, wer als Hoplite in der Liste steht
Wird keinenfalls mehr umgeschrieben nach Vergunst;
Nein, wie er einfnal eingeschrieben ist, so bleibt's. —
Auch spreche kein Unbärt'ger in der Versammlung mehr.
Aber positive Mittel zur Abhülfe anzugeben war allerdings auch
nicht des Dichters Aufgabe; ihm genügte es dass sein Ideal in
seinem Herzen lebte und leuchtend vor seinem Geiste stand, und
im Uebrigen war für ihn die Hauptsache die Kritik die er vom
Standpunkt seines Ideals aus an den Erscheinungen der Gegen-
wart übte.
f%
•) Nach der umgearbeiteten Uebersetzung von Schnitzer (Stuttgart
1854) in den Classikern des Alterthums XXn.
Teuf fei, Studien. 7
98 Ari&tophanes* Stellung zu seiner Zeit.
In dieser Beziehung verfuhr Aristophanes mit bemerkens-
werther Gründlichkeit. Kein Gebiet des Lebens gab es das er
nicht in der Verfolgung des neuen Geistes durchmessen hätte,
keine Stelle war so abgelegen oder harmlos dass er nicht sein
Wild daraus aufgescheucht hätte. Die äussere wie die innere
Politik, Erziehung und Privatleben, Philosophie und Beredtsam-
keit, Poesie und Musik trugen ihm Spuren des Abfalls von seinem
Ideale an sich, und er entwickelte in deren Aufßndung eine Fein-
heit der Beobachtung und einen Scharfblick , in ihrer «Bekämpfung
einen bürgerlichen Mut, der unsere ganze Bewunderung verdient.
Wo er einen MissgrifT begieng, da geschabtes im Uebermass des
Eifers, das ihn zuweilen über die Grenzen der Berechtigung
hinaustrug.
Was er vor allem weghaben will aus den Zuständen der
Gegenwart, das ist der unheilvolle Krieg, in welchen Athen
durch seinen Ehrgeiz und seinen Uebermut hineingerathen war,
ein Krieg in dem kein Theil des Sieges froh werden konnte,
weil es ein Krieg unter Stammesgenossen und Brüdern war, und
der nur mit allgemeiner Erschöpfung und Gefährdung der Freiheit
von Allen enden konnte, für die Gegenwart aber eine Quelle
furchtbarer Verwilderung war. Die Beseitigung dieses Grund-
übels ist ein so dringendes Anliegen unseres Dichters dass er
nahezu in allen Stücken welche in die Zeit des Krieges fallen
darauf zu reden kommt, ganze Komödien eigens dahin abzielen
die Segnungen des Friedens und die Schrecken des Kriegs aus-
zumalen, der Abschiuss eines — freilich nur vorübergehenden
— Friedens von ihm gleichfalls in einem eigenen Stücke gefeiert
wird, und an den damaligen Volksleitern und Volksschmeichlern
seinen Grimm nichts so sehr erregt als dass sie fortwährend zum
Kriege hezten und billigen Vergleichen entgegenwirkten. Aber
auch dem Volk im Ganzen sagte er desshalb bittere Wahrheiten.
So Lysistrata 1228 ff.*):
Beim Wein sind wir Athener die Gescbeidtsten stets,
Doch nüchtern sind wir niemals king. Dmm, folgt man mir,
Stets wären dann wir als Gesandte tranken.
Denn wenn wir nüchtern hin nach Sparta kommen,
Gleich sehn wir wo wir Wirrwarr machen können,
Und was sie sagen hören wir nicht an,
Und wa« sie nicht gesagt argwöhnen wir,
Und dann berichten wir wie^s uns gefällt!
*) Nach der Uebersetzung von L. Seeger.
Verhalten zum Kriege. 99
Die Stücke welche eigens die Empfehlung des Friedens ^zum
Gegenstände haben sind die Ach am er und Lysistrata. In
jenen stellt er, um seinem Volke gleichsam den Mund wässern zu
machen nach dem Frieden, einen attischen Landmann dar welcher
auf eigene Faust einen dreissigjährigen Frieden mit den Spar-
tanern für sich und sein Haus abschliesst und nun überallhin
freien Verkehr und alle Genüsse im Ueberflusse hat, von allen
Seiten beneidet wird und mit Hohn zusieht wie die Freunde des
Kriegs durch diesen selbst zu leiden haben. In der Lysistrata
lässt er die Frauen von Hellas sich zusammenthun, um ihre
Männer zum Abschluss des Friedens zu höthigen , was ihnen auch
gelingt; ihre Wortführerin versöhnt die feindlich einander gegen-
überstehenden Völker, indem sie Recht und Unrecht unbefangen
abwägt. Sie spricht nämlich (v. 1115 GT.}:
— Ihr Sparter stellt euch bieher neben mich,
Und ibr, Athener, daher. Höret nun mich an. —
leb nehme jezt euch vor und scbelt* euch aus,
Wie ibr's verdient! — Bespreiigt ibr die Altäre
Aus Einem Kessel nicht als Stammverwandte?
Habt ibr Barbaren, Feinde nicht genug,
Dass ibr vertilgt hellen'scbe StädV und Männer? —
So vielfach schuldet ibr euch gegenseitig Dank:
Warum bekriegt und quält ibr also euch? Warum
Versöhnt ibr euch doch nicht? Was bindert euch?
In dem ^.Frieden" betitelten Stücke stellt Aristopbanes die
Wiederkehr des Friedens in der Weise der alten attischen Komö-
die, d. h. phantastisch dar. Abermals ein attischer Landmann
ist der hiefür am meisten Thätige. £r schwingt sich auf einem
wohlgefütterten Riesenmistkäfer zum Olympos empor, um sich
bei den Göttern für endliches Aufhören des Kriegs zu ver-
wenden. Die Götter triflt er zwar nicht zu Hause ; sie sind weg-
gezogen und haben dem Krieg ihre Wohnung übjerlassen; aber
Hermes ist als Thürhüter zurückgeblieben, und mit dessen Hülfe
gelingt es das in einen Abgrund gestürzte und verschüttete Bild des
Friedens herauszuarbeiten, und er bringt es nun hinab auf die
jubelnde Erde. Da singt der Chor zum Beispiel (v. 1127 if.):''^)
O wie schön, o wie schön,
Dass ich los den Helmbuscb bin,
Und die Zwiebel und den Käs'!
Nein, den Krieg, den mag ich nicht!
*) Nach der Uebersetzung von L. Seeger.
100 Aristophanes* Stellung zu seiner Zeit.
Aber o wie selig ist^s
Wein zu nippen Schlack um Schluck,
Froh gelagert um den Herd!
Wenn im Feld lustig hell
Der Cikade Lied ertönt;
O wie freut es mich zu sehn
Nach den edlen lemnischen
Reben, ob die Beeren weich;
Und dabei den Sommer durch
Werd* ich kugelrund und fett.
Nichts behaglicher als dieses: wenn die Saatzeit ist vorbei
Und der Himmel Regen spendet, und ein Nachbar kommt und spricht:
Hör\ was meinst du, Freund, was fangen wir nun an, Komarchides?
Da der Himmel uns so gnädig, meinst du nicht wir trinken eins?
Also Weibchen, setz an^s Feuer Erbsen heut drei Mässchen voll.
Nimm auch Kuchenmehl vom feinsten, spare ja die Feigen nicht!
Sahne hatt' ich auch im Hause, Hasenfleisch vier Stücke noch.
Wenn mir über Nacht die Katze nicht davon gestohlen hat;
Ja, es war im Haus nicht richtig, und es kratzt* und polterte!
Junge, bring* uns nur drei Stücke: lass dem alten Vater eins.
Ruf auch im Vorübergehen dem Charinades: er soll
Heute fröhlich mit uns trinken,
Weil der Himmel unsem Fluren
Segen und Gedeihen schenkt.
Besser als den gottverfluchten Hauptmann 'rumstolzieren sehn.
Mit drei Büschen auf dem Helme und dem schreiend rothen Rock! —
Wie daheim uns Seinesgleichen hudelt! halt*s der Henker aus!
Schreiben Einen auf zum Kriegsdienst, löschen aus und schreiben ab,
Schreiben wieder, löschen wieder. Morgen, heisst es, geht^s ins Feld!
Nichts ist eingekauft, man wusste nichts als man von Hause gieng.
Also machen sies dem Landvolk, — in der Stadt hier auch nicht viel
Besser, diese Schildabwerfer, Gott und Menschen gleich verhasst!
Aber einmal doch, so Gott will, rechnen wir mit ihnen ab.
Den verruchten Missethätern ,
Die zu Haus den Löwen spielen.
Aber in der Schlacht den Fuchs!
Um SO dringender ist der Wunsch dass das Glück des Friedens
auch Bestand haben möge. Aristophanes gibt demselben Worte,
z. B. in dem Chorlied (v. 987 ff.):
„Irene, du heilige Königin, nimm
Diess Opfer in Gnaden, o Liebliche, hin!
Und tractier* uns nicht wie die Weiberchen thUn:
Die stehen am Fenster und öffnen es halb.
Und recken die Köpfchen und gucken heraus;
Doch wirft man den Schlauen ein Auge zu —
Husch, fliehen sie zurück.
Der Friede. 101
Und geht man, so schan^n sie von neuem heraus.
Nein, also, Verehrteste, neck' uns nie!
Lass deine Verehrer leibhaftig und ganz
In der Schönheit Fülle dich, Göttliche, schaun,
Uns, die wir yergiengen vor Sehnen nach dir
Schon dreizehn Jahr.
Schlag nieder den Krieg und den knurrenden Sturm,
Und Victoria sollst du uns heissen!
Verbanne bei uns die Verdächtigungssucht,
Die so zierlich und glatt
Und geschwätzig uns wider einander hezt!
Schenk friedlichen Sinn und v^öhnlichen Geist,
Lass schauen uns wieder die Fülle des Markts:
Grossmächtige Zwiebeln und Knoblauch, dazu
Frühgrirken, Melonen, Granaten !*'
Aber damit ein wahrer Friede möglich und dauernd wurde,
mQsste es ^~ und dass entgeht dem Dichter nicht — auch im
Innern ganz anders aussehen als in Wirklichkeit der Fall war.
In dieser Beziehung ist vor allem seine Mahnung: „Seid einig»
einig, einig!'' Er glaubt, es sollten diejenigen welche es mit
dem Vaterlande wohl meinen sich gegenseitig die Hand reichen
und die Selbstsüthtigen und Schlechten aus dem Felde schlagen,
lieber die Vergangenheit, meint er, sollte man einen ^ Schleier
werfen , die verschiedenen Parteien einander gegenseitig vergessen
und vergeben was sie einander zu Leide gethan oder am Vaterlande
gesündigt, das Misstrauen und die Eifersucht unter einander, und
den Hochmut des speci6$chen Athenerthums, das hoch herab
sieht auf Halbburger, Nichlbürger und Sklaven, jezt, wo die
Noth an die Thure klopft, in die Schanze schlagen und Jeden als
das nehmen was er seinem Innern Werthe nach ist und was er
leistet. Diese patriotischen Phantasien sind ausgeführt in Stellen
wie „Weibervolksversammlung** 175 — 208, Frösche v. 686 ff.:
„ Wohl 'geziemt^s dem heiigen Chore was dem Staate frommen mag
Anzurathen und zu lehren. Und vor allem, meinen wir,
Sollten gleich die Bürger werden und verbannt die Schreckenszeit.
Frei stehn, mein* ich, sollt' es Jedem der sich früher hat verfehlt
Durch Rechtfertigung zu tilgen vor'ger Zeit Vergebungen.
Femer, denk* ich, ehr- und rechtlos sollt' im Staate Keiner sein.
Drum wohlan, vergesst des Zornes, klug und weise, wie ihr seid,
Lasst als Brüder denn uns Jeden ohne Rückhalt an uns ziehn,
Una als ehrlich und als Bürger, wer mit uns den Feind bekämpft!
Wenn wir mit den Bürgerrechten vornehm thun und stolz uns blähn,
Jetzo , wo im Arm der Wogen hin und iier uns wiegt der Sturm ,
Dann wird von der Nachwelt unsrer Einsicht wenig Lob gezollt.**
102 Aristophanes' Stellung zu Bciuci* Zeit.
DaS' ist aber in Stucken aus einer Zeit allgemeiner Gedrücktheit
und Mutlosigkeit, nach schwerem Unglück ^ in einer Stimmung
\velcher auch der Dichter sich nicht ganz zu entziehen vermochte
und welche für kühnere und durchgreifendere Vorschläge nicht
zugänglich gewesen wäre. Es war damals eine Luft In Athen,
so dumpf und so beklemmend wie im Zimmer eines schwer Er-
krankten ; aber die Fenster aufzureissen hätte höchstens des Kranken
Zustand verschUmmern können: und der Kranke war das Vater-
land. Dagegen in früherer Zeit, als der Staat noch, zwar nicht
gesund , aber doch noch b^^räften , doch noch lebensfähig war,
wo sein Leiden vielmehr in einem Uebermass von Kraftgefühl be-
stand, in einem wilden Losstürmen auf den eigenen Organismus, als
wäre -er unverwüstlich: damals hat sich der Dichter nicht be-
schränkt auf fromme Wünsche und wehmütige Vorschläge, damals
ist er nicht so leise und schüchtern aufgetreten, sondern herz-
haft hat er sich dem Tobenden in den Weg gestellt und ihm
die Wahrheit ins Gesicht gesagt, den gewissenlosen Fuhrern,
die seiner Leidenschaft noch schmeichelten und sie zu steigern
suchten , die Stirne geboten , und ganz offen darauf hingearbeitet
sie zu stürzen und durch besser gesinnte zu ersetzen. So ganz
besonders in den Rittern, wo der Dichter einen völligen Ver-
nichtungskrieg unternimmt gegen den damals auf dem Gipfel
seiner Macht stehenden Demagogen Kleon und mit grimmigem,
fanatischem Hasse auf denselben losstürzt. Die Leidenschaftiiehkeit
des Angriffs ist so gross, die Waffen dabei meist so massiv und
die Beschuldigungen zum Theil so offenbar übertrieben oder gar
wahrheitswidrig dass über dem Parteielfer häufig genug die reine
Poesie zu kurz kommt und wir selten zu einer behaglichen, rein
heitern Stimmung zu gelangen vermögen. Wenige Proben werden
diess klar machen:
Nieder, nieder mit dem Schurken, der die Ritterschaar verwirrt,
Diesem Zöllner, diesem Schlünde, der Charybdis gleich im Rftub,
Diesem Schurken, diesem Schurken, immer wieder sAg* ich das.
Wie auch er so oft am Tage Schurk' und wieder Schurke war.
Auf denn, hau* ihn und verfolge, ängstige, bring* ihn ausser sich.
Und verfluch* ihn, wie wir alle, stürme schreiend auf ihn ein!
Aber Achtung! sonst entwischt er; denn er kennt die Schliche wohl.
O verflucht schreierisches Lästermaul! deiner Schamlosigkeit
Ist ja voll alles Land, jeglicher Gemeindescfaluss , Zollvertrag,
Aktenbund, sind Gerichtshöfe voll, o Gestankrtihrer du,
Die Ritter. • 103
Der du in der ganzen Stadt alles uns- wühlest um;
Der du uns mit deinem SchreiQ^ ganz Athen hast taub gemacht,
Und Yon Felsen hoch, ein Thnnfischfänger, nach Tributen spähst!
So wie die Fischer machtest du*s, die Aale fangen wollen:
So lang das Wasser ruhig ist bekommen sie gewiss nichts;
Doch rühren sie, herauf hinab, den Schlamm recht durcheinander,
Dann fangen sie. So fängst auch du, wenn du den Staat verwirrest.*)
Und was in den Ritlern dramatisch dargestellt wird , Klcons
Absetzung, das wird im nächslverfassten Stücke gleichfalls mit
dürren Worten beantragt:
Wenn den Kieon ihr der Unterschlagung und Bestechlichkeit
Ueberfuhrt und ihm den Nacken tüchtig mit dem Blocke schnürt.
Kehrt die alte Ordnung wieder, trotzdem dass ihr euch verfehlt;
Und so wird auch jener dumme Streich zum Besten euch gedeihn.**)
Trotz alle dem aber dürfen wir unsern Dichter nicht für
so kurzsichtig halten dass er wirklich im Ernst geglaubt hätte,
Kleon sei. das einzige oder doch hauptsächlichste Hinderniss für
Athens Wohlergehen, und man dürfe nur ihn beseitigen, so werde
Athen wieder von selbst den früheren Glanz gewinnen. Auch
ihm entgieng nicht dass die Ursache des Verfalls tiefer liege, dass
die Bedeutung zu welcher Kleon gelangt nur ein Symptom sei von
der eigentlichen Krankheit, und dass derselbe keinen Tag sich
zu halten vermöchte, wenn bei dem Volke selbst und den so-
genannten Gutgesinnten alles so wäre wie es sein sollte. Als die
Wurzel des Uebels erkannte der Dichter vielmehr den unauf-
haltsam eindringenden neuen Geist, dessen bewussteste Ver-
treter die sogenannten Sophisten waren, welche zwar alle aus
andern Theilen Griechenlands stammten, in Athen aber für ihre
Saat einen so empfänglichen und wohl vorbereiteten Boden fanden
dass sie rasch aufschoss und wuchernd um sich grifT. Der Erfolg
der Perserkriege, in welchen jeder Einzelne und Alle fast auch
in gleichem Masse zur Rettung des Vaterlandes beigetragen, in
welchen das Volk selbst und durch sich selbst der feindlichen
Uebermacht sich erwehrt hatte, dieser Erfolg hatte wesentlich
dazu beigetragen Athens Verfassung aus einer beschränkt demo-
kratischen in eine ganz unumschränkt demokratische, in eine
ochlokratische umzuwandeln und jeden Einzelnen im Volk mit
*) Ritter v. 247 ff. 303 ff. 864 ff.
**) Kleons Wahl zum Strategen, Wolken v. 591 ff.
104 Arißtophanes' Stellung zu seinei» Zeit.
einem Selbstgefühl zu erfüllen als hienge von ihm das Ganze
ab. Zu dieser Verfassung, wo jeder Einzelne sich als Souverän
fühlte und gebärdete, stimmte vortrefflich eine Lehre deren
Fundamentalsatz war dass der Mensch, und zwar der einzelne
empirische Mensch, das Mass aller Dinge sei. Diese Berechtigung
und Aufforderung nichts Festes zu dulden, alles in den Strom
der Wandlung hinein zu ziehen, alles immer neu aus sich zu
erzeugen, das gestern Beliebte heute zu verwerfen und morgen
wiederaufzunehmen, sagte ferner dem beweglichen, leichtfertigen
Sinne des attischen Stadtbewohners vollkommen zu, so wie die
sophistische Kunst und Uebung des Redens um seiner seihet willen
der angeborenen Zungenfertigkeit jenes Völkchens freundlich ent-
gegen kam. Zu der Denkweise der älteren Zeit «Athens, mit ihrer
unbefangenen Hingabe an das Ganze des Staats und an die Götter,
mit ihrer Unterwerfung des Einzelwillens und Einzeldenkens unter
das Herkommen in Staat und Religion, bildete freilich dieser
neue Geist einen auffallenden Contrast, und zwischen dem eigent-
lichen Volk und den Gebildeten, zwischen der vorgeschrittenen,
pietätsiosen, zweifelsüchtigen Stadt und dem nicht in gleichem
Schritt mit ihr auf der Bahn der Aufklärung vorwärts drängen-
den Landvolke entstand dadurch eine Kluft welche jeden tiefer
Blickenden mit Besorgniss und Trauer erfüllen musste. Zweierlei
Generationen waren es, einander fast durchaus entgegengesetzt
in ihrem Glauben und Wollen, die Jungen herabsehend auf die
zurückgebliebenen Alten, und die Alten mit Widerwillen und
Hass blickend auf das Gebaren der Jungen, und den Zorn der
Götter darob fürchtend , zum Theil schon leidend unter den Folgen
desselben: gleichsam zwei Welten, die einander gegenseitig ab-
stiessen und ewig mit einander im Kampfe lagen, nur durch
ein schwaches äusseres Band zusammengehalten: ein Zwiespalt
welcher unfehlbar zur Schwächung und endlichen Auflösung des
Ganzen führen musste. *
Unser Dichter hat ein klares Bewusstsein von diesem Gegen-
satz , und seine älteren Stücke alle drehen sich um ihn als ihren
Angelpunkt. Namentlich aber in den Wolken hat er ihn eigens
und in höchst geistreicher Weise dargestellt (vgl. daselbst v. 961 ff.
981 ff. 1002 ff. 1071 ff.). Je vollständiger er sich aber aller Folgen
dieses Gegensatzes bewusst war, desto mehr trieb es ihn den-
selben aufzuheben und die Kluft auszufüllen. Und da er, obwohl
nicht blind für die Schwächen der alten Zeit und ihrer Vertreter,
Verhalten zum neuen Geiste. Die Wolken. 105
doch das Unrecht überwiegend auf Seiten der neuen fand, so
wollte er jene Einigung dadurch herbeigeführt wissen dass die
neue Zeit von ihren meisten tmd schroffsten Eigenthumlichkeiten
lasse und zum Wesen der alten zurückkehre ^ bei welchem der
Staat gross geworden. _Er tritt daher mit der Wärme eines Hannes
der sich seiner redlichen Absichten bewusst ist auf gegen die-
jenigen welche er unter den Bürgern Athens als die zurechnungs-
fähigsten und einflussreichsten Vertreter des neuen Geistes er-
kannte. Diess waren iri seinen Augen Sokrates und Euripides.
Das Stück in welchem Aristophanes den Sokrates bekämpft
sind bekanntlich die Wolken. In diesen stellt der Dichter einen
Angehörigen der alten Zeit dar, welcher aus selbstsüchtigen Be-
weggründen sich mit dem neuen Geist zu befreunden sucht und
daher zuerst selbst bei Sokrates in die Schule geht, dann seinen
Sohn dahin schickt, aber am Ende vor den praktischen Conse-
quenzen der neuen Richtung erschrickt, vor ihrer furchtbaren
Frivolität und Impietät, die selbst gegen die leihlichen Eltern
die frevle Hand erheben macht, und daher wieder umwendet
und zu seiner alten Denkweise zurückkehrt. Sokrates wird also
hier als geistiges Haupt der neuen Richtung dargestellt und dem-
gemäss die auffallendsten Züge und Merkmale derselben alle auf
seine Person übergetragen, sogar einander widersprechende, wie
Bedürfnisslosigkeit und Habgier, Gleichgültigkeit gegen sinnliche
Genüsse und parasitisches Wesen, Widersprüche welche ihre
Lösung darin haben dass die eine Reihe von Eigenschaften dem
historischen, wirklichen Sokrates angehört, die andere dem in
der Person des Sokrales zusammengefassten und mit dessen Namen
bezeichneten modernen Wesen , insbesondere der Blüte desselben,
der Sophistik. Zwar geschah dem Sokrates schweres Unrecht
durch dieses Zusammenwerfen seines Thuns und Lehrens mit dem
Hier Sophisten, da er sich, obwohl vielfach auf demselben Boden
mit ihnen stehend, doch ganz wesentlich von ihnen unterschied^);
indessen würden ebenso auch wir unserem Dichter Unrecht thun
wenn wir unser Bewusstsein über die principielle Grundver-
schiedenheit beider ihm unterschieben und vergessen wollten dass
nach den Begriffen des damaligen Athen die eigentlichen Sophisten,
als Ausländer, nicht zum Hauptgegenstande eines im attischen
*) Vgl. die Einleitung zu meiner Ausgabe der Wolken (Leipzig,
1867) S. 37 flf.
106 Ariätopbdnes' Stelluug zu sciaer Zeit.
Tbealer dem attischen Volke vorzuführenden Stuckes gemacht
werden konnten, dass die attische Eitelkeit sich sogar dagegen
gesträubt haben wurde die Ehre der Erßndung und grösseren
Bedeutung auf diesem Gebiete Ausländern abzutreten, und daher
Aristophanes , wenn er die Sophistik auf die Bühne bringen
wollte, von allen Seiten darauf hingewiesen war zum Vertreter
derselben den Sokrates zu machen. Dadurch hat er uns die Mühe
gemacht die Züge auseinanderzulesen welche dem wirklichen So-
krates und welche den Sophisten entnommen sind. Am Dichter
selber aber rächte sich die Wahl eines für komische Behandlung
wenig günstigen Stoffes und das thatsäcblich unrichtige Zusammen-
werfen verschiedenartiger Richtungen und Persönlichkeiten da-
durch dass sein Stück, in der Gestalt in der es auf die Bühne
kam, den gehoßlen Beifall bei weitem nicht erlangte.
Als zweiten Vertreter des neuen Geistes behandelt unser
Dichter den Tragiker Euripides, und er hatte darin nicht
Unrecht; denn auch Euripides, wie Sokrates, hatte die Fesseln
der Autorität von sich abgestreift, auch er erkannte dem seiner
selbst bewussten und aufs Edle gerichteten Ich das Recht freiester
Bewegung zu, und er wird sogar vielfach als Schüler des So-
krates bezeichnet. Ihn für die Früchte des neuen Geistes ver-
antwortlich zu machen hatte Aristophanes sogar etwas mehr Recht
als gegenüber von Sokrates. Zwar als Schöpfer der neuen Richtung
konnte Euripides unmöglich betrachtet werden, desto eher aber
als ihr einflussreichster Apostel. Denn während Sokrates nur in
einem engen Kreise wirkte, so waren dagegen die Stücke des
Euripides allenthalben, so weit die hellenische Zunge reichte,
gelesen, bewundert, auswendig gelernt. Von seiner Popularität
gibt uns einen anschaulichen Begriff die Erzählung des Plutarch*) ,
von den bei dem unglücklichen sicilischen Feldzug in Gefangen-
schaft und Sklaverei gerathenen Athenern haben viele ihre Frei-
lassung vorzugsweise dem Umstände zu danken gehabt dass sie
Stellen aus Euripides auswendig wussten und dadurch die Gunst
ihrer sicilischen Herren sich erwarben, welche ganz besonders
eifrige Bewunderer des Euripides waren. Und aus der entgegen-
gesetzten Richtung, aus Karlen, wird berichtet, ein von See-
räubern verfolgtes griechisches Schilf habe in einem dortigen Hafen
erst dann Aufnahme gefunden als seine Mannschaft die Frage, ob
*) Leben des Nikias, Cap. 29. vgl. Polyän. VII, 41. VIII, 52.
Verhalten zu Sokrates und Euripides. 107
sie Lieder von Euripides auswendig wissen, bejaht habe. Anek-
doten dieser Art beweisen wenigstens so viel dass Euripides dem
Geist und Geschmacke seiner Zeit yollkommen entsprach und zu-
sagte, dass sie in seinen Gedichten ein Spiegelbild ihrer eigenen
Denkweise erkannte, und dass daher Aristophanes nicht so ganz
fehlgriif wenn er die Streiche die er dem Zeitgeist versetzen
wollte gegen Euripides führte. Die Pofemik gegen diesen zieht
sich durch alle Stucke des Aristophanes; da ist keines in welchem
nicht wenigstens einzelne Steilen des Tragikers parodiert würden,
und von den eilf auf lAis gekommenen sind drei fast ausschliess-
lich dem Euripides gewidmet.
In dem einen (Thesmophoriazusen) ist es des Tragikers
Abneigung gegen das weibliche Geschlecht im Ganzen was den
Hauptgegenstand der Komödie bildet. Die Frauen benützen ein
religiöses Fest, bei welchem sie versammelt sind und kein Mann
Zutritt hat, um darüber zu berathen wie sie den Euripides be-
strafen wollen für die Schmähungen die er in seinen Stücken
über ihr Geschlecht auszugiessen pflege. Von dieser ihrer Absicht
hat natürlich schon vorher verlautet, und so ist auch dem Euripides
zu Ohren gekommen dass sie seinen Tod beschliessen wollen.
Um das wo möglich abzuwenden, sucht er einen Verlheidiger
seiner Sache einzuschwärzen. Er wendet sich daher zuerst an
seinen CoUegen, den weibischen Tragiker Agathon, um ihn zu
bereden dass er sich in Weiberkleidern in die Versammlung der
Frauen einschleiche. Als Agathon sich dazu nicht entschliessen
kann, so übernimmt die schwierige Sendung der Schwager des
Euripides, Mnesilochos. Diesem gelingt es wirklich in die Ver-
sammlung der Frauen einzudringen, und er sucht hier den Beweis
zu fuhren dass des Tragikers Vorwürfe gegep die Weiber nicht
nur vollkommen begründet seien, sondern hinter der Wahrheit
sogar noch zurückbleiben. Aber durch Verrath eines Bundes-
genossen der Frauen unter dem Geschlechte der Männer kommt
.der versuchte Schlich an den Tag. Mnesilochos wird beim Amte
angezeigt, verhaftet, von Euripides jedoch mit List befreit, im
Einverständniss mit den Frauen , gegen das Versprechen sie künftig
in Ruhe zu lassen.
Wird schon in diesem Stücke Euripides nach allen Eigen-
ihümlichkeiten seiner Poesie durchgenommen, sein Unglaube an
die Götter des Volks, seine Sentenzensucht, sein Theaterpathos,
so hat der Dichter noch ausserdem der ästhetischen Kritik des
108 Aristophanes* Stellung zu seiner Zeit.
Tragikers ein eigenes Stück gewidmet, die Frösche, worin er
ihn besonders mit Aeschylos vergleicht und an dem eben Ge-
storbenen in eben so unbarmherziger als geistreicher Weise das
Amt eines Todtenrichters ausübt. Bis ins feinste Detail hinein
verfolgt er hier die Manier des Euripides, er weiss sie durch
Häufung und Uebertreibung der charakteristischen Züge aufs
Köstlichste zu verspolten , wie er andererseits mit grossem Ernste
gegen die verderblichen Wirkungen desselben polemisiert. Dabei
lässt sich Aristophanes freilich durch seinen Eifer zum Theil über
das Ziel hinausfuhren, indem er den Tragiker für alles das ver-
antwortlich macht was zu dessen Lebzeiten in Athen sich allmählich
geändert hat, für den Umschwung in den Sitten wie im öffent-
lichen Leben, von welchem doch Euripides nur eine Frucht und
ein Herold war, nicht aber der Urheber. So lässt er den Aeschylos
sagen (Frösche 1078 ff.):
„Was hat er nicht Alles verdorben zumal!
Und hat er nicht Kuppler uns vorgeführt,
Und Schwestern, mit leiblichen Brüdern gepaart,
Und Leute die sagen, das Leben sei Tod?
Durch all das hat er die Stadt uns gefüllt
Mit Rechtsconsulenten und Schreibergeschmeiss,
Volksaffen, Schmarotzern mit wedelndem Schweif,
Die das Volk betrogen zu aller Zeit!
Wer versteht sich denn noch auf den Fackellauf
Und der Turnkunst männliche Uebung?**
Während aber so unser Dichter mit einer Art von beiligem
Eifer losfährt gegen diejenigen welche nach seiner Meinung Schuld
waren an dem Alles zerfressenden neuen Geiste, und mit Wärme
sich verwendet für den alten Glauben, so sehen wir ihn anderer-
seits eben so entschieden sich kehren gegen diejenigen welche
den alten Glauben, von dem sie vielleicht innerlich selbst ab-
gefallen waren, nur aus selbstsuchtigen Beweggründen festzu-
halten und für ihren persönlichen Vorteil auszubeuten suchten.
Sie erregten den Zorn des Dichters auch dadurch dass sie, an
die jeweils Mächtigsten im Staate sich anlehnend und von der Fort-
dauer des Kriegs eine Förderung auch ihrer Zwecke hoffend,
mit den Demagogen und Führern der Kriegspartei einen Bund
geschlossen hatten dessen Opfer unfehlbar das Volk werden musste.
Einen Solchen stellt Aristophanes z. B. im „Frieden" 1045 ff. dar,
wie er — glücklicherweise zu spät und ohne Erfolg — dem
Friedensschlüsse sich zu widersetzen sucht. Ein anderes Exemplar
Die Frösche und Vögel. 109
dieser Gattung führt uns Aristophanes in seinen Vögein vor
(v. 959 ff.). Dieses Stück enthält überhaupt eine Zusammen-
Tassung alles dessen was der Dichter gegen seine Zeit auf dem
Herzen bat, was er aus seinem Vaterlande, damit es glücklich
sein und bleiben könne, getilgt wissen will. Er bringt diess in
der Weise zur Darstellung dass er seine Unzufriedenheit über
den jetzigen Zustand Athens in zwei Athenern verkörpert, welche
in solcher Stimmung den Entschluss fassen aus Athen auszu-
wandern und einen neuen Staat zu gründen. Dieser Gedanke,
so wie die neue Gründung selbst, wird aber, mit dem gross-
artigen Humor welcher dieses ganze Stück auszeichnet, dadurch
wieder ironisiert dass das neue Gen^einwesen (Wolkenkukuksheim)
in die Luft gebaut wird, somit sich selbst als Luftschloss charak-
terisiert. In dieses neue. Gemeinwesen sucht sich nun aus dem
alten eine Menge unreiner Elemente einzudrängen und einzu-
schleichen, die aber auf unsanlle Weise abgefertigt und fernge-
halten werden. Von diesen unreinen Elementen, welche nach
des Dichters Ansicht ausgestossen werden müssten, wird eine in
ihrer Art vollständige Aufzählung gegeben. Nach einander lässl
Aristophanes an das neue Gemeinwesen anprallen und davon
zurückgestossen werden einen Hungerleider, von lyrischem Dichter,
einen habgierigen Priester, einen naturwissenschaftlichen Charlatan,
einen zudringlichen Regierungscommissär, einen frechen Gesetzes-
händler, weiterhin einen ungerathenen Sohn, einen Musikver-
derber, einen, Denuncianten. Bemerkenswerth für die Gründlich-
keit womit Aristophanes in seiner Polemik gegen den neumo-
dischen Geist zu Werke geht ist neben der Mitaufzählung des
Husikverderbers besonders auch die des angeblichen Charlatans.
Es ist diess der in der Geschichte der Astronomie und Chro-
nologie noch immer mit Achtung genannte Meton, welchen der
Dichter aus keinem andern Grunde in dieser wenig respektabeln
Gesellschaft aufzählt als weil die Wissenschaften welche Meton
vertrat, Geometrie und Astronomie, in der Zeit des Aristophanes
neu aufgekommen und von Angehörigen der neuen Richtung cul-
tiviert waren, daher unser Dichter dieselben zu den specifischen
Ausflüssen und Kundgebungen des neuen Geistes rechnen zu dürfen
glaubte.
Zugleich aber ist dieses Stück mehr als irgend ein anderes
geeignet uns die Kehrseite von Aristophanes* Stellung zu seiner
Zeit vor Augen stellen. Zwar werden wir aus allem Bisherigen
• «
1 10 Aristophanes^ Stellung zu seiner Zeit.
die Ueberzeugung zu schöpfen haben dass es dem Dichter mit
seiner Vorliebe für die alte Zeil und seinem Kampfe gegen die
neue ausserordentlich Ernst ist; ja in vielen Stellen legt er auf
diese seine ernste ethische Tendenz sogar das Hauptgewicht seiner
dramatischen Thätigkeit und bezeichnet sie als dasjenige wodurch
er sich von andern Dichtern dieser Gattung am wesentlichsten
unterscheide.*) Nichts destoweniger aber hat er für seinen ernst-
lich gewollten Zweck ganz und gar untaugliche Mittel gewählt,
Mittel welche sogar das Gegentheil von dem eigentlich Gewollten
bewirken mussten. So kämpft er für den alten Glauben und die
alten Götter, und tbut doch selbst sein Möglichstes um sie lächer-
lich und unmöglich zu machen; so eifert er gegen die ochlo-
kratische Zuchtlosigkeit^ und benüzt sie doch im ausgedehntesten
Masse; so zuchtigt er die Volksschmeichler, und stellt doch selbst
so oft das Volk als den schuldlosen Theil dar, und gewöhnt es
daran die Ursache des Uebels überall eher zu suchen als in sich
selbst; so donnert er gegen die Wühler, und untergräbt doch
unermüdlich das Bestehende; so verhöhnt er die Redekünstler
welche nach Belieben diese oder die entgegengesezte Sache ver-
fechten, und lässt doch selbst in seinen Stücken mit besonderer
Vorliebe solche Wortgefechte abhalten.
Zwar hat er natürlich von diese^ Verhalten kein klares Be-
wusstsein: er meinte seiner Farbe treu zu sein, und half sich
über jene Widersprüche, wo sie sich auch ihm aufdrängten,
gewiss durch allerlei Mittel der Selbsttäuschung hinüber. So
redete er sich ohne Zweifel ein dass er ja nicht das Wesen der
Götter lächerlich mache, sondern nur ihre Erscheinungsform.
Aber für das Bewusstsein des Volks waren beide unzertrennlich
in einander, für das Volk hieng das Sein der Götter unlösbar
zusammen mit ihrer Persönlichkeit, und deren Personen lächer-
lich zu machen und in komische Conflicte zu bringen hiess nichts
Anderes als die Volksgötter selbst um den schwachen Rest von
Achtung bringen den sie noch genossen. Mag es immerhin für
einen harmlosen Witz gelten weiin in den Vögeln Prometheus
unter einem aufgespannten Schirm auftritt, damit Zeus ihn nicht
sehe, so ist es doch wohl anders zu beurteilen wenn in dem-
selben Stücke der Dichter geradezu die Absetzung der alten Göt-
♦) Z. B. Acharn. 633 ff. Ritter 510. Vesp. 1025 ff. Frieden 762 ff,
Frosche 389 ff. Weibervolksvers. 1155 f.
Wideraprüche. 111
ter decretiert, durch Aushungern ihnen Concessionen abpressen
lässt und vom Sterben des Zeus redet, oder die Formen der
Götteranrufung persifliert. Um durch Dinge dieser Art sich nicht
irre machen zu lassen in ihrem Glauben» und bei der l^omischen
Vernichtung der Schale nur um so unverrückbarer festzuhalten
am Kerne, dazu wäre eine Kraft der Abstraktion erforderlich
gewesen und eine Gediegenheit der Gesinnung, wie sie der Dich-
ter wohl für seine Person besitzen mochte, bei dem Ganzen des
Volks aber nimmermehr voraussetzen konnte. So wenig daher der
Dichter es Wort haben will, und so sehr er wohl erschrocken
wäre wenn er es sich klar gemacht hätte , so gewiss steht er doch
seihst auf derjenigen Seite gegen welche er Front zu machen
meint, und ist Bundesgenosse derjenigen welche er als Gegner
bekämpft, ja er wirkte für deren Sache vielleicht noch unmittel-
barer und nachhaltiger als sie selbst.
Dieses schiefe Verhältniss hat seinen Grund darin dass
Aristophanes, so sehr er auch mit seinem Wollen, Wunscheu
und Lieben der alten Zeit zugekehrt war, dennoch mit allen
Fasern seines geistigen Seins wurzelte in der neuen.. Mochte
er das was an ihm Sache der Selbstbestimmung war auch ganz
und gar hingeben in den Dienst seines selbstgeschaflenen Ideals,
sein eigentliches Wesen blieb doch unwandelbar stehen im Herzen
seiner Zelt; und ob der Sohn auch hoch so hartnäckig die Mutter
verleugnete, jede Bewegung, jeder Laut verrieth ihn, und wenn
er schvneg so redete für ihn die Gleichheit der Züge.
Aristophanes ist nicht ums Geringste weniger modern als
diejenigen welche er als modern bekämpfte; von Euripides z. B.
unterscheidet er sich nur dadurch dass jener mit Bewusstsein
und ungetheilt sich der neuen Zeit ergeben hatte und gutes Mutes
mit dem Strome schwamm vor dessen Verlauf unserm Dichter
bangte und dem er darum sich zu entziehen und entgegenzustellen
suchte, ohne eine andere Wirkung als dass er müder wurde als
sein Genosse und mehr Kraft verbrauchte a'ls dieser. Dass aber
seine Kraft sich nicht erschöpfte In dem ungleichen Kampfe ist
ein Beweis von ihrer Grösse und ausdauernden Festigkeit, zum
Theil wohl auch eine Folge von des Dichters eigenthömlichem Ver-
fahren, von den Pausen die er bald unwillkürlich, bald wohl
auch mit Bewusstsein in seinem Kampfe eintreten Hess. Ob auch
im Princip entschieden, so schwankte Aristophanes oft, wenn er
an die Erscheinung herantrat; so sehr er sich abgestossen fühlte
] 12 Aristophanes' Stellung zu seiner Zeit.
von dem vorlauten , absprechenden und frivolen Wesen das er auf
der einen Seite gewahrte , so wenig war er doch auch erbaut von
der UngeschlifTenheit und Plumpheit, der Unzugänglichkeit für
andere als grob materielle Interessen, die er im entgegengesezten
Lager fand; und zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen
Stücken lässt er bald die eine, bald die andere Stimmung vor-
walten und vertheilt Recht und. Unrecht oft in einer Weise dass
man meinen sollte er habe sich selbst von der Unhaltbarkeit
seines Standpunktes überzeugt und sei zu seinen früheren Gegnern
übergetreten.
Eine Schwenkung dieser Art zeigen besonders die Wespen,
wo der Dichter den Vertreter der neuen Generation mit unver-
kennbarer Vorliebe zeichnet und ihn gegenüber von seinem Vater,
einem Manne der alten Zeit, nicht nur als den Gebildeten und
Aufgeklärten schildert, sondern auch als den Edlen, für seines
Vaters Wohl zärtlich Besorgten, Uneigennützigen und Massvolleu.
Dieses Schwanken hat wohl seinen Grund in dem besprochenen
Verhältniss. Weil der Dichter seiner Natur nach selbst dem neuen
Geist angehört, so äussert er sich da wo er sich gehen lässt,
wo er nicht seine Grundsätze sich eigens vor die Seele stellt,
f
ganz im Sinne der neuen Zeit: er schwimmt unwillkürlich mit
ihr fort, bis ihm plötzlich wieder zum Bewusstsein kommt welche
Richtung er ja eigentlich zu verfolgen sich vorgenommen habe;
oder auch gibt er sich mit Bewusstsein der Strömung hin, lässt
sich behaglich von den Wellen dahiniragen und plätschert munter
in ihnen, in der «Meinung dass er ja jeden Augenblick wieder
umkehren und ans Land steigen könne.
Dass er aber mit seinen Grundsätzen wenigstens seiner
Fahne treu geblieben ist, das zeigt sein spätestes Stück, der
PI u tos (Gott des Reichthums), in welchem die neue Zeit sogar
zum Theil mit greisenhafter Bitterkeit angefeindet wird (v. 30 if.
46 fS.). Wenn wir daher in den Stücken der mittleren Periode
unseres Dichters scheinbar Frieden abgeschlossen sehen mit dem
neuen Geist, so ist diess wohl hauptsächlich zu erklären aus der
trüben Zeit welcher sie angehören, der Zeit nach dem kläglichen
Scheitern des unseligen Zugs nach Sicilien. Wo alles gleich-
massig gelitten hatte durch das öffentliche Unglück, wo alle Par-
teien gleich sehr niedergeschmettert waren, da konnte es einem
Vaterlandsfreunde nicht einfallen irgend welchen Gegensatz unter
den Bürgern wach zu rufen, irgend weichen Zank aufzurühren.
Ergebnisse 113
Auf eine nachhallige Aenderung seines Sinnes, seiner Grundsätze
dürfen mr aber daraus nicht schiiessen; wenn auch vielfach ent-
täuscht und in seiner Begeisterung abgekühlt, hielt er doch fest
an dem Glauben an eine bessere Vergangenheit, an seiner Sehn-
sucht nach ihr, seinem Streben darnach, und liess wenigstens
in seinem Bewusstsein nicht ab zu protestieren und zu kämpfen
wider den neuen Geist selbstsüchtiger Abkehr von den Gesammt-
interessen. Wenn er darin sich getäuscht hat, wenn er zu schieben
meinte wo er geschoben wurde, wenn er in dem unfruchtbaren
Kampfe seine Kraft verzehrte, was ist das Anderes als unser
Aller Loos? Und wenn wir an ihm ein ewiges Ringen zwischen
dem Gewollten und dem Gemussten, zwischen Freiheit und Noth-
wendigkeit, eine ewige Kreuzung und Mischung beider Elemente
wahrnehmen, so ist diese wechselnde und wechselseitige Bethätigung
der beiden Mächte ja doch nur eben das was wir Leben heissen.
Und endlich, wenn wir unsern Dichter eine ernste Tendenz in
ernster Weise verfolgen sehen, wenn er öfters mehr Satiriker ist
als komischer Dichter, so mag diess in manchen Augen seinen
poetischen Werth mindern; aber was der Dichter verliert, das
gevnnnt in ihm der Mensch: er steigt in unserer Achtung als
Person, er rückt uns menschlich näher, indem wir hinter der
schönen Form ein warmes Herz durchfühlen, das liebt und hasst
und — irrt, und hinter der lachenden Maske ein ernstes Ange-
sicht gewahren, das oft nur schwer sich der Thränen erwehrt.
Diese ernste Seite unseres Dichters, womit wir uns im Bis-
herigen ausschliesslich beschäftigt haben , ist zwar nur Eine Seite
an ihm , aber doch eine wesentliche und eine solche von welcher
er nicht minder liebenswürdig und dabei reiner sich zeigt als
' von den meisten andern.
Teuf fei, Studien. 8
V.
Zu Sophokles' Oedipus Tyrannus.
l.'^) In der Controverse zwischen Classen und Ribbeck
(rhein. Mus. XHI S. 129 ff. XVI S. 489 ff. 501 ff. ; besonders
abgedruckt Frankfurt 1861. 27 S.) über v. 224 ff. muss auch
ich mich entschieden auf die Seite des Letzteren stellen. Nicht
als ob ich die mancherlei feinen Bemerkungen nicht zu würdigen
wüsste welche Classens Aufsatz enthält und unter denen das über
die chiastische Stellung der Glieder in v. 233 f. Gesagte, sowie
die Erörterung über die Darslellungsweise in v. 255 ff. noch fort-
während von Werth ist. Aber in der Hauptfrage muss ich doch
Ribbeck Recht geben und glaube dass die thatsächlichen Ver-
hältnisse Jeden der sie unbefangen erwägt zu dieser Ueberzeugung
drängen. Man mache sich nur den Gedankengang klar. Oedipus
will, dem Spruche des Apollon gemäss, den Urheber von Laios'
Tödtung ermitteln, um ihn und damit die Seuche aus dem Lande
zu schaffen. Da er, jenem Vorfalle (wie er meint] absolut fremd,
in sich selbst keinen Anhaltspunkt zu dieser Ermittlung findet,
so sieht er sich auf fremde Unterstützung und Mitwirkung ange-,
wiesen, abhängig von Anderer gutem Willen (219 ff.). An diesen
appelliert er mit dem doppelseitigen Befehle, es möge entweder
der Thäter sich selbst melden: es werde ihm nichts zu Leide
geschehen, sondern er ungefährdet über die Grenze gebracht
werden; oder wer den Thäter kenne möge diess offen anzeigen:
der .Anzeigende werde (nicht nur nicht für sein bisheriges
Schweigen bestraft, sondern sogar) in jeder Weise belohnt wer-
den (222 — 232). Dieser directe Weg, wenn er eingeschlagen
würde, wäre natürlich der beste und sicherste. Indessen liegt
*) Aus Fleckeisen's Jahrbb. 1863, S. 393 ff. Vgl. dazu jetzt bes.
Ribbeck*s Epikritische Bemerknngen zur Königsrede im O. J., Kiel
1870* 28 S. 4.
Zu Sqph. Oed. E. 224 ff. 115
die Besorgniss sehr nahe dass dieser Weg nicht eingeschlagen
werden wird, und zwar aus Furcht: von Seiten des Thäters für
sich selbst, von Seiten der Mitwisser für den ihnen möglicher-
weise befreundeten Thäter. Diese Wahrscheinlichkeit muss daher
Oedipus berücksichtigen, und für den Fall dass jener erste Weg
nicht betreten wird, sondern Thäter und Mitwisser schweigen,
eine zweite, eventuelle Massregel treffen (233 — 235). Diese
besteht in dem Befehle den Thäter wenigstens indircct, schweigend,
aus dem Lande zu drängen, dadurch dass man allen Verkehr
mit ihm abbreche und so ihn nöthige das Gebiet Thebens zu ver-
lassen, womit dann gleichfalls die Seuche entfernt, der Haupt-
zweck somit erreicht ist (236 — 243). Die Voraussetzung bei
diesem zweiten, eventuellen Befehle ist (wie bei dem ersten) dass
der Thäter in Theben sei und dass man ihn dort wohl kenne,
wenn man sich auch nicht entschliessen könne dem König dessen
Namen zu nennen. Auf letzteren verzichtet Oedipus eventuell mit
seinem zweiten Befehle: mag er auch niemals den Namen des
Thäters erfahren (vgl. oörig iöxi 236), wenn man nur seiner
Anordnung gemäss den Umgang mit demselben meidet und dadurch
ihn aus dem Lande treibt; aus dem Aufhören der Seuche wird
Oedipus dann schon ersehen dass der Missethäter aus Thebens
Gebiet hinausgedrängt, ApoUons Weisung befolgt ist. Mit diesen
beiden Anordnungen hat Oedipus das Seinige gelhan um dem
Interesse des Getödteten und dem Befehle des Gottes zu genügen
(v. 244 f.) ; es ist nun an den Bürgern auch das Ihrige zu Ihun,
indem sie für die Ausführung dieser Anordnungen des Königs'*')
sorgen, wozu sie dreierlei treiben sollte: der Wunsch dem Be-
fehle ilires Königs nachzukommen, das Verlangen die Weisung
des Apollon zu befolgen, endlich die Bücksicht auf das dringende
Interesse ihres Landes (252 — 254).
Hienach kann vor allem gar keine Bede davon sein dass die
Achtserklärung, also toi/ SvdQu tovtoi/ (236), sich auf den
schweigenden Mitwisser, den Hehler, bezöge. Für diese Be-
ziehung spricht lediglich gar nichts als der grammatische An-
schein, sofern das nächstgelegene Subject rtg (233) ist und man
daher einen Augenblick sich versucht fühlen kann röi/ avöga-
tovrov mit diesem rig in Verbindung zu bringen. Diess aber
*) tavra ndvra (252) von den beiden Anordnungen, von welchen
jede wiedernm sich mehrfach gliedert.
8*
116 Zu Sophokles.
auch nicht länger als einen Augenblick; näheres Nachdenken
muss sofort die Unmöglichkeit dieser Beziehung klar machen.
Um nichts davon zu sagen dass die späteren Worte des Teiresias
und des Oedipus selbst (v. 350 ff. 817 ff.) die Beziehung auf
den Hehler ausschliessen : auch der unmittelbare Zusammenhang
gestattet sie nicht. Schon die Entladung so grossen Eifers gegen
die (oder vielmehr — ein neues Wunder — den) unglücklichen
Mitwisser« die aus blosser Furcht die Anzeige unterlassen, wäre
im höchsten Grade auffallend, und dann ergäbe sich überhaupt
etwas ganz Monströses. Oedipus hat (nach v. 125) Verdacht dass
der Tödtung des Laios politische Motive zu Grunde lagen ^ dass eine
Partei, eine wohl weit verzweigte Verschwörung, dabei die Hand
im Spiele hatte, es konnte also möglicherweise halb Theben dabei
betheiligt sein: Oedipus hätte dann also der einen Hälfte Thebens
zugemutet den Umgang der andern zu meiden, die beiden Hälf-
ten hätten zu diesem Zwecke billig Abzeichen haben müssen,
damit jeder Einzelne wüsste wer zu den Verfehmten gehöre und
wer nicht, der Z^eck aber, das [liae^a aus dem Lande zu
bringen, wurde so keinehfalls erreicht. Kurz, man darf sich nur
die Consequenzen dieser Beziehung auf den Hehler vergegen-
wärtigen und man wird sie alsbald als unmöglich erkennen. Der
grammatische Anschein kann hiergegen nicht ins Gewicht fallen.
Der Mörder ist die Hauptperson, um die sich alle Gedanken des
Oedipus drehen, welche ihm fortwährend vor der Seele steht,
fortwährend geistig gegenwärtig ist, und von der er daher jeden
Augenblick sagen kann tov avSga tovtov.
Was sodann die Umstellung der sechs Verse 246 — 251 be-
trifft, so ist zuerst zu constatieren dass sie unzertrennlich zu-
sammengehören. Das erhellt theils aus den beiden sich offenbar
auf einander beziehenden Anfängen xavsvxoiiac — iicsvxofiacj
theils (wie Ribbeck bemerkt hat) aus der Nothwendigkeit den
Thäter (tov SeS^axota) als Subject für ^wi^ttog zu behalten.
Weiterhin ist zuzugeben dass iy<D [ihv ovv (244) und v[itv dh
(252) sich zur Noth allenfalls auch über die sechs Verse hinüber
auf einander beziehen können, sowie dass rotads (cctcsq tottsS'
ccQrvGjg '^Qa0ä(i7iv 251) auch bei der handschriftlichen Stellung
der Verse eine grammatische Beziehung hat , nämlich auf den
Plural at(O7C'>j6€0d'€ (233). Aber mehr als eine grammatische
und formale auch durchaus nicht. Denn den öKOTCfi^öiisvot hat
Oedipus, wie unsere Darlegung gezeigt hat, im Vorhergehenden
Oed. R. 224 ff. 246 ff. 117
lediglich nichts angewünscht {i^gaöäiLtiv), vielmehr ihnen befohlen
{anavdä 236) wenigstens indirect auf den Thäter einzuwirken»
durch Meiden des Umgangs mit ihm seine Entfernung aus dem
Lande herbeizufuhren. Es bleibt also dabei dass bei der über-
lieferten Stellung der Verse rot^ds keine vernünftige Beziehung
hat, dass somit diese Stellung schon desshalb zu ändern ist.
Und da ist die einzige methodische Aenderung die von Ribbeck
vorgeschlagene, welche die sechs Verse beisammen lässt, welche
sie an eine Stelle setzt wo Alles aufs Beste zusammenstimmt,
welche endlich die Entstehung der handschriftlichen Stellung auf
einleuchtende Weise erklärt.
Dass 244 f. und 252 — 254 bei der Umstellung vollkommen
zusammenstimmen haben wir schon dargelegt; aber auch das
\yeitere (255 ff.) ist jetzt ganz klar. JVachdem in v. 253 f. die
drei Beweggründe zusammengefasst waren aus welchen die the-
bäischen Bürger (beziehungsweise deren Vertreter, der Chor) zur
Ausführung der Anordnungen des Oedipus mitwirken müssen,
wird daran ein weiteres Motiv zur Verfolgung der Sache ange-
reiht (255 — 268), ein Motiv welches der Person und Stellung
des Laios entnommen ist und welches sich auf die beiden vorher
mit iym [ihv ovv . . v^lIv dl Auseinandergehaltenen gleichzeitig
erstreckt, sowohl auf die Bürger als auf Oedipus, wobei es ganz
natürlich ist dass der Redende seine persönliche Beziehung be-
sonders eingehend darlegt. Nachdem so von allen Seiten her
sich die dringendsten Motive zur Aufklärung der schwebenden
Frage ergeben haben, zieht pedipus noch einmal die daraus
fliessende praktische Folgerung: also müssen alle Theile zusam-
menwirken zu dieser Aufklärung, also ist es ein wahres Verbrechen
und fluchwürdig wenn nicht Jeder thut was in seinen Kräften
steht, um jenen Zweck zu erreichen. Wer also den Thäter kennt
und ihn nicht entweder geradeswegs anzeigt oder auf indirectem
Wege nöthigt das Land zu verlassen, der verdient nicht nur
das Unglück das jetzt auf der Stadt Jastet, sondern sogar noch
schwereres (269 — 272); wer die That begangen hat und nicht
jetzt sich dazu bekennt {XBXri%'Bv 247), der verdient für sein
ganzes weiteres Leben das schlimmste Loos {xatsvxo^cct . .
ßtov) ^) ; und endlich scliliesst Oedipus sich selbst noch ganz aus-
*] Die Verfluchnng des Mörders ist also doch gewiss in diesem
Znsammenhange sehr wohl motiviert.
118 Zu Sophokles.
drücklich ein in die so eben gegen den Hehler und Thäter aus-
gesprochenen Verwünschungen (Stcsq tolöd* ägrias riQa6äiii]v),
für den Fall dass er dem Thäter irgend welche Förderung zu Theil
werden Hesse, oder — denn auch diess kann in den Worten mit ent-
halten sein — für den Fall dass eines seiner nächsten Angehörigen
(etwa lokaste) sich als Thäter oder Anstifter oder Mitschuldiger er-
weisen würde und er nicht Alles aufböte um der Weisung des Gottes
zu entsprechen. An diese Bedrohungen wird schliesslich die KehrseiCe
angefügt, Segenswünsche für alle diejenigen welche seinen Anordnun-
gen Folge leisten und zur Entfernung des [liccaiia irgendwie beitragen.
Dass die sechs Verse ausfielen, davon ist die Ursache viel-
leicht in dem Umstände zu suchen dass sie die Aufeinanderbe-
ziehung der Worte raika rotg fi^ 8Qä0iv und vintv totg aXXoi0i
Kad^SLOig auf ungehörige» Weise zu unterbrechen schienen, ^s
ist diess in Wahrheit nicht der Fall: denn die beiden Glieder
sind so deutlich ausgeprägt dass ihre gegenseitige Beziehung auch
nach einer noch längeren Unterbrechung ganz unverkennbar
wäre; zudem erfolgt unmittelbar vor dem zweiten Gliede eine
Art Zusammenfassung des ersten durch rotöds, und endlich ist
das rotg äkkotac Kaö^eioig sogar erst jetzt genau richtig, da
es den Rest bezeichnet welcher bleibt wenn man alle diejenigen
abzieht welche ihrer Pflicht nicht nachkommen, sowohl den Mörder,
wenn er sich nicht selbst meldet, als die Mitwisser welche nicht
direct oder indlrect die Entfernung des Mörders bewirken, und
mit diesen eventuell auch Oedipus selbst, wenn er je sich das
Gleiche zu Schulden kommen liesße. Aber, wie gesagt, irgend
Jemandem konnte es scheinen als ob die sechs Verse störend
wären und mit ihrer Beseitigung dem Dichter ein Liebesdienst
erwiesen würde, in einem Bühnenexemplar z. B. konnten sie
weggelassen sein und dann aus einem andern Exemplar an der
unrichtigen Stelle , vor dem unrichtigen v[itv äs, eingefügt werden.
2.''') Wie Oedipus, nachdem er sich selbst geblendet, wieder
auf die Bühne tritt spricht der Chor in einem anapästischen
System sein Entsetzen über den Anblick aus und fügt dann hinzu:
all* ovd' iaiSsiv
SvvafiaC <fc, &iXav nolX' ivsgsad'ai,,
nolla nvd'ecd'ai, nolXa d' d^griaai,
*) Aus Fleckeisen's Jahrbb. 97 (1868) S. 752.
Oed. R. 1304 ff. 1424 ff. 119
Nauck klammert die Worte sroAA' dvsQs^d'ac bis d&Q'^aac „als
einen absurden Zusatz" ein und begründet dieses derbe Urteil
damit dass man Jemand befragen könne aucb ohne ihn anzusehen,
und den „Oedipus Vieles zu befragen hat der Chor den ge-
ringsten Anlass; vielmehr wäre es im höchsten Grade tactlos
wenn der Chor den unglücklichen geblendeten König mit vielen
Fragen bestürmte/' Diese Motivierung ist ganz unzureichend.
Der Chor hat schon im Vorhergehenden an Oedipus zwei Fragen
gerichtet: tig tf', cl rA^ftov, | ngo^ißri ^navCa; reg 6 ni]di^(Sag
u. s. w. , und richtet v. 1327 f. noch weitere an. ihn: TtiSg ezlrig
xovavxa öäg \ o^ffsig iiaQcivai; tCg <;' in^QS daiiiovov; ohne
dass man darin irgend etwas Unpassendes finden könnte. Die
Situation ist eine ähnliche wie in Aeschylos' Persern, wo nach
dem Erscheinen des bIS&Xov ^JaQsiov der Chor die Antwort
auf dessen Fragen ablehnt (v. 694 ff.):
cißopbai &' dvxCa Xi^at
ei^Bv aQxaitp nBql zdqßu.
Die Vermittlung liegt in o{>di: ,, während ich so manche (weitere)
Frage an dich richten möchte, finde ich vor Grauen in mir nicht
einmal den Mut dich anzusehen." Auch ist wenig wahrschein-
lich dass ein Interpolator, wenn er ein Object zu %^iXa)v ver-
misste, deren gleich drei eingefugt hätte.- Gegründeteren Anstoss
bieten die Worte TiokXd xv^iad'at, nokXd d' a%^Qii0aL, Einmal
enthält die dreimalige Wiederholung von noXXä einen ganz zweck-
losen Aufwand von Rhetorik; sodann ist nv^ia^m tautologisch
mit dvegia^ai-j endlich ist dd'Q^öav schief, theils in seinem
Verhältniss zu iöidelv theils in seiner Stellung nach avegiiS^at
und nvd'io^ai. Ich halte daher diese Worte — aber nur diese,
nicht auch nolV dvsQsöd'aL — für eine Interpolation, für eine
Ausweitung des ^iX&v tcoIV dveQsad'aCy bei welcher ihr Ur-
heber offenbar keinen grossen Aufwand von Geist und Kunst zu
machen brauchte und auch nicht gemacht hat.
3.*) V. 1409 — 1437 sind namentlich die Worte Kreons
v. 1424 ff. neuestens Gegenstand mehrfacher Erörterungen ge-
worden. A. Nauck, zuerst in seiner Bearbeitung der Schneide-
win'schen Ausgabe und dann im Philologus XII. S. 635. hat be-
*) Aus Fleckeisen's Jahrbb. 79 (1859) S. 322 ff.
120 Zu Sophokles.
hauptet, dieselben passen nur in den Mund von Oedipus. Dessen
Verzweiflung sei es „angemessen zu. meinen, Himmel und Erde
mussten vor solcher Befleckung schaudernd zurückweichen, und
der Sonnengott werde durch seinen Anblick beleidigt. In dem
Munde jedes Andern wären die Worte unmenschlich, selbst wenn
Oedipus kein Mitleid verdiente." Er gründet darauf die Vermutung
dass die bezeichneten acht Verse zwischen 1415 und 1416 ein-
zuschalten seien, so dass sie mit den vorausgehenden acht Versen
(1416 — 1423) die Stelle wechseln. Mir scheint das Angeführte
keine zureichende Begründung dieser Vermutung. Kreons Be-
weggrund zu diesen seinen Worten ist ein wohlmeinender, er
gründet sich auf herzliches Mitleid mit des Oedipus Lage, wenn
es auch zunächst das Gefühl für Familienehre sein mag was es
ihm als empörend erscheinen lässt dass der Chor den unglück-
lichen Oedipus so als Gegenstand der öffentlichen Neugierde da-
stehen sehen kann. Etwas „Unmenschliches'' vermag ich daher
in Kreons Worten schlechterdings nicht zu entdecken, Nauck
hätte desshalb wohl besser daran gethan seine Vermutung zu
stützen vielmehr auf den unangenehm raschen Wechsel des Tones
und Inhaltes welchen die fraglichen Worte Kreons zeigen. Kaum
hat er mit zwei Versen den Oedipus beruhigt, so fährt er Jäh-
lings, und ohne dass die verschiedene Richtung seiner neuen
Worte eigens markiert würde, scheltend über den Chor her.
Auch die Aufeinanderbeziehung von xaAv^ar' (1411) und axd-
XvTCtov SsLxvvvaL (1427), wenigstens nach der Aenderung welche
Nauck V. 1411 f. vorgeschlagen, konnte dieser für seine Um-
stellung der acht Verse geltend machen.
Die zunächst dagegen sich aufdrängende Einwendung hat schon
H. Bonitz ausgesprochen (Z. f. d. Ostreich. Gymn. 1857 S. 164 f.).
Wenn Oedipus es ist der den Wunsch ausspricht ig olxov
söxogii^sTS u. s. w. so verlangt er damit das directe Gegentheil
von dem was er sonst fortwährend haben will, el^ca fis xaXvtlfoctB
oder ixQiilfar€ 1410 f., pr^di/ (is y^g ix tijöös 1436, y% ft'
OTtcag 7tB(i7p€ig anoixov 1518, wie er denn Kreons Weisung t%i
ütiyrig bCg) (1515) nur mit Widerstreben befolgt {Tteiatiov, xsl
firidhv i^dv 1516). Auch mit v. 1287 — 1291 scheint jene Zu-
theilung nicht vereinbar, wornach Oedipus selbst verlangt hat
dass man ihn herausführe und allen Thebanern zeige (und jetzt
sollte er dem unschuldigen Chor Vorwürfe darüber machen dass
diess geschehen!), und seinen Entschluss aussprach <6g ix x^ovög
Oed. R. 1409ff. 121
qI'^ov iavtov, oi)d' in fisvaiv So^ioLg ä^atog (1290 f.).
Diese Einwendungen hat Nauck a. 0. S. 636 f. zu beseitigen ge-
sucht. Er sagt: „Oedipus wünscht schleunigst in das Haus gebracht
zu werden, nicht etwa um darin zu bleiben, sondern um bei seinen
nächsten Verwandten die Erhörung zu finden die der Chor ihm
schweigend versagt hat, die Erhörung seiner Bitte um Tod oder
Verbannung. Aus dem Schweigen des Chors nach v. 1412 schloss
Oedipus, der Chor meide ihn, um nicht durch seine Berührung
befleckt zu werden. Daher die Bitte (1413 f.), würdigt mich
der Berührung, fürchtet euch nicht u. s. w. Als auch darauf
der Chor schweigt, beschwört ihn Oedipus 1424 — 31 ihn ins
Haus zu .bringen um der dem Helios gehörenden Scheu willen:
seine Verwandten, so hofi't der Unglückliche, werden noch am
ehesten seine Gemeinschaft insoweit zu tragen im Stande sein
dass sie eine Bitte ihm erfüllen. Auf das Begehren des Oed. zu
seinen Angehörigen gebracht zu werden passt vortrefllich dass
die Ankunft des Kreon gemeldet wird (1416 -—18), der als Ver-
wandter ihm nahe steht und als Nachfolger in den Herrschaft
Massregeln zu treffen hat um den Zorn des Apollon zu versöhnen.
Und nun wird es nicht weiter auffallen wenn Oed. dem Kreon gegen-
über nur den Wunsch ausspricht aus dem Lande gebracht zu
werden." Aber diese angeblich einfache Lösung hat in Wahrheit
wenig Einleuchtendes. Nicht nur dass der Dichter sich einer
grossen Undeutlichkeit schuldig gemacht hätte wenn er den Oed.
einen Wunsch aussprechen Hess der mit dem oftmals von ihm
ausgesprochenen im geradesten Widerspruch stand, ohne doch
diesen neuen Wunsch irgendwie zu motivieren, sondern es ist
auch die dem Chor dabei zugetheilte Rolle eine unbegreifliche.
•
Er, der sonst so wenig schweigsame und fortwährend gegen Oed.
wohlwollend gestimmte, soll durch sein beharrliches Schweigen
diesen zur Verzweiflung, bringen, ohne dass doch zu diesem
Schweigen selbst ein vernünftiger Grund abzusehen wäre, da
der Chor sehr leicht mit wenigen Worten ^ie Entscheidung über
Oedipus' Wunsch ablehnen und auf Kreon verweisen konnte, und
ohne dass Oedipus je sich über dieses Schweigen ausdrücklich
beklagen würde! Sodann wer sollen die „nächsten Verwandten",
die „Angehörigen" sein zu welchen Oed. gebracht sein will, um
von ihnen Tod oder Verbannung zu erlangen? Etwa Kreon?
Aber dessen Auftreten erfüllt ihn ja mit Angst und Verlegenheit
wegen des Unrechts das er sich bewusst ist ihm früher angethau
122 Zu Sophokles.
zu haben; wie viel weniger kann es ihm einfallen selbst ihn
aufsuchen zu wollen! Oder seine Kinder ? Von diesen soller
Tod oder Verbannung hoffen? Endlich wäre das Abrupte (les
Uebergangs in den scheltenden Ton bei dieser Anordnung nicht
gebessert, sondern eher verschlimmert. Denn nun sind es die
gleichen Personen (der Chor) welche zuerst flehentlich gebeten
und dann ungeduldig gescholten werden, und der diess thut ist
nicht Kreon, noch auch Oedipus auf der Höhe seines Glückes,
welcher allerdings den Teiresias v. 330 in dieser Weise behandelt
hat| sondern der gedemutigte, gebeugte, gebrochene, von Rüh-
rung überfliessende Oedipus; und wer dem Chor Vorwurfe darüber
macht dass sie tovovS* ayog axäkimr(yv Ssmvvvai können ist
derjenige welcher dieses detxvvvai selbst einzig und allein und
stürmisch verlangt, veranlasst und herbeigeführt hat (1287 ff.).
Auch wären die zwei Verse (1422 f.) für den neu und in einer
unerwarteten Stimmung und Absicht auftretenden Kreon viel zu
wenig und ständen zu kahl da; man sollte nach der negativen
Erklärung ovx Aq ysXaetrjg u. s. w. schlechterdings auch eine
positive erwarten.*) So sehr ich daher auch das Vorhandensein
von Schwierigkeiten in der Stelle anerkenne, so -kann ich doch
nicht glauben dass sie durch Nauck's Umstellung gehoben seien;
im Gegentheil finde ich dass dadurch an die Stelle der vorhan-
denen andere, und sogar grössere, gesetzt werden. Ich möchte
daher eher annehmen dass nach v. 1423 (der handschriftlichen
Anordnung) einige Verse ausgefallen sind, worin Kreon seine
positive Gesinnung und Absicht gegenüber von Oedipus ausge-
sprochen und dann sich zum Chor gewendet hätte, diesem sein
Befremden über dessen Verfahren ausdrückend, über ihr o^
xatacex^^^^^^f' ^vijtovSf worauf er dann fortfuhr aAA' sl tä
d'VTjtäv u. s. w. (1424 ff.). Die Ursache des Ausfalls läge in
dem Umstände dass die betreffenden Worte gleichfalls (wie v.
1424) mit aAA' begannen (nach ovts-ovrs).
Ich glaube dass dieser Vorschlag weniger gewaltsam ist und
doch gründlicher hilft als der von Nauck. Zugleich hat die An-
nahme eines solchen Ausfalles um so weniger Bedenkliches da der
Schluss des König Oedipus uns überhaupt in einer sehr verderb-
*) Nur einen kleinen Theil dieser Schwierigkeiten beseitigt die An-
nahme von Bergk (in der B. Tauchnitzischen Ausgabe) , dass nach y. 1416
und vor den bei Nauck*s Abtheilung nachfolgenden Worten äXX' sl ta
9'vritcov u. s. w. etwa drei Verse des Chors ausgefallen seien.
Oed. R. 1409 ff. 1424 ff. 1515 ff. " 123
ten Gestalt überliefert ist. Ueberall stösst man auf Anstände, und
namentlich von v. 1515 an nehmen die Wiederholungen, Wider-
sprüche und Tnconvenienzen in einem solchen Masse zu dass man
beinahe zweifeln möchte ob diess wirklich der von Sopokles selbst
für dieses Stück, in seiner jetzigen Gestalt, bestimmte Schluss
ist, und die Frage entsteht ob wir in diesen Trochaeen nicht
vielmehr den Ueberrest eines älteren Schlusses oder gar eine
fremde Hinzudithtung für eine spätere Aufführung des Stückes
besitzen.
Darjuber*) dass die Stelle v. 1424 — 1431 nicht in Ordnung
sei herrscht ziemlich allgemeines Einverständniss; denn das Um-
springen des Sinnes und Tones gegenüber den unmittelbar vor-
ausgehenden zwei Versen ist unverkennbar. Meinungsverschieden-
heit bestellt nur über die Frage wo das Uebel sitze und wie
ihm abzuhelfen sei. Während im Vorstehenden eine Lücke von
einigen Versen zwischen 1423 und 1424 angenommen ist, hat
Nauck diese Annahme, in dem autokratischen Tone den er sich
angewöhnt, abgewiesen und in der neuesten Ausgabe seine Hypo-
these „wie sichs gebürf' kurzweg in den Text gesetzt. Nach
dieser sind die Verse nicht Worte des Kreon, sondern des Oedipus,
und an den Schluss von dessen Rede, nach v. 1415*; zu stellen.
Ich habe diesen Vorschlag nochmals mit aller Unbefangenheit
geprüft, aber noch immer nicht mich von seiner Richtigkeit über-
zeugen können. Die acht Verse enthalten die dringende Weisung
das äyog (den Oedipus) nicht so öffentlich dastehen zu lassen,
sondern ins Haus zu bringen, wenn nicht aus Rücksicht auf die
Menschen, so doch jedenfalls auf Helios. Dieser Inhalt und das
Vorwurfsvolle des Tones passt wenig in den Mund des Oedipus,
welcher vorher vielmehr selber ungestüm verlangt hatte aus dem
Hause hinausgeführt zu werden (1287 ff.) und auch jetzt noch
fortwährend nur den Wunsch hegt und anspricht, gegen den Chor
und gegen Kreon (1410 ff. 1436 ff. 1449 ff.) , auf irgend welche
Weise aus dem Lande weggebracht zu werden, noch 1516 die
Aufforderung ins Haus hineinzugehen mit den Worten erwidert:
nBL0xeov xsi fir^dhv ^Sv und vielmehr (1518) abermals Kreon
bittet: y^g fi* oTtog TCs^ipstg &n:oixov,**) Um so besser passen
die Verse in den Mund eines Neuauftretenden wie Kreon, der
*) Aus Fleckeisen's Jahrbb. 1869 S. 29 f.
**) Diess wohl auch iminteresse der Anknüpfung an denKoIonos-Mythus,
124 Zu Sophokles und Euripides.
bei dem greulichen Anblicke der sich ihm darbietet vor Allem
wünscht dass derselbe dem Auge der Neugierde oder gar Schaden-
freude entzogen werde, ynd v. 1515 wiederholt den Oedipus
nach Hause verweist {dXl^ td'i 6riyijg iöcai), . Insbesondere die
Worte roiovd^ ayog , . to fiifr« y^ fii/r' ofißQog Igog fii^rs q)f3g
yeQoedilBtat , ganz geeignet zur Begründung des Befehles dieses
ayog im Hause zu verbergen , stehen in Widerspruch mit dem
von Oedipus in erster Reihe ausgesprochenen Wunsche aus dem
Lande gestossen oder ins Meer geworfen zu werden."? Ferner
ist das Lob als Sgiarog welches v. 1433 Oedipus dem Kreon
spendet durch die zwei kurzen, blos negative Bestimmungen
enthaltenden Verse 1422 f. noch nicht genügend begründet und
lässt auch eine positive Ausführung (nach v. 1423), wie ich sie
vermutete^ erwarten. Endlich erklärt sich das von mir ange-
nommene Ausfallen der Verse sehr leicht durch Ueberspringen
des Auges von dem einen c?AA' auf ein anderes, gleichfalls zu
Anfang des Verses stehendes, während mir nicht bekannt ist dass
Nauck die Entstehung der von ihm behaupteten Umstellung zu
erklären vermocht hätte. Es musste dies denn in den von ihm
angeführten melanges greco-romains II s. 700 f. geschehen sein,
welche mir nicht zugänglich sind.
In*) der Hypothesis zu Euripides' Alk es tis, welche wir dem
cod. Vatic. verdanken , findet sich die Notiz : ro Sgafia i7tocij%7i
t^. So wichtig diese an sich sein könnte, so sehr verliert sie
an Bedeutung, wenn wir uns erinnern dass die Zahl 17 gerade
diejenige ist welche sich ergibt wenn wir das Auffühningsjahr
der Alkestis (438 v. Chr.) abziehen von dem Jahre in welchem
Euripides zum ersten Male eine Tetralogie auf die Bühne brachte
(455 V. Chr.). Der Urheber jener Notiz dachte sich also dass
Euripides von da an jedes Jahr etwas aufgeführt haben werde,
und gelangte so für die Alkestistetralogie zu der Numer 17. Dass
dieser Gedanke in der Hypothesis durch ro Sgäfia in:, i^ sehr
unvollkommen ausgedrückt ist stösst jene Erklärung nicht um.
*) Aus dem Rhein. Maseum XXT, S. 471.
VI.
Zu Piaton.
1. Zur Politeia.
a) Einleitung.*)
Platon's Politeia bildet theils nach ihrer äusseren Einkleidung
tbeils nach dem inneren Zusammenhange des Systems ein Glied
in einer grösseren Gruppe von Schriften: mit dem Timaios und
Kritias zusammen bildet sie eine Art von Trilogie, an die sich
weiterhin die Nomoi anschliessen. Die Einkleidung ist nämlich
nach dem Anfange des Timaios folgende: Im Hause des Kritias
ist eine Gesellschaft beim Mahle beisammen, ausser dem Haus-
herrn bestehend aus Sokrates, Timaios, Hermokrates, und noch
einem Vierten der nicht genannt wird und am zweiten Tage
wegen Unbässlichkeit wegbleibt. Der Reihe nach geben die Gäste
ihren Beitrag zur . gemeinsamen Unterhaltung. Zuerst bekommt
Sokrates das Wort und erzählt das Gespräch* das er am Tage
zuvor gehalten; diese Erzählung , welche den ganzen Tag ausfüllt,
ist eben die Politeia. Die Fortsetzung des Rundgespräches erfolgt
am nächsten Tage, wo denn Timaios sein naturphilosophisches
System, Kritias seine Geschichte des atlantischen (altathenischen?)
Idealstaates vorträgt. Ohne Zweifel sollte auch noch Hermokrates
einen längeren Vortrag halten und das Ganze somit eine Tetra-
logie bilden; aber schon der Kritias ist nicht mehr vollendet,
geschweige denn dass Hermokrates noch zum Vi^orte käme. Diess
das Aeussere; der innere Zusammenhang der Werke aber beruht
auf der grossarligen Grundanschauung Platon's, dass Individuum,
Staat und Welt nicht qualitativ, sondern einzig quantitativ ver-
schiedene Begriffe seien, dass in allen dreien dieselben Grund-
*) Aus der Ueborsetzung des Werkes, Stattgart 1856.
126 Zu Piaton.
kräfte wirken, alle drei wesentlich dieselbe Organisation und
Gliederung haben, in allen dieselbe Idee, nur bei dem einen in
kleinerer, bei dem andern in grösserer Schrift, ausgedrückt sei,
so dass wie der Einzelne ein Staat und eine Welt im Kleinen,
so andererseits die Welt und der Staat nur ein im grossen Mass-
stabe ausgeführtes Individuum, jener ein Mikrokosmos, dieser ein
Makranthropos ist. Wie nun die Politeia die Verwirklichung
des Sittlichen im Leben des Einzelnen und in der Gestaltung
des Staates darstellt, so der Timaios dessen Verwirklichung im
grossen Ganzen der Welt, in der Gestaltung des Universum ; und
während die Politeia das Ideal eines Menschen und eines Staates
in dem. luftigen Elemente des Gedankens aufbaut, so schaut der
Kritias dasselbe als in einem bestehenden Lande, seiner Atlantis,
verwirklicht an.
Hiemit haben wir bereits eine alte Streitfrage erledigt^ die
Frage nämlich was der eigentliche Zweck der Politeia sei, ob
die Erörterung des Begriffes des Sittlichen {Sixaiov) oder die
Darstellung des Staates wie er sein soll. Beide Ansichten haben
von jeher ihre Vertheidiger gefunden , die erste z. B. an Morgen-
stern und Schleiermacher, die zweite neuerdings in Rettig; und
das Merkwürdigste an der Sache war dass beide Theile sich auf
Platon's eigenes Zeugniss beriefen, und beide Theile so ziemlich
mit gleichem Rechte. Während nämlich die Verfechter der vor-
zugsweise ethischen Abzweckung des Werkes darauf hinwiesen
dass Piaton selbst (II. p. 36.8 C.) den Sokrates die Auseinander-
setzung des Musterstaates nur als Mittel zur Verdeutlichung des
Begriffes der dL7caio0vvri darstellen lässt und dass er zu diesem
Begriffe zurückkehrend wiederholt denselben als eigentlichen Zweck
seiner Erörterung bezeichnet (IV. p. 430 D. 434 E. V. p. 471
B. u. sonst) — machten dagegen die Anhänger der entgegen-
gesetzten Ansicht vor Allem auf den Titel des Werkes, jcokitsla,
aufmerksam, der doch von Piaton herrühren müsse, da nicht
nur Aristoteles (z. B. Pol. il, 1 extr. p. 23. 19. 22. Bekk. IV, 3. p.
120 G. V, 10. p. 193. G. 12/ p. 162. B.), Cicero (Legg. II, 6.),
Doxopater zu Aphthon. IL p. 130 (Walz) u. A. ihn unter dem-
selben eitleren, sondern sogar Piaton selbst im Timaios (p. 17 C:
TceQi nokix aCag ^v x6 HBq>dkaiov) und in den Gesetzen (V. p.
739 B.). Und doch bewies jede von beiden Ansichten ihre Ein-
seiligkeit und Unzuläpglichkeit dadurch dass sie je die andere
Hälfte der ganzen Schrift für eine Abschweifung zu erklären
Einleitung zur Politeia. 127
genöthigt war.*) Den wahren Sachverhalt hat zuerst Stallbaum
in der Einleitung zu seiner Ausgabe,**) mit grösserer Schärfe
dann K. Fr. Hermann in der Recension der Stallbaum'schen Aus^-
gabe (AUg. Schulz. 1831; erweitert in seinen Gesammelten Ab-
handlungen I., Göttingen 1849, S. 132 ff.) und in seiner Schrift
über Geschichte und System der Platonischen Philosophie dar-
gelegt. Weder in dem einen noch in dem andern für sich ge-
nommen ist der Zweck des Werks erschöpft, sondern nur in
Beidem zusammen, in der Einheit beider; und dass Piaton über
seine eigentliche Absicht einander scheinbar widersprechende An-
deutungen g^b ist eine Neckerei wie sie Künstler — und Piaton
auch sonst oft — üben, um gleichsam die Fugen und Nähte
ihrer Arbeit zu verstecken. Zudem war die Benennung Politeia
vollständig damit gerechtfertigt dass die Darstellung des Muster-
staates wirklich den grössten Theil des Raums einnimmt und das
am meisten Eigenthümliche ist. Die beiden Bestandtheile, die
Erörterung über das dUaiov im platonischen Sinne des Worts
und die Auseinandersetzung über das Staatsideal, verhallen sich
zu einander theils wie Fundament und Gebäude, theils sind sie,
sofern die ethische Begriffsbestimmung zugleich eine Beschreibung
der Erscheinung des Begriffs im Individuum ist. Ausfuhrung des-
selben Verhältnisses nur in verschiedenen Massstäben, gerade wie
der Mathematiker ein Verhältniss nach Bedürfniss bald durch
1 : 2 bald durch 10: 20 ausdrückt, und wie der Hellene über-
haupt den Menschen und den Bürger sich unauflöslich ineinander
verschlungen , die Sittlichkeit des Einzelnen und die des Staats-
ganzen in einem Verhältniss der Wechselwirkung denkt.. Für
den Hellenen alten Schlags ist der Staat nicht die Summe der
Einzelwillen, sondern der dem Einzelwillen bestimmende absolute
Wille; da für ihn im Staate das an sich Gute verwirklicht ist,
so helsst den Gesetzen des Staates treu und gehorsam sein: ab-
solut gut sein; das Verhalten der Substanz des Staates zum Indi-
viduum ist sozusagen ein pädagogisches: das Individuum, der
*) Z. B. Schleiermacher S. 63: Die Frage von der Förderlichkeit
eines gerechten und sittUchen Lehens ist die Hauptsache; was sich
nicht daranf bezieht ist Abschweifung.
**) Stallbaum gibt p. LIII und sonst als Zweck Platon*s an: nt
proponeret imaginem perfectae et consummatae virtutis humanae, qnalis
cum in ipsis hominum singulorum animis tum in civil! societatc inesse.
deberet, eiusque vim et praestantiam ostenderet.
128 Za Piaton.
Bürger muss gut sein, er mag wollen oder nicht, sonst trifft ihn
die Strafe des Gesetzes. Während der moderne Staat, aufgebaut
aus reich und selbständig entwiclielten Individualitäten, nur
deren arithmetisches Ergebniss ist und die Sorge für die un-
gehemmte Entwicklung und Förderung derselben zur Aufgabe hat,
so ist dagegen der antike Staat, in seiner begrifflichen Reinheit
aufgefasst, Selbstzweck, ist das Höhere dem der Einzelne sich
unterordnen , das Absolute nach dem er sich bilden muss. Dieses
uralte Princip des hellenischen Staatslebens war indessen durch
den Gang der geistigen Entwicklung, durch welchen das Indi-
viduum zu immer grösserer Ausbildung und damit Geltung gelangt
war, längst durchlöchert, ja zertrümmert worden; nur Sparta hielt
noch daran fest, weil es Lykurg gelungen war jenes Princip in
so ehernen Formen zu verkörpern- dass diese noch aufrecht blieben
als der Geist schon aus ihnen gewichen war, und Sparta noch
in einsamer Pracht, eine stolze Ruine, dastand, als um sie her
schon Alles in Auflösung gerathen war. Diese Thatsache brachte
in der Zeit des Verfalls alier Orten schärfer Blickende auf den
Gedanken, nur durch Rückkehr zu dem alten Principe der un-
reflectierten Hingabe an das im Staate vemirklichte Sittliche lasse
sich dem immer weiter um sich greifenden Verderben steuern,
nur durch Aufnahme spartanischer Einrichtungen Sparta's Festig-
keit in allen Stürmen sich erwerben. Aus dieser an sich wohl-
gemeinten Restaurationspolitik gieng der Widerstand hervor welchen
man allenthalben den Sophisten entgegensetzte, die mit klarstem
Bewusstsein den diametralen Gegensatz jenes alten Principes bildeten
und lehrten; auf dieser reactionären Richtung beruht auch der
Process des Sokrates, welchen der souveräne Unverstand wegen
mancher Berührungspunkte einfach mit den Sophisten zusammen-
warf, ja in ihm sogar einen potenzierten Sophisten zu erkennen
glaubte, daher Piaton nicht müde wird in seinen Dialogen den
Unterschied Beider und den Kampf des Sokrates mit den Sophisten
hervorzuheben. *)
Im Wesentlichen dieselbe Richtung hatte wie Isokrates und
Xenophon so besonders auch Piaton. Auch er sab dass die
Strömung der Zeit einem Abgrund zugehe, und vermäss sich in
seinem edlen Eifer die unaufhaltsame aufhalten zu wollen. **) Der
•) Vgl. oben 8. 103 ff.
**) Zeuge seiner Bewunderung für die lykurgische Verfassung ist
z. B. die AeusseruDg im Gastmahl p. 209 D.
Einleitung zur Politeia. 129
Ausdruck dieses Bestrebens ist eben die Politeia. In ihr trilt^
wie K. F. Hermann (Scimlztg. 1831. S. 646) schön sagt, nocli
einmal das uralle Princip des griechischen Staatslebens vor unser
Auge in einer durch den transcendentalen Schwung des philo-
sophischen Bewusstseins idealisierten Gestalt, in welcher wir
aber jene nämliche Sonne nicht verkennen können die nach der
Morgenröthe der homerischen Heldenzeit in Lykurg's Gesetz-
gebung aufgieng und in der Demokratie der Sieger von Marathon ,
culminierle. Aus dieser Innern Verwandtschaft, dieser Gemeinsam-
keit des Princips, erklärt sich denn auch die auffallende Aehnlich-
keit welche viele Einrichtungen des platonischen idealstaates mit
lykurgischen haben , eine Aehnlichkeit auf welche zuerst Morgen-
stern p. 305 — 314 aufmerksam gemacht und welche neuerdings
K. F. Hermann mit Gelehrsamkeit und Sciiarfsinn nachgewiesen
hat in seinen gesammelten Schriften (Göttingen 1849) S. 132
bis 159. Direct spricht sich diese Uebereinstimmung freilich
nirgends aus, wie überhaupt Piaton in dieser Schrift eine un-
verkennbare Abneigung zeigt aus dem Kreise der Abstraction und
Speculation herauszutreten und auf die concreten Verhältnisse
der Wirklichkeit sich einzulassen; vgl. HI. p. 394 D. 399 A.
400 A — C. Nur mittelbar und verhüllt polemisiert er manchmal
gegen Zustände seiner Zeit und Umgebung, wie IV. p. 425 E.
426 A. ff. VI. p. 492 A - C. 494 C. 497 E f. VH. p. 520 E. 529 A.
537 E. 539 D. VIH passim, bes. p. 557 f. IX a. E.
In dem Bisherigen ist theilweise schon die Antwort ent-
halten auf die Frage warum Pläton das Sittliche durchaus nur
in einem Staatsorganismus sich verwirklichen lasse, statt, wie
doch näher läge und die neuere Philosophie thut, in dem Ganzen
der Menschheit überhaupt. Diess hat seinen Grund einfach darin
dass die Menschheit als CoUectivbegriff für den Hellenen gar nicht
vorhanden ist. Das Bedürfniss fest geregelten Anschlusses an
Gleichartige, der Trieb zur Organisation ist nach hellenischen
Begriffen ein zum Wesen des Menschen gehöriges Merkmal, der
Mensch ist ^g5ov TcqXixiTtov, wie Aristoteles sagt. Nur in Gemein-
wesen, in TColsLQ, gegliedert kann der Hellene sich den Menschen
denken; was keine solche Verbindung bildet ist für ihn gar kein
Mensch. Der Hellene lässt seinen Blick nicht ins Unermess-
liche, Leere schweifen, er betrachtet sich nicht als Weltburger
— was ja auch streng genommen ein sich widersprechender
Begriff ist — sondern als Burger eines concreten Organismus,
Tenffel, Studien. 9
130 . . Zu Piaton.
in dessen natürlicher Begrenzung er nicht eine hemmende Schranke,
sondern eine schirmende Mauer erblickt. Ohne vollständig das
hellenische Wesen abgestreift zu haben hätte daher Piaton gar nicht
auf den Gedanken kommen können die Menschheit als die Ver-
wirklichung der Idee aufzufassen» und wir haben ja im Gegentheil
gesehen dass er bemuht war das althellenische Princip in möglich-
ster Strenge und Reinheit wiederherzuslellen. Wollte er ein starkes
Centrum, so musste er auch die Peripherie fest und klar abgrenzen-
Dieser nationale Charakter der platonischen Denkweise tritt
in der Politeia zum Theil sogar in schroffer Weise zu Tage, wenn,
sie z. B. gegen Nichthelienen Grausamkeiten aller Art gestattet
(V. p. 470 A. — 471 B.) und sie überhaupt als die geborenen
Feinde der Hellenen* bezeichnet (p. 470 C), auf welche der
Philosoph gerne die Streitlust seines Volkes ableitete. Nur dagegen
dass Hellenen durch Hellenen zu Sklaven gemacht werden sträubt
sich Plalon's Bewusstsein (V. p. .469 B. C), und er spricht es
auch (V. p. 470 E.) mit dürren Worten aus -dass das von ihm
aufgebaute ideale Gemeinwesen ein hellenisches sein solle. Solche
Züge sind es welche mit eine Gewähr dafür bieten dass Piaton
sein Ideal wirklich für ausführbar ansah (vgl. p. 471 C. — V,
17 z. Anf. Vir. p. 540 D ff. VIU. p. 557 C.)*) und, wenn er
gleich von den Menschen der Gegenwart Nichts hoffte, doch dess-
wegen nitht an seiner Verwirklichung in irgend welcher Zukunft
verzweifelte (vgl. IIL p. 415 D. VII. p. 541 A.). Zwar war diess
unleugbar ein Irrthum, aber ein Irrthum der ihm, gerade wie
dem Isokrates seine Hoffnungen auf Philippos von Makedonien,
zu Gute gehalten w erden muss in einer Zeit wo die Ahnung des
nahen Schiffbruchs gerade die besten Augen in jeder entfernten
Klippe eine rettende Rüste erblicken liess.**)
Dass Platon's Darlegung unpraktisch sei ist indessen bei
Weitem nicht die triftigste Einwendung gegen dieselbe: liegt es
doch im Begriffe des Ideals dass es nie vollständig wirklich wird;
wohl aber muss man sagen dass das Aufgestellte in mancher
Beziehung gar kein Ideal ist, sondern vielmehr ein Rückschritt
gegenüber vom Wirklichen. Piaton zeigt für die Errungen-
•) K. F. Hermann (allg. Schulztg. 1831, S. 647) hat hiefür auch
V. p. 473 mit Legg. IV. p. 709 E. — 712 A. verglichen, welche Stelle
die Sage von dem Zwecke der Beis^ Platon's zu dem jüngeren. Diony-
Bios in dieser Hinsicht hestätige.
**) Worte von K. l\ Hermann, allg. Schulztg. 1831, S. 647.
Einleitung zur Pöliteia. 131
Schäften der Cultur nicht nur wenig Interesse, sondern sogar
eine gewisse romantische Antipathie. Er möchte seinen Staat
auf die Grundlage der Naturbestimmungen zurückfahren und von
den Zuthaten der Cultur ihn säubern. Bezeichnend ist in dieser
Richtung der Eifer womit gegen die neugemachten Fortschritte
in der Heilkunde polemisiert wird (III, 14 f.), noch mehr aber
die Eigenthumlichkeit dass die meisten und wichtigsten Bestim-
mungen seines Staates gewonnen werden durch Heranziehung
von Analogien aus der Natur der Thiere, besonders der Hunde
(z. ß. n. p. 375 A. D. E. m. p. 404 A. 413 D. 416 A. 424 B. IV. p,
440 n. V. p. 451 C ff. 459 A ff. p. 466 C. VII. p. 537 A. 539 B.).
Am grellsten tritt dieser Charakter hervor in der Ausfuhrung über
die Kinderzeugung (V. p. 459 ff.), wejiche ganz bestialisch gehalten
und noch überdiess auf höchst widrige V^eise mit dem Elemente
der Berechnung, Absicht und Politik zersetzt ist. Darin besteht
aber überhaupt eine der tiefsten Eigenthümlichkeiten des plato-
nischen Staates dass er eine merkwürdige Mischung ist von idyl-
lischem Naturstaat und despotischem Polizeistaat: Freiheit, Leben,
Entwicklung sind Begriffe welche ausserhalb seines Kreises fallen.
Charakteristisch tritt dieses hervor in der so häufig wiederkehren-
den Wendung: wir müssen die Dichter nöthigen so zu dichten,
die Maler nöthigen so zu malen und drgl. (z. B. III, 5. 11. 12.
IV. p. 421 C). Auf unorganischem Wege, durch äusserlichen
Zwang eingeführt, können die Satzungen auch nur durch Zwang
aufrecht erhalten werden ; daher die starre Unbeweglichkeit dieses
platonischen Staates (vgl. IV. p. 424.). Diese ganze Betrachtungs-
weise hängt damit zusammen . dass in den Augen Platon's der
Staatsverband überhaupt nicht viel mehr als ein nothwendiges
Uebel ist, hervorgegangen aus den Unzulänglichkeiten des Indi-
viduums, das den vielseitigen Anforderungen des Daseins für
sich selbst nicht gewachsen wäre (vgl. II. p. 369 B.), eine An-
schauung welcher Aristoteles (Pol. IV, 3, 12) die seinige gegen-
überstellt, dass der Staat vielmehr aus einem positiven Bedürf-
niss hervorgehe, aus dem angebornen Triebe des Menschen die
engen Schranken der Natur zu überwinden und zu einer immer
freieren, immer mehr auf sich selbst gestellten, echt mensch-
lichen und schönen Gestaltung seines Seins vorzudringen. *) Platon's
Sione wäre es am entsprechendsten wenn der Mensch der in
*) Vgl. unten S. 142 f,
9^
132 Zu Piaton.
seioen Augen alleio Mensch und ein sittliches Wesen ist, wenn
der Philosoph, sich aus sich selbst heraus so entwickeln könnte
dass er aller Anderen und der Zuflösse aus der Natur völlig ent-
behren könnte: Piaton ist ebenso wesentlich Idealist und Aristokrat
als Aristoteles das Gegentheil davon. Daher auch die auffallende
Gliederung seines Staates, worin die Wächter Alles^ die Uebrigen
Nichts sind (vgl. IV. p. 421 A. 434 A.) und nur beiläufig mit
in Betracht kommen."^) Für Piaton besteht zwischen den ver-
schiedenen Ständen ein qualitativer Unterschied, wogegen er
zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlechte nur einen
quantitativen zugibt , eine Verkehrung des natürlichen Verhältnisses
welche nothwendlg zu solchen Abenteuerlichkeiten führen musste
wie sie der platonische Staa( zum Theil enthält.
Es ist gleich zu Anfang gesagt worden dass die PoUteia in
einen Cyclus mit dem Timaios und Kritias gehört. Man würde
aber irren, wollte man nun aus der Nichtvollendung des Kritias
schliessen dass diese Schriften zu den letzten Arbeiten Platon*s
gehören. Vielmehr nöthigt das Verhältniss zu den Nomoi, dem
Erzeugniss der Greisenjahre Platon's, die Politeia um Jahrzehnte
früher zu setzen, etwa in die Fünfziger Jahre Platon's, so dass
es irgend welche besondere Gründe gewesen sein werden aus
welchen der Kritias unvollendet liegen blieb. Diess wird dadurch
bestätigt dass diese Reihe von Schriften , indem sie die Anwendung
der philosophischen Principien Platon's auf das Welt- und Menschen-
leben darlegt, ein fertiges theoretisches System voraussetzt Auch
lassen sich im Einzelnen indirecte Hindeutungen auf frühere
Schriften nachweisen oder wenigstens wahrscheinlich machen (s.
Stallbaum's Prolegg. p. LXIII f.). Ausserdem schliesst Stallbaum aus
der in dem Werke hervortretenden Bekanntschaft mit dem Tyrannen
Dionysios und mit der pythagoreischen Philosoi)hie, so wie aus
der Erwähnung (I. p. 336 A) des Tyrannen Ismenias (f Ol. 99, 3; s.
Xen. Hell. V, 2, 36) als eines bereits Gestorbenen, dass die Politeia
nicht vor Olymp. 98 verfasst sein könne, aber auch nicht nach
Ol. 100, da Olymp. 100 Plalon 50 Jahre alt gewesen sei und ein
^) So werden in Buch II. und III. die Bestimmungen so getroffen
als handele, es sich um die Erziehung der Staatsbürger überhaupt and
nicht blos eines einzelnen Standes derselben.
J^inleitung zur Politeia. 133
mehr als öOjähriger Mann ein so vollkommenes Werk nicht hätte
liefern können! (Prolegg. p. LXYI.) Bei dem Mangel bestimmterer
Anzeichen werden wir uns auf die allgemeine Aussage beschränken
müssen dass das Werk der reifsten Periode Piaton's angehört. Dem
entgegen steht die Annahme von Morgenstern p. 73 ff. und Bergk
de reliq. com. Att. p. 81, in breiter Ausführung theilweise wieder
aufgewärmt von Tchorzewski p. 90 ff., dass nämlich die Politeia
schon wenige Jahre nach Sokrates* Tod verfasst sei, theils wegen
einer Stelle in einem der — doch unzweifelhaft unechten — Briefe
Platon*s , theils, wegen der Anspielungen auf den Inhalt des Werkes
in den am Ende von Olymp. 96 oder Anfang von Olymp. 97 auf-
geführten Ekklesiazusen des Aristophanes.
Diese angeblichen Anspielungen beziehen sich namentlich
auf die Gemeinschaft der Weiber und Kinder und Aufhebung
des Eigenthums, und ausserdem soll v. 647, wo ein Aristyllos
mit jener Idee geneckt wird, diess eine Entstellung des ursprung-
lichen Namens von Piaton, Aristokles, sein. Aber diese Beweise
haben durchaus nichts Zwingendes , s. Stallbaum Prolegg. p. LXVIII
IT. Zimmermann de Aristoph. et Plat. amicit. p. 19 ff. Beide Dar-
stellungen, die des Dichters und die des Philosophen, gehen von
wesentlich verschiedenen Gesichtspunkten aus, und Piaton erkennt
den Weibern nicht, wie Aristophanes karikierend thut, die Herr-
schaft zu, sondern nur einen Ihren (schwächeren) Kräften ent-..
sprechenden Antheil am öffentlichen Leben. Auch geht der komische
Dichter an die Auseinandersetzung dieser Ideen mit so viel Be-
hutsamkeit, schickt so viele Bedenken und Verwahrungen voraus
(v. 579 ff.), bereitet durch andere Vorschläge darauf vor (v. 415
ff.), macht auf die Neuheit dieser Ideen so oft aufmerksam, dass
es wenig Wahrscheinlichkeil hat anzunehmen sie seien damals
bereits von einem Anderen so ausführlich und mit solchem Ernste
öffentlich vorgetragen gewesen wie Piaton thut. Andererseits aber
ist die Aehnlichkeit zwischen den beiderseitigen Ideen eine so
grosse und auffallende dass man sich der Annahme irgend welches
äusseren Zusammenhanges zwischen beiden nicht leicht erwehren
kann. In dieser Beziehung Hesse sich denken dass der Dichter
in einer vielleicht nur hingeworfenen Aeusserung des Philosophen
einen fruchtbaren komischen Stoff erkannte und mit Begierde
aufgriff, oder dass die betreffende Idee schon vor Beiden durch
einen Dritten — etwa von Protagoras in seinen ^AvttXoyiaL
(Diog. Laert. III, 57), wie Vater (in Jahn's Archiv IX. p. 199
134 Zu Piaton.
not. 66) vermutet — beiläufig ausgesprochen war und nun von
Beiden auFgenommen und, je in ihrer Weise, ausgeführt wurde.
Doch konnte der Dichter auch selbständig auf die fraglichen
Gedanken kommen. Der Communismus ist eine so naheliegende
Consequenz des starr durchgeführten demokratischen Princips,
wie es in Athen am schrankenlosesten verwirklicht war, dass es
nicht besonderer Mittelglieder bedurfte um dazu zo gelangen.
Wie sehr dergleichen damals in der Luft lag zeigt v. 415 ff. der
genannten Komödie. Ohnehin hatten die communistischen Ideen
schon längst eine Art von Verwirklichung in Sparta, sofern dort
das Eigenthum im Princip gleich vertheilt war und die Frauen
eine weit freiere Stellung einnahmen als bei den loniern; und so
mochten dieselben auch zu Athen, in dem Kreise der Bewunderer
der lykurgischen Verfassung^ längst verbreitet sein, lange bevor
Piaton sie ausführte. Der Spott des , Aristophanes müsste also
diesem ganzen Kreise gelten, nicht aber der Person des Piaton.
Indessen tritt es bei Aristophanes nirgends hervor dass er diese
Gedanken als Gedanken eines Dritten, und diesen durch sie, lächer-
lich machen will; vielmehr sind ihm dieselben theils an sich ein
komischer Stoff, theils benützt er sie als Mittel zur Kritik des
Bestehenden. Hätte also einer von Beiden den Andern benützt
oder auf ihn Bezug genommen, so müsste diess vielmehr Piaton sein,
in dessen Darstellung sich wirklich öfters Beziehungen auf das zu
grosser Oeffentlichkeit gelangte und auch ihm bekannte Stuck des
Dichters durchfühlen lassen, und der das komische Licht welches im
Voraus auf diese Ideen durch Aristophanes geworfen war offenbar mit
zu den Schwierigkeiten ihrer Darlegung (V, 2 p. 450 A. G. 451 A.
vgl. p. 457 B. 473 C. u. p. 451 C to ynvcctxetov 6QäfA(x) rechnet.
Uebrigens ist bei der ganzen Erörterung über die Abfassungs-
zeit der Politeia nicht aus den Augen zu lassen dass die Ent-
stehung des Werkes sich jedenfalls über eine Reihe von Jahren
vertheilt und die Herausgabe eine allmähliche war. Wenigstens
wissen wir ausGellius^) dass zuerst ein einzelner Abschnitt, un-
*) Gell. XIV, 3, 3: Xenophon inclito illi operi Platonos quod de
optimo statu reip. civitatisqne administrandae scriptum est, lectis ex eo
duobus fere libris qni primi in volgus ezierant, opposnit contra cooscri-
psitque diversum regiae administrationis genas, qnod ncciSBiag Kvqov in-
scriptum est. Man sollte hienach meinen die zwei Bücher waren solche
worin die verschiedenen Arten von Verfassung dargestellt und beurteilt
waren, also besonders B. VIII.
Einleitung zur Politeia. 135
gefähr in dem Umfang von zwei der jetzigen Bucher, selb-
ständig herausgegeben wurde; vgl. auch Themist. Orat. XXIIL p.
295 C, wonach Axiothea nach Lesung eines Stuckes der Politeia
sich nach Athen aufmachte und in Männerkleidung seine Zuhörerin
wurde. Auch die Nachrichten dass Piaton nach Kyrene und nach
Megalopolis eingeladen worden sei, ihnen eine Verfassung zu geben,
würden gut passen zu der Annahme dass ein Theil seiner Dar-
stellung des Idealstaates, aber wohl nicht der verfängliche von
der Gemeinschaft der Weiber und Kinder, das^ Erste gewesen
sei was Piaton von dem Werke veröffentlichte, was ihm einen
Namen als Politiker machte und auch die schliessliche Benennung
des ganzen Werkes bestimmte. K. F. Hermann dagegen betrachtet
als das zuerst Herausgegebene das erste Buch und setzt dieses
in die erste Periode Platon's, das übrige Werk in die letzte.*)
Für diese Vermutung ist es zwar wenig günstig dass das erste
Buch für sich ein positives Ergebniss nicht enthält, sondern nur
die beiden aufgestellten Versuche den Begriff der Gerechtigkeit
zu bestimmen, den dem gewöhnlichen ßewusstsein angehörigen
und den sophistischen, als udhaltbar und unrichtig erweist. An-
dererseits ist aber nicht zu leugnen dass in Bezug auf Ton und
Haltung sich das erste Buch von den späteren merklich unter-
scheidet. Während nämlich jenes dramatisch sehr belebt und
manchfaltig ist, — vornehmlich auf Kosten des Thrasymachos — ,
so herrscht dagegen in den späteren ein viel ruhigerer Ton, und
sie beschäftigen sich auch statt der Polemik mit positiver Ent-
wicklung; daher denn die Bolle der Katechumenen von dem ur-
sprünglich gegnerischen, aber schliesslich versöhnten Thrasymachos
auf die von Anfang an befreundeten Söhne des Ariston , Glaukon
und Adeimantos, übergeht.**)
Ueberhaupt glaubt Hermann in dem Werke 4 — 5 Massen
unterscheiden zu können, von welchen Buch H — IV nebst VHI.
IX den eigentlichen Kern bilden, sofern sie die qualitative Gleich-
heit von Individuum und Staat sowohl in Beziehung auf das Ideal
*) Aehnlich Tchorzewski p. 188: die zwei ersten Theiie des Werks
seien um die Zeit der ersten Reise Platon^s nach Sicilien verfasst, der
letzte Theil gleichzeitig mit dem Timaios, also eine der letzten Ar-
beiten Platon's.
**) Die B. I hauptsächlich behandelte Frage wird B. IX nochmals
erörtert, und zwar theiiweise ohne Rücksicht auf das mit Thrasymachos
Yerhandelte.
136 Zu Piaton.
der sittlicheo Harmonie als auf die Entartungen darlegen, B.
V — VII aber zwischen jene beiden Massen hineingeschoben seien,
um die früher nur leicht hingeworfene Idee von der Gemein-
schaft der Weiber u. s. w. weiter auszuführen; das pythagori-
sierende B. X wäre dann erst nach geraumer Zeit zu den übrigen
hinzugefügt, und das für diesen Zweck überarbeitete älteste B. I
dem Ganzen als Einleitung vorangestellt worden. Doch beruhen
dergleichen Annahmen immer auf Wahrnehmungen und Empfin-
dungen, die für Andere nicht völlig überzeugend sind, zumal in
diesem Falle, bei einem Werke das so entschieden den Eindruck
der Einheitlichkeit macht wie die Politeia.
Die Eintheilung in die zehn Bücher rührt nicht von dem
Verfasser selbst her, sondern wohl von alexandrinischen Gelehr-
ten. Den besten Beweis hiefür liefert die Eintheilung selbst, da
sie keineswegs immer geschickt und mit Wendepunkten der Ge-
d|inkenentwicklung zusammenfallend ist, sondern überwiegend
durch die Bücksicht auf die Gleichheit des Umfangs der ein-
zelnen Theile bestimmt scheint. Vgl. z. B. den Schluss von
B. II. III. V. VI. VIII.
Von der Frage nach der Abfassungszeit ist zu unterscheiden
die andere, in welche Zeit das Gespräch vom Verfasser verlegt
werde, also die fictive Entstehungszeit, im Gegensatze zur
wirklichen. Die ältere Ansicht ist in dieser Beziehung: dass die
Scene in Olymp. 82 oder 83 falle, weil Lysias darin noch zu
Athen sei, während er sich doch bei der Ol. 84, 1 (J. 444
v. Chr.) stattgefundenen Colonisierung von Thurii als fünfzehn-
jähriger Jüngling betheiligt habe. Dass aber diese Begründung
unstichhaltig sei und das Gespräch, nach allen Andeutungen
welche in seiner Einkleidung enthalten sind, jedenfalls bedeutend
später verlegt werden müsse, haben A. Böckh und K. F. Her-
mann'") so gründlich nachgewiesen dass jene Annahme für immer
beseitigt ist. Welches jedoch genauer jenes spätere Datum sei,
darüber herrscht Meinungsverschiedenheit. K. F. Hermann**)
setzt das Gespräch in Ol. 87, 2 oder 3=431 oder 430 v. Chr.
und begründet diess theils mit den Lebensverhältnissen des Kepha-
los^ theils mit dem Bendisfeste. Kephalos, der Vater des Redners
Lysias, war auf Einladung des Perikles aus Syrakus nach Athen
*) Zuerst in der Allg. Schulztg. 1831, S. 651 flf.
**) De reip. Platonioae temporibus, Marburg 1830. 4. vgl. de Thra-
symacho CUalcedonio (Oöttingen 1848, 4.) p, 5 f.
Einleitung zur Politeia. 137
gezogen und lebte hier noch dreissig Jahre. Da jene Einladung
und das darin liegende Protectionsverhältniss voraussetzt dass
Perikles (dessen erstes öfTentliches Auftreten ins J. 469 fällt)
bereits eine bedeutende Rolle im Staate spielte, und anderer-
seits zu Syrakus ums Jahr 460 politische Wirren Statt fanden
welche dem Kephalos den Aufenthalt in seiner Heimat verleiden
konnten, so ist nach Hermann der athenische Aufenthalt des.
Kephalos mit Wahrscheinlichkeit ungefähr in die Jahre 460 — 430
V. Chr. zu setzen. Ums Jahr 430 müsste also Kephalos gestor- .
ben sein, bald nach unserem Gespräche, in welchem er hoch
bejahrt ist und sich viel mit dem Tode beschäftigt. Erst nach
dem Tode seines Vaters begab sich dann Lysias nach Thurii,
wo sein Vater sich schon vorher angekauft hatte, ohne jedoch
seine Besitzungen persönlich zu übernehmen."') Zu jener Datie-
rung würde auch die Erwähnung des Bendisfestes passen , welches
in unserem Gespräche zu Athen erstmals gefeiert wird, und zwar
so dass dabei die Thraker neben den Einheimischen einen selb-
ständigen Theil des Festzuges bilden (s. den Anfang und den
Schluss des ersten Buchs). Die grössere Zahl und Geschlossen-
heit iil welcher Jene erscheinen macht wahrscheinlich dass es
ein Heerhaufen thrakischer Miethstruppen war: die Verbindung
zwischen Athen und Thrakien begann aber (nach Thukyd. H, 29)
im J. 431 oder Ol. 87, 2, und nicht lange vor dieser Zeit hatte
auch Kratinos der Göttin -Bendis in einer seiner Komödien (den
Thrattai, aufgeführt frühestens um Ol. 87) gedacht. So weist
auch dieser Punkt die Scene der Politeia in den Anfang des
peloponnesischen Krieges (der eben 431 begann). Hiezu passt
weiter die Erwähnung des Kleitophon, der bei Aristophanes
(Frösche 967, aufgeführt Ol. 93, 3) mit dem angesehenen The-
rämenes zusammengestellt wird, in unserem B. I aber noch eine
*) Dass man sieb an neuen Niederlassungen einen Antheil kaufen
konnte, ohne sogleich selbst mitziehen zu müssen, ersehen wir aus
Thukyd. I, 27. Aehnlich ist der Fall des Ennius, der gleichfalls im
Gebiete der Stadt Potentia ein Ackerloos besessen zu haben scheint
und mittelst desselben römischer Bürger wurde, vielleicht ohne jemals
Potentia gesehen zu haben. Vgl. F. Ritter, Zeitschr. f. Alt.-Wiss. 1840,
S. 384 f. Von Kephalos insbesondere ist ganz denkbar dass, als im
J. 444 die Colonie nach Thurii abgieng, in ihm der Wunsch erwachte
sich in dieser seiner Heimat nahegelegenen Stadt anzukaufen, um
später, wenn er in Athen die Erziehung seiner Söhne ^vollendet, sich
allenfalls forthin zurückzuziehen.
138 Zu Piaton.
ziemlich kindische Rolle spielt;« ferner dass Thrasymachos am
Gespräche lebhaft Theil nimmt und al» Redner bezeichnet wird,
während Lysias schweigt und über ihn geschwiegen wird; denn
obwohl Letzterer mit Thrasymachos ziemlich in demselben Alter
stand, so fällt doch sein Rekanntwerden als Redner erst in die
Zeit als er aus Thurii zurückkehrte, wo er inzwischen Schüler
des Tisias gewesen war. Zugleich passt die Kühnheit und Selbst-
gewissheit womit Thrasymachos bei Piaton auftritt am ehesten zu
der Altersstufe die er im J. 430 einnahm, wenn er etwa 460
geboren war. Ferner stimmt zu der Annahme des J. 430 unter
Anderem besonders das Lebensalter in welchem Sokrates (geb.
469) in dem Gespräche erscheint: da er erklärt er spreche gern
mit Hochbejahrten (I. p. 328 D.) und von den Vorzügen und Nach-
theilen des Alters wie von einer ganz fremden, völlig ausser ihm
liegenden Sache redet, auch in vollster Rüstigkeit und Heiterkeit
auftritt, so wäre willkommen wenn man ihn als etwa einen
Vierziger sich denken dürfte.
Wenn die angeführten Momente für die Hermann'sche An-
sicht sprechen, so hat dieselbe andererseits gegen sich theils die
Anachronismen welche sie dem Piaton aufbürden würde (neben
ismenias I, 9 auch Polydamas I, 12 und vielleicht Herodikos ill,
14), theils besonders den Umstand dass schon im ersten Buche,
namentlich aber vom zweiten an, die Brüder Platon's (der selbst im
J. 429 geboren sein soll), Glaukon und Adeimantos, redend ein-
geführt werden, und il, 10 geschieht ihrer Waffenthat bei Megara
Erwähnung. Von Kämpfen zwischen Athen und Megara können
hier in Frage kommen nur diejenigen welche Statt fanden Ol.
80, 1 (Thuk. i, 105. Diod. Xi, 79), Ol. 89, 1 (Thuk. IV, 66 ff.
Diod. XU, 66) und Ol. 92, 2 oder 3 (Diod. XUI, 65). Unter
diesen müsste hier der erste gemeint sein; waren, aber im J. 460
die Brüder schon in kriegsfähigem Alter, so müssten sie um
476 geboren, also um ein halbes Jahrhundert älter gewesen sein
als Piaton. Seine Rrüder könnten sie dann also nicht sein,
sondern gleichnamige altere Verwandte (Geschwisterkinder seines
Vaters, indem dieser Sohn eines Glaukon wäre, sie Söhne von
dessen Bruder Ariston).*) Aber sie wären dann auch sieben Jahre
älter als Sokrates, und wären im Jahr 430 schon über die Mitte
der Vierzige hinaus, während doch ihre ganze Haltung im Ge-
*) K. F. llermann de reip. temp. p. 2Ö ff.
Einleitung zur Politeia. 139
spräche und Sokrates' Benehmen ihnen gegenüber ganz ent-
schieden den Eindruck macht dass sie einer jüngeren Generation
angehören als Sokrates (vgl. z. B. HI. p. 402 £. V. p. 474 D).
Man müsste daher seine Zuflucht nehmen etwa zu der Annahme,
die betreifenden beiden Junglinge der Politeia seien - überhaupt
keine historischen Personen, und die zu ihrem Bilde verwen-
deten Züge entlehnt theils von dem älteren, mit Piaton ver-
wandten, Paare das bei Megara focht, theils von den viel jünge-
ren Brüdern des Piaton.*)
Solche Nothbehelfe wären nun freilich in Bezug auf diesen
Punkt überflüssig bei der Annahme von A. Böckh, welcher**)
die Scene des Gesprächs in Olymp. 92, 2 (J. 411 v. .Chr.) setzt.
Dann könnten Glaukon und Adeimantos nicht nur überhaupt
Brüder Platon's sein, sondern sogar — in Uebereinstimmung mit
der durch Xenophon (Mem. III, 6^ 1) unterstützten Angabe des
Suidas — jüngere Brüder desselben, geboren etwa 428 und 427,
und ihre megarische Waflenlhat fiele unmittelbar vor die Zeit
des Gesprächs (gleichfalls Ol. 92, 2). Auch die Erwähnung des
Polydamas würde alsdann zutrefl'en. Um so weniger wären mit
dieser Datierung vereinbar die Lebensverhältnisse des Kephaios
und Lysias, sowie die des Hermokrates und Kritias, zum Theil
auch des Nikeratos ; Protagoras , der doch X. p. 600 als lebend
erwähnt wird, wäre dann schon gestorben, und endlich ist im
höchsten Grade unglaublich dass die erstmalige Feier des Bendis-
festes erst im J. 411 sollte Statt gefunden haben.
Letztere Einwendung trifil zum Theil auch noch die Annahme
von Fr. Vater, welcher*) als fingierte Zeit unsres Gesprächs
Olymp. 90 annimmt. Dabei wäre nämlich die Zeitdifferenz
zwischen der Erwähnung der Bendis bei Kratinos und ihrer Auf-
•) Vgl. Schneider, üebersetzung der Politeia, S. 291 f.; „So mögen
wohl die meisten Züge die uns hier gelegentlich von Glaukon^s und
Adeimantos* Art zu sein und zu leben mitgetheilt werden von den wirk-
lichen'Brüdern des Piaton entlehnt sein, und diejenigen welche, der
schon im Alterthum verbreiteten Meinung gemäss, sagen Piaton habe
im Staate seine nächsten Y&rwandten verherrlichen wollen . . nicht
ganz Unrecht haben. Das Wahre aber ist dass dieses Brüderpaar , wie
wir es im Staate vor uns haben, niemals existiert hat/*
**) Vor dem Berliner Lectionskatalog für Winter 1838 — 39 und
Sommer 1839, endlich (gegen K. F. Hermann) vor dem Sommerkatalog
1840.
**♦) In Jahn's Archiv IX. p. 196—223.
140 Zu Piaton.
nähme in den ofßciellen €ult der Athener eine ziemlich grosse,
was freilich eine sehr unerhebliche Schwierigkeit sein wurde.
Erheblicher ist das Bedenken dass alsdann Glaukon und Adei-
mantos zu älteren Brüdern Platon's gemacht werden müssen;
doch stimmt eine solche Annahme sehr gut zu Piaton Apologie
p. 33 E. und 34 B.; andere Bedenken lassen sich durch die —
allerdings einem ausdrücklichen Zeugniss des Apulejus zuwider-
laufende — Vermutung beschwichtigen dass Piaton der erst-
geborne Sohn einer zweiten Gattin seines Vaters sei; und die
Schlacht bei Megara ist dann die Ol. 89, 1 gelieferte, von
welcher bezeugt ist dass in ihr gerade die jüngste Kriegerkiasse
— welcher damals Glaukon und Adeimantos zugehört haben
roüssten — sich am meisten ausgezeichnet habe. Auch alle
übrigen Personen und Thatsachen unseres Dialoges würden sich
innerhalb dieses Zeitrahmens ohne Zwang unterbringen lassen,
mit alieiniger Ausnahme von Ismenias, welcher aber sogar bei
der Böckh'schen Datierung ein Anachronismus bleibt. Die Lebens-
zeit des Lysias müsste jedoch dabei tiefer herabgerückt* werden
als die gangbare (Jeberlieferung thut, welche äeine Geburt schon
ins Jahr 459 v. Chr. setzt. Indessen hat letztere an sich schon
so Manches gegen sich dass eine solche Nothwendigkeit der Vater-
sehen Datierung fast nur zur Empfehlung gereicht.
Gegen diese ganze Erörterung könnte freilich das Bedenken
sich erheben, ob es denn überhaupt auch der Mühe werth sei
die Frage einer so ausführlichen Untersuchung zu unterwerfen,
da doch sich bezweifeln lasse ob Piaton selbst auf diese Dinge
Werth gelegt habe, ob nicht das ganze kunstvolle Gebäude auf
Sand gegründet sei, da es dem Künstler gestattet sein müsse mit
grösserer Freiheit zu Werke zu gehen, Personen die eigentlich
der Zeit nach von einander getrennt sidd zusammenzurücken, andere
zu erfinden u. dgl. Solche Zweifel, wenn sie auch nahe genug
liegen und ihre Berechtigung haben, sind doch nicht . g^ichtig
genug um uns eine solche Untersuchung als vergeblich erscheinen
zu lassen. Denn je belebter und anschaulicher die Einleitungen
der platonischen Dialoge sind, um so gewisser dürfen wir an-
nehmen dass Piaton jedesmal die Situation sich klar gemacht,
dass er den Schauplatz, die Zeit und die Personen des Gesprächs
mit Bewusstsein gewählt und durchgeführt hat. Und jene Frei-
heit des Künstlers muss doch auch ihre Grenzen haben, er darf
dem Leser nicht gar zu viel zumuten; namentlich wo er sich
Zur PoKteia. 141
geschichtlicher Personen bedient dürfen die einzelnen Zuge nicht
in grellem Widerspruche mit der Geschichte, stehen und wesent-
liche Punkte betreffen, wie hier der Fall sein würde.
b) Zu einzelnen Stellen.*)
I. p. 341 D ist die Schreibung fast aller Handschriften:
ttQ^ ovv axd0ry xäv tsxväv a6tv ti ^v(ig)iQOv aXko i} ort
(iäki0ta xekiav alvai. Nur ein Monacensis hat: akko ov itQog-
äettai^ ^* i^aQXSt sxäörri avrri avrfj ä0re ori^dhdxa takiav
elvai^ und dasselbe findet sich auch in einem Florentinus am
Rande. Sind diese Worte ursprünglich oder ein Glossem? Bekker
. und Stallbaum nehmen das Erstere an und haben sie in den Text
gesetzt; Schneider gleichfalls, aber eitigeklammert; für ein Glos-
sem hält sie Neukirch, quaest. philol. in Plat. Polit. I. p. 3---6,
und ich glaube mit Recht. Sie sind in den Text gekommen aus
der im Folgenden von Piaton gegebenen Erläuterung der Frage
und durch Missverständniss dieser Frage selbst. Sokrates sucht
zu beweisen dass der Zweck der verschiedenen Künste (z. B. der
Regierungskunst) nicht sei für sich selbst zu sorgen, sondern für
Andere. Diess tbut er dadurch da^ss er zuerst nachweist wie die-
selben sich selbst genug seien und für sich selbst kein weiteres
Bedürfniss haben als ihrem Begriffe vollständig zu entsprechen.
Dieses Bedürfniss, im Anschluss an die vorhergehende Entwick-
lung durch l^viLfpBQOv ausgedrückt, ist eben oti ^dki0ra xskiav
slvai. Da die Frage der Erläuterung bedarf, so ^ird diese in der
Art gegeben dass in dem Verhältnisse der Heilkunst zum Leibe
nachgewiesen wird wie der Leib als solcher sich nicht selbst
genug ist, sondern eines Andern bedarf, wogegen die Heilkunst
kein Interesse (^v(ig)iQOv) für sich selbst hat , dar sie , in ihrer
Idee aufgefasst, vollständig und rein ist, daher alle ihre Interes-
sen ausser Ihr liegen, nämlich die des zu Heilenden sind. Davon
wird nun die -Anwendung gemacht auf das Verhältniss zwischen
Regierenden und Regierten: der Regierende hat für sich selbst
kein Interesse, sondern einzig für die Regierten, was denn das
Gegentheil von der durch Thrasymachos aufgestellten Definition
des Sixacov ist.
II. p. 376 D fragt Sokrates ob die Erörterung der Frage wie
der Kriegerstand zu erziehen sei für den vorliegenden Hauptzweck
•) Aus dem Rhein. Mus 11. 1860. S. 468—470.
142 Zu Platon.
Förderung verspreche oder nicht? und fügt dem hinzu: tv« ftij
ifSfiev Lxavöv koyov ij övyvov Sis^Ccn^BV, Diess übersetzt K.
Schneider, im Sinne der von Stallhaum gegebenen Erläuterung:
,, damit wir nicht eine zur Sache gehörige Untersuchung unter-
lassen oder eine weitläufige durchnehmen." Aber weder Ixavog
hat diese Bedeutung noch ist 0v%v6g ein tadelnder Begriff, noch
auch bilden die Worte, sogefasst, einen logisch richtigen Gegensatz.
Alles wird klar wenn man schreibt : ivu ^' icofiev 0v%vov Xoyov ijf
Ixavöv di£^i(0(i€v. Das Erstere, i} für ^i^y habe ich schon in
meiner Inauguraldissertation de luliano (Tab. 1844) p. 39 ver-
mutet und finde es jetzt durch den Monacensis bestätigt; das
Zweite, die Umstellung von Ixavos und ^vx^og^ bieten drei gute
Handschriften. Der Sinn ist: damit wir, je nach dem Ausfall der
Antwort über die Förderlichkeit dieser Untersuchung, entweder
unterlassen sie ausfuhrlich vorzunehmen oder sie in genügender
Weise durchführen, ut aut mittamus ampliorem disquisilionem
aut sufficientem exequamur. Hiefür spricht auch die nach der
Antwort des Adeimantos folgende Erklärung des Sokrates: ovx
ccq>6t60v, ovd' si fiaxQOt^Qa tvyxävsL ovöa. Entstanden könnte
die Schreibung, tva fti) mfisv daraus sein dass im Folgenden die
Untersuchung wirklich nicht unterlassen wird.
Mit Beziehung auf Rep. H. p. 369 macht Aristoteles (Pol. IV,
4 p. 99 Bk. = p. 120 G.) die Ausstellung dass Platon von der
Ansicht ausgehe (og tcSv dvayxqicov ys %dQiv näOav noXvv
öwsörrixvtav, «AA' ov tov xaXov n&XXov, Hier ist nun Pinzger (de
iis quae A: in Plat. Pol. reprehendit', p. 14 f.) und Stallbaum gleich
mit der Belehrung zur Hand: Aristoteles verwechsle die Begriffe
Veranlassung und Zweck: die avayxata seien bei Platon zwar
der Anstoss ühd der nächste Zweck der Gründung einer noXtg,
nicht aber der letzte Zweck. Das scheinbar Einleuchtende und
Handgreifliche dieser Bemerkung ist es gerade was das meiste
Bedenken gegen sie erregen muss; denn einen so groben Ver-
stoss gegen die Logik kann man einem so scharfen Denker wie
Aristoteles billigerweise nicht zutrauen. Und wirklich hat Ari-
stoteles vollkommen Recht mit seiner Ausstellung und damit eine
der wundesten Stelle der platonischen Politeia aufgedeckt. Denn
allerdings ist es ein Grundgebrechen von dieser dass über den
ursprünglichen Zweck der Gemeinschaftstiftung niemals ausdrück*
lieh hinausgegangen wird, dass die Beschränkung auf die rein
natürlichen Bedürfnisse als Ideal dargestellt, alles über diese
Zu Politeia und Symposion. 143
Hinausreichende als ein Nichtseinsoliendes, zur tQvqxSi^cc nöhg
Gehöriges (s. p. 372 E) behandelt wird, statt vom Naturlichen
und Nothwendigen aufzusteigen zum Sittlichen, Freien und Schönen.
So wird z. B. III. p. 406 D an der Heilkunst alles was über die
Fertigkeit eines gewöhnlichen Barbiers hinausgeht als eine Ver-
irrung und ein Krankheitssymptom verworfen.*)
2. Zum Symposion.''''^)
1.***) Plat. Symp. p. 182 extr. q)tloaoq>{ag rcc [i^ytöta
xaQTCOit^ av ovBldri muss das gesperrt jgedruckte Wort, das die
Zürcher Herausgeber wieder von seinen Schleiermacher'schen
Klammern befreit haben, doch nothwendig ein Glossem sein.
Denn dasselbe bleibt anstössig, man mag es ansehen wie man
will. Nähme man es, mit Bezug auf das p. 182 B vorausgegangene
q)iXo6o(pta xal fptXoyviivMtCa , als Seiten der nai8eQa<5rCa (vgl.
p. 184 D), in dem Sinne dass der Fragliche für sein (angebliches)
Streben nach Weisheit Tadel ernte, so wäre diess, abgesehen davon
dass jene Beziehung der tpiXodotpia auf die naiSsQaörCa selber
problematisch ist und der wichtige BegrilT „angeblich'* gerade
fehlen würde, darum unrichtig weil hier von erotischen Zwecken
nicht mehr gesprochen wird, sondern, im Gegensatze zu diesen,
von jedem anderen (akXo oxlovv),-\) Soll es aber heissen: er
würde von Seiten der Philosophie Tadel ernten, so ist zu er-
widern dass ihm das keineswegs blos oder vorzugsweise von der
Philosophie widerfährt, dass in dem ganzen Zusammenhange über-
haupt nur von der gesammten öfTenllichen Meinung, dem voiiog,
in Bezug auf den Eros die Rede ist, dass die ovsCSri ihm von
Jedermann drohen, von Freund wie Feind (p. 183 B), nicht blos
von den Philosophen. Das Wort ist daher entweder ein Glossem
oder corrupt. Von den verschiedenen Aenderungsvorschlägen
*) Vgl. oben S. 131. Ans dieser Anschauung von der laxqiiiri er-
klärt sich auch die stark komisch gefärbte Rolle welche Piaton im Sym-
posion den Eryzimachos spielen lässt.
♦♦) Vgl. auch meine Recension von Schwegler's Schrift über die
Composition des plat. Symp. (Tüb. 1843), in Jahn^s Jahrbb. XLT. S.
357—368.
•♦♦) Aus dem Rhein. Mus. XVI. S. 312.
t) Aus diesem Qrunde ist der Vorschlag von M. Vermehren, plato-
nische Studien (Leipzig 1870) S. 59, fpiUqactCaq (vgl. p. 213 D) zu
schreiben, gleichfalls unrichtig.
144 Zu Piaton. .
genügt aber keiner, auch nicht (piloti^Cag^ an das man denken
könnte, das jedoch zu eng wäre. Ebenso wenig K. F. Hermanns
Schreibung: akV ortotJv . . ßovkofievog diaTCQcil^aöd^ai, nl^v
q>Mag (ausser Freundschaften), ra (liyLöta u. s. w.; denn dm-
Tcgdi^ao^ai (pMag kann man überhaupt nicht sagen, am wenig-
sten kurzweg für ein erotisches Verhältniss, in welchem q)iXCa
bei Piaton immer die Stimmung des igci^svog zu seinem igaöti^g
bezeichnet. Vor Creuzer's (pkvagCag oder gar Schenkl's (Zeitschr.
f. österr. Gymn. 1861 , S. 603) q)kriva(pCag (das erst bei Späteren
vorkommt) würde weit den Vorzug verdienen Rückert's Vor-
schlag axoTcCag, welcher sachlich richtig wäre (vgl. unmittelbar
vorher: ^ayfiaötä sgya iQya^oiiBvca) und dabei nicht, wie jene
.zwei Vorschläge, sprachlich unrichtig (von einem seltsamen Han-
deln). Einen erträglichen Sinn gibt auch das von M. Hertz (im
Breslauer Vorlesungsverzeichniss für Sommer 1870) vermutete
g)tko7tovLag,
2.*j Bei Plat. Symp. p. 194 B. erwähnt Sokrates dass er
Zeuge gewesen sei von der Unerschrockenheit des'Agathon-, dva-
ßaivovTog ijtl xbv oxQißccvta fietd rtSv vjtoxQitcjv ocal ßkir-
ilJUVTÖg Bvavria toöovtg) d'edvQ^j [leXlovrog iicideL^söd'ai
aavrov koyovg xal ovd^ bittogriovv ixTtXaysvtog. Diess hat
man so verstanden als wäre Agathon selbst in seinem ersten
Stücke als vzoxQiti^g aufgetreten. Gegen diese Auffassung hat
0. Jahn im Proömium des Bonner Vorlesungsverzeichnisses für
Sommer 1866 p. IV f. zwei Einwendungen erhoben. Fürs Erste
nullo certo exemplo constat aliquem ex illustribus poetis officium
a Sophocle omissum repetiisse, und am wenigsten sehe es dem
Agathon gleich hunc artem histrionicam exercuisse. Dieses Argument
erreicht jedenfalls nur Wahrscheinlichkeit, als bioser Schluss ex
silentio auf einem Gebiete wo noch so dichtes Dunkel herrscht,
und weil aus dem was Sophokles Sva tiqv IdxvoqxovCav unter-
liess nicht mit Sicherheit auf einen späteren jungen Anfänger zu
schliessen ist. Zwingender ist sein zweiter Grund: si Agatho
personatus et toto illo apparatu histrionico obvolutus et quasi
tectus in scenam prodiisset, neque se ipsum spectatoribus agno-
scendum praebuisset et, si metu et anxietate graviter commoti
speciem exhibuisset, mirum sane hoc in histrione spectaculum
fuisset (p. V.). Nur trifil diese Einwendung ebenso sehr seine
0 Rhein. Mus. XXII. S. 440 f.
Zum Symposion. 146
eigene Erklärung. Er weist nämlich nach, in festis Bacchicis
antequam musica certamina in eisque iudi scenici initium caperenl,
soUemni pompa Bacchi Eieutherensis Signum ex Ceramico in thea-
trum deductum , ibi in orchestra positum et sacrificiis celebratum
fuisse (p. XI). An dieser Procession haben der Natur der Sache
nach ausser den weltlichen und kirchlichen Behörden auch die-
jenigen Theil genommen welche bei der nachfolgenden Aufführung
mitzuwirken hatten, also clioreutae, musici, histriones, poetae,
omnes denique qui in spectaculis populo se praesentaturi erant.
Wegen der grossen Zahl der Theilnehmer am Zuge sei Orchestra
und öxi]Vfj mit ihnen angefüllt gewesen, und so habe auch Agathon
Omnibus in scena stantem se conspii^iendum geboten , cum tam-
quam poeta pompae particeps ea in theatrum deducta cum acto«
ribus locum in scena occuparit (p. XU). Diess ist schon technisch
nicht leicht vorstellig zu machen. Entweder waren die mit der
Aufführung Beschäftigten nicht die Letzten im Zuge : dann mussteri
sie, um den weiteren Zug an sich vorbeizulassen, sich in den
Hintergrund der Bühne zurückziehen und waren dani> selber für
das Publicum nicht sichtbar. Oder waren sie die Letzte^: dann
ist nicht recht abzusehen wie sie gerade auf die Bühne sollen
zu stehen gekommen sein, um da während des Opfers an dem
Dionysosbilde ihren Stand zu behalten. Die Hauptsache aber
ist, dass in diesem Falle, wenn Agathon unter hundert andern
Theilnehmern der Procession müssig dastand, doch zu einem
ixnXay^vac nicht der entfernteste Anlass war, noch viel weniger
als wenn er maskiert auftrat. Ich schlage daher für die Erklärung
der Stelle einen anderen Weg ein. Auffallend ist der Plural
lisrä xäv inoxQixfSvy da doch nicht glaublich ist dass bei der
Aufführung die vTCoxQiral en masse aufzogen, vielmehr jeder
einzeln, so wie seine Rolle es mit sich brachte, auf die Bühne
getreten sein wird. In Mehrheit aber zogen die ;|ro(>€i;ral suif»
und statt dieses letzteren Begriffes wird der unbestimmte all-
gemeinere VTCoxQiral gesetzt sein. Von Agathon wird also bei
Platon vorausgesetzt dass er als ;|ro^od6da<7;caAog mit seinen
Cboreuten in die Orchestra eingezogen sei, um ein geistiges
Product von sich {Xoyoi) dem Publicum vorzuführen, und dabei
gar keine Befangenheit gezeigt habe. Dass die Choreuten und
ihr xoQodiddoxaXog keine Masken vorhatten wird sich wohl von
selbst verstehen : wie hätten sie sonst singen können ? Trat aber
Agathon unmaskiert auf, so konnte er leicht befangen sein und
Teuffei, Studien. 10
146 Zu Platon's Symposion.
war es daher ein Zeichen von Mut dass man davon ihm gar nichts
anmerkte. Auch der erste Wahrscheinlichkeitsgrund von 0. Jahn
leidet bei dieser Auffassung keine Anwendung. Denn je eigen-
tümlicher und kunstvoller bökanntermassen die musikalische Seite
von Agathons Tragödie war, um so gewisser besass er auch das
Zeug zu einem ;|^09odtdflf<7xaAo^. und desto mehr musste er
wünschen diesen Theil der Auffuhruug selbst zu leiten.
[Hiegegen hat J. Sommerbrodt (Rhein. Mus. XXUI. S. 533 bis
536) nicht mit Unrecht geltend gemacht dass ein solcher ungenauer
Gebrauch von VTCOxQiral in der Zeit Platon's unerweislich und-
hier, neben dxQißccg, besonders unwahrscheinlich sei. Aber
gegen seine eigene Erklärunjg, wonach die Stelle besagen solle
dass Agatbon als Zuschauer bei der Aufführung seines Stückes
[avaßaCv.) Mut bewiesen habe, hat mit noch grösserem Rechte
R. Grosser (ebd. XXV. S. 432 — 436) eingewendet dass sie mit
den Worten ßXdfavtog ivavxia xo^ofjTOf d'sdzQp unvereinbar sei
und ävaßaivovrog u. s. w. zu einer Tautologie mit [leXXovtog
iTtiSsC^, machen würde. Grosser selbst hilft sich (S. 435) mit
der Anllbhme dass der Dichter, zumal wenn er zum ersten Male
sich um den Preis bewarb, auf die Rühne, in die Nähe der
Schauspieler, gehörte, um diesen als eine Art von Regisseur
{vTCoßokavg) zur Hand zu sein; eventuell vermutet er dass der
Dichter vor der Aufführung sich als Preisbewerber mit seinen
Schauspielern in aller Form auf dem Xoystov öffentlich vorstellte
und nachher bei den nicht beschäftigten Schauspielern hinter der
Scenenwand sich aufhielt, somit für Aeusserungen des Reifails
wie des Missfallens erreichbar war.]
vn.
Kaiser Julianus.
1. Die chronologische Bestimmimg von Jnlian's
Jugendgeschichte.'*')
In keinem Punkte von Julian's Geschichte stossen wir auf
so viele Dunkelheiten und Schwierigkeiten wie bei dem Versuche
die verschiedenen Angaben aber seine Jugendzeit zu verbinden
und in eine entsprechende Ordnung zu bringen. Gibbon z. B.,
der sich noch am gründlichsten darauf einlässt, stellt die ungenaue
Behauptung auf, Julian habe in Mailand 7 Monate in beständiger
Todesfurcht geschmachtet (III , 206 der Wiener Ausgabe), und fügt
in einer Note die noch uliricbtigere Bemerkung hinzu, Julian
vergrössere in seinem Sendschreiben an die Athener absichtlich
seine Leiden, indem er, obwohl in dunkeln Ausdrücken, zu ver-
stehen gebe dass dieselben über ein Jahr gedauert, ein Zeitraum
der sich mit der chronologischen Wahrheit nicht vereinigen lasse.
Auch ist es nicht richtig berechnet wenn Gibbon den Aufenthalt
Julian's in Athen auf sechs Monate bestimmt. Und solcher Irr-
Ihümer Hessen sich bei Andern noch mehrere nachweisen, z. B.
bei Neander (über den Kaiser Julian) S. 80. 93 die mangelhafte
Daüerung der Reise nach lonienr, die quellenwidrige Behauptung
eines dreimaligen Aufenthalts in Alben (S. 83. 86) u. A. Es.
scheint daher passend die Quellennachrichten über diesen Zeit-
raum zusammenzustellen und zu prüfen.
Wenn Julian bei seinem Tode im J. 363 32 Jahre alt war,
so war er demnach im J. 331 geboren. Am 22. Mai 337 starb
♦) Aus A. W. Schmidts Zeitschrift für Geschichtswissenschaft IV.
1845. 8. 143—156.
10*
148 Kaiser Juliänus.
CoDstantinus, und nach, dessen Tode wurden bekanntlich alle
Glieder des kaiserlichen Hauses, ausser den drei Söhnen des Con-
stantin sowie Gallus und Julianus, auf directes oder indirectes An-
stiften des Constantius von der Soldateska ermordet. Den Gallus
rettete dass er grade todkrank war, den Julianus sein zartos
Alter. Libanius, der diess berichtet, sagt (oratt. I, 525Reiske):
ovrog Sh xal nQeößvrsgog dd£lq)6g oyLondxQiog rov xokvv
8i,a(pavyov0i tpovov^ xov (liv vööov Qvöaiidrnig, ^ XQog
d'dvarov ano%qri06LV idöxsv^ rov dh riyg '^Itxiag, — aQtv
yäg äjtvjXlccxto ydk axtog. Sokrates, der sich im Uebri-
gen an ihn anschliesst, geräth in Beziehung auf die Berechnung
des Alters auf das entgegengesetzte Extrem; er sagt nämlich
(III, 1. p. 135 C): ^lovkiavov dh ij i^lvxla (öxtast'^g yccQ ^v
in) disöcdösv. Und ebenso Soz.om. \, 2. p. 482 fin.: Stt yaQ
oydoov YiXixlag T^yav hog; nur ist hier deutlicher ausgesprochen
dass er das achte Jahr noch nicht vollendet hatte. *) Diess stimmt
gleichwohl nicht zu der Chronologie. Im Sommer 337 war Julian
erst sechs Jahre alt, und man kann durch kein Mittel acht
herausbringen. Nur jene Zahl stimmt auch recht zu dem Zu-
sammenhange. Ein achtjähriger Knabe ist, vollends im Orient,
von der Reife nicht so entfernt dass er ganz und gar ungefähr-
lich erscheinen könnte. Msx^ iviavtbv eßdo^iov wurde Julianus,
wie er selbst angibt (Hisopog. p. 352 C), dem Eunuchen Mar-
donius zur Erziehung übergeben. Wo er sich damals auf-
gehalten habe, darüber haben wir keine directe Angabe; nur
wissen wir dass die Güter seines ermordeten Vaters von Con-
stantius eingezogen worden waren (Jul. ad Athen, p. 273 B) und
ihm so nur sein mütterliches Vermögen blieb, zu welchem unter
Anderem ein Gut in Bithynien gehörte, von welchem er EpisL
46 sagt: roi;ro i^iol [isLQaxio) xofitd^ vsp TceSiov idoxsc
fpCkxatov. Er wird also wohl seine Knabenzeit entfernt vom
Hofe und von diesem unbeachtet (wenigstens sah ihn Constantius
erst in Kappadokien zum ersten Male, ad Ath. p. 274 A) auf
seinen mütterlichen Besitzungen zugebracht haben.
*) Bei dieser Uebe reinst immung der Nachrichten ist nicht abza-
sehen wie Markus von Arethusa einen wesentlichen Einflnss auf Julian^s
Erretking gehabt haben könne, von welchem Gregor von Kaz. (orat III
p. 90 C) sagt: zmv aeacoiioTaiv rov i^äyiotov rivC%0L to ysvog avrm näv
iKivdvvtvi xctl Sid "Klonrjg vne^ayayovtmv slg ovxog f]V.
JugendgeBchichte. 149
Von jetzt an werden die Angaben widersprechend und unklar.
Vor Allem handelt es sich um Julian's Aufenthalt in Constan-
linopel, in Bezug auf welchen es sich fragt ob er zweimal Statt
hatte, einmal vor der kappadokischen Gefangenschaft^ das andere^
Mal nach derselben, oder ob nur einmal, und zu welcher Zeit
alsdann? Stellen wir die Quellenangaben zusammen. Libanius
lässt (or. funebr. I. p. 525 Reiske) auf die Erzählung der Ret-
tung des Lebens von Julian die Worte folgen: Stergißs tvsqI
tovg loyovg iv xfi [leyiety [letä ttjv 'Pcofii^^ Ttokei (d. h..
Constantinopel) q>omav sig diSaöxaketov, . . op öoßfDv ovdi
Xvnäv ovd' d^imv d7CoßXinao%'ai dict TtX'^d'og dxoXovd'mv xal
xov ttn\ ixstvcov &6Qvßov' «AA' svvmixog xs ßsXxcöxog eca-
(pQOövvqg (pvXai, (Mardonius) xal Ttatdaycjyog sxsgog cfvx &^ol-
Qog TtaiSsCag. i0d^g re ulsXqIu u. s. f. (I, 526): ^dij öh
TtQO^ijßog '^v xal xo xi^g <pv0s(ag ßaCvXixov nokkotg xal (le-
ydXotg xex^tjQioi^g i^ritrusxo, xal xaika ovx sta xad'svSstv
Kiav6xdvxiov. ds£0ag Sh ftij xokv (isydXri . . ini0jea0^y
XQog -xr^v dQBtr^v xov viov . . ndfiJtsL avxov slg xiqv Nixo-
liTJdovg 7c6ki,v (wie Libanius in seiner Eigennamen umgehenden
Rhetorenmanier Nikomedia benennt), itaiSsva6%'av .8s diSiXiCiv
i%ov0iav. 6 da ov fpoixa [thv TCag^ iiil^ xovg koyovg dh mpov-
lisvog oiiiXäv ovx atöai.. Durch diese Beziehung auf seine
eigene Person wird Libanius' Zeugniss noch beachtenswerther.
Sichtlich kannten und benutzten ihn Sokrates und Sozomenus.
Jener erzählt (III, 1. p. 143 f. Vales.): inal ^ xax^ aixäv
(Gallus und Jul,) xov ßa6tka(og 6q^^ (wie sie sich in der Er-
mordung ihrer Verwandten bewiesen hatte) ixaxavvc3xo, Faklog
fiii/ xovg av *Ian/ia xaxd xrjv "Ekpaöov i^polxa SiSa0xdlovg,
av&a avxotg xal xxilöig tJv ix JtQoyovcov jtoXkij (vergl. Liban.
L p. 531 R.). *Iovkiavdg dh avJ^rjd^alg xcSv iv Kmv0xavxCvov
nokac naiSavxTiQliDv i^XQoäxo, alg xi^v ßaötktxi^Vj ayd-a xoxa xä
xaiSavxiJQia ^i/, iv Xix^ (Sxri\kaxi TCQOtt^v xal vjto MaQÖovlov
xov avvov%ov Ttaidaycoyoviisvog. Nachdem er sodann Julian's
(christliche) Lehrer in der Grammatik und Rhetorik genannt fährt
Sokrates (p. 144 A) fort: dx^id^ovxog Sh avxov jtaQl xovg löyovg
fjt^ftij xlg alg xov d'^^ov 8iixQa%av cog atifi Cxavog xä ^Pcafiaitov
XQayiiaxa Sioixatv * xal voiko xokotnov q)avaQaig d'QvXkovinavov
taQaxiqv inoCai xä ßa0ikat. dvo fisd'{öxri0tv avxov ix xijg
lieyaXoscöXacog alg xijv Ntxo^rjdsvav. Offenbar ist nach diesen
beiden Schriftsteilern der Hergang folgender: Julianus besuchte
150 Kaiser Julianns.
als Knabe und angehender Jüngling unter der Aufsicht des Mar-
donius die Unterrichtsanstalten zu Gonstantinopel in dem Auf-
zuge eines Nachgeborenen ; als aber seine Talente und Fortschritte
die Blicke und die Neigung des Volkes ihm zuwandten, entrückte
ihn der eifersüchtige und ängstliche Constantius nach Nikomedia.
Ein Theil dieser Darstellung wird dadurch bestätigt dass oach
der schon aufgeführten Angabe des Julianus selbst Mardonius
wirklich sein Pädagog war. Dagegen widerspricht den meisten
dieser Data der Bericht des Sozomenus. Dieser erzählt (V, 2.
p. 165 f. Vales.) zuerst ausführlich die Gefangenschaft der beiden
Brüder in Makellum und fährt dann fort (p. 166 C) : (istct xqovov
tiva 3tav0afiivov Kcsvötavtiov v^g ogy^g (also dieselbe Wen-
dung mit welcher Sokrates von dem Attentat auf das Leben der
Brüder weiter gegangen war) FdlXog (ilv slg nqv ^Aotav iMciv iv
*Ekpi0<p diixQißsv , iv%a öilj tä nkBda tilg ov6£ag sIxbv (ganz wie
Sokrates). ^lovkiavbg Sh slg KcnvOtavtivovnokiv inaveX%'0v
rotg ixsMs didaöxäkoig iq>oha, q>v08G)g äh sv i%Giv Tcal rotg
fiadTjfia0L QaSCog ixdtdovg ovx iXdvd'avsv iv Idi^citoif yuQ
0%iil^ati tag itQOoSovg jtoMVfisvog nokXotg 6vvBylvßtO' iitsl
dh, ola (ptXst iv 6(ilXai xal ßMi^ksvovörj TtoXsL^ adslipög cSv
tov xgatovvtog xal TtQayfiata dtoixstv Cxavog slvai q>aiv6-
fisvog TtQogsdoxäto ßaövkBVBiv xal itoXvg neql avtov toiov-
tog ixQdtBt Xöyog, nQogBtdx%^ iv NixofiridBicc öidyBiv. Also
ganz dasselbe was Libanius und Sokrates indirect vor die kappa- .
dokische Haft setzen setzt Sozomenus ausdrücklich nach dersel-
ben; so Gallus' Aufentlialt in Ephesus, so Julian's Studien in
Gonstantinopel. In 'Bezug auf das Erstere scheint Sozomenus nun
gleich im Unrecht zu sein ; denn dass Gallus und Julianus gleich-
zeitig aus Makellum entlassen wurden, und zwar jener um vom
Kaiser zum Gaesar ernannt zu werden und alsbald an seinen
Posten nach Antiochia abzugehen» wird durch viele Zeugnisse
ausser Zweifel gesetzt: s. Jul. ad Athen, p. 270 D. 271 D. Gregor.
Naz. ni. p. 61 D: tov ^iv däBXipdv i; (pUavd'QC^jeia rotJ
avtoxQdtOQog AuoSbCxwOi ßaOikia^ . , tä dl vniiQXB xatcc
jcoUilv i^ov6lav xal aÖBiav u. s. f. Liban. or. I. p. 527 R. :
ixBCvip fihv ovv tcbqI tavta i} öTCOvdij (in Nikomedia), r^
d' dÖBkq)^ yCvBtai ^Btovöia vqg ßaöikslag xatä to ÖBvtBQOt/
(JXW^9 Ammian. M. XIV, 1, 1 von Gallus: ex squalore nimio
miseriarum ... ad principale culmen . . provectus, vgl. Tille-
mont bist, des emp. IV. p. 694, not. 2. Was aber die andere
Jugendgeschichte. 151
DlfTereiiz betrifft, die in Bezug auf Juliairs Studienzeit in ConT
stantinopel, so scheint eine Vermittlung nahe zu liegen, Weder
Libanius noch Sokrates sprechen nämlich von Julian's Haft in
Maliellum, vielleicht weil sie nichts davon wissen; der Erstere,
der doch wohl Julian!s Sendschreiben an die Athener gelesen
hatte» vielleicht aus Versehen oder mit Absicht; Sozomenus aber
ist mit Julian derjenige welcher die genauesten Notizen über
diese Haft mittheilt. Sechs Jahre lang (Jul. ad Ath. p. 271 B)
war nämlich Julian mit seinem Bruder Gallus in fundo Macelli
(Amm. M. XV, 2, 7. vgl. Sozom. X, 2, p. 165 D. Vales. : jegog-
Btdx^6av iv K(Knna8oHCa SiaxqCßaiv iv MaxekXpy welcher
Aufenthalt von Soz. als ein ganz erträglicher dargestellt wird),
von allem standesgemässen Umgange abgesperrt (ad Ath. p. 271 C)
— denn der Besuch des Constantius (ad Ath. p. 274 A) war ein
vorübergehender und hatte wohl andere Zwecke — , allein auf
Bücher (vgl. z. B. Jul. Epist. 9 extr.) und ihre Dienerschaft an-
gewiesen. Da von hier aus Gallus zum Caesar ernannt wurde
und dieses im März 351 geschah , so wissen wir dass der Anfangs-
punkt dieser sechsjährigen Gefangenschaft das Jahr 345 ist, wo
Julian 14 Jahre alt war. Es liegt nun die vermittelnde Annahme
nahe dass Julian, sowohl vor seiner kappadokischen Gefangen-
schaft als nach dieser, in Constantinopel studiert habe, und darauf
führt Sozomenus' Ausdruck: er sei dahin zurückgekehrt {exav-
€ld'<Dv)y von selbst. Nun fragt sich zuerst, welche von beiden
Studienzeiten die Eifersucht des Constantius erregte? Nimmt
man die frühere an , so hat man den Vortheil dass nun die kappa-
dokische Haft nicht mehr so unmotiviert dasteht und dass mit
ihr nun wirklich die Reihe dessen beginnt was Julianus persön-
lich durch Constantius erlitten (da die Ermordung seines Vaters
und älteren Bruders und die Einziehung seines Vermögens früher
Statt halte als Julian's Selbstbewusstsein vollständig wach war),
wie Julian selbst es darstellt ad Ath. p. 271 B; für die zweite
sich zu entscheiden könnte man durch den Umstand veranlasst
werden dass bei dem alsdann schon vorgerückteren Alter des
Julian die Eifersucht des Constantius natürlicher erscheint, und
dass die Angabe des Libanius mehr zu ihrem Rechte kommt, da
dieser, in Nikomedia wohnend, doch wohl darüber unterrichtet
war von wo aus Julian in diese Stadt gekommen sei. Indessen
wird, was das Letzte betrifft, die Untrüglichkeit von Libanius'
Angaben durch seine Auslassung der historisch feststehenden
152 Kaiser Julianus.
kappadokischen Haft bedeutend veriDindert, und in Bezugs auf
das Erste ist es zweifelhafl ob Constantius, wenn Julian schon
erwachsen war ^Is er die Aufmerksamkeit des Volkes und die
Eifersucht des Kaisers erregte, sich mit der blosen Verweisung
in eine audere Stadt begnügt bätte; auch halte das Volk nach
Julian's kappadokischer Haft weit weniger Veranlassung in ihm
den künftigen Kaiser zu erblicken , da eben erst Gallus zum Caesar
ernannt war und sich noch durch Nichts verhasst gemacht hatte. Es
ist daher an sich schon überwiegend wahrscheinlich dass der Ver-
lauf folgender war. Vielleicht von seinem zehnten Jahre an (weil
es doch längerer Zeit bedurfte bis der Ruf der Talente eines
bescheiden auftretenden Knaben so weil sich verbreitet und solche
Gedanken erregt) besuchte Julian die Unterrichtsanstalten zu Con-
stantinopel; durch seine Fähigkeiten wurde die Aufmerksamkeit
des Volkes und der Argwohn des Kaisers rege gemacht, und
dieser verbannte ihn nebst seinem Halbbruder nach dem fernen
Kappadokiön und hielt sie dort 6 Jahre lang in strenger Haft.
Nach seiner Freilassung kehrte Julianus nach Conslantinopel
zurück, das ihm am meisten bekannt und durch seine Jugend-
erinnerungen theuer war, und wohin er sich um so furchtloser
begab weil damals sein Verfolger nicht dort residierte. Von hier
aus führte den Julian sein Lerntrieb bald nach dem nahen
Nikomedia, dessen Unterrichtsanstalten sich damals eines beson-
deren Rufes erfreuten. Julian kam also wirklich von Constau-
tinopel aus nach Nikomedia, — darin hat Libanius vollkommen
Recht und darüber konnte er sich auch nicht wohl täuschen, um
so weniger weil er persönlich die Wirkung davon zu empfinden
hatte dass Julian unmittelbar von Conslantinopel herkam (durch
das Verbot seiner Vorlesungen); aber darin hat er Unrecht dass
er diesen zweiten kurzen Aufenthalt in Conslantinopel verwechselt
mit dem früheren längeren und daher bekannteren, welcher durch
Constanüus unterbrochen worden war, während d^n zweiten Julian
freiwillig beendigte. In Folge dieser Verwechslung fand Libanius
keinen Raum für Julian's Aufenthalt in Makeilum, und Sokrates
schloss sich in allen Punkten an ihn an. Die ganze Schilderung
welche beide von Julian's Rolle in Conslantinopel geben ist' richtig
und passt nur auf dessen frühere Jahre, nur auf die Zeit vor
Makeilum; erst in den Folgen welche sie diesem Aufenthalte
geben irren sie , indem sie als solche die Verweisung nach Niko-
mediana tsatl der nach Makeilum angeben und so einen Zeitraum
Jugendgeschichte. 153
von sechs Jahren überspringen. Sozomenus sab den letzteren
Fehler ein, verfiel aber, indem er ihn verbessern wollte, in einen
andern. Er versetzte nämlich das was seine Vorgänger richtig in
Julian's 12. — 14. Lebensjahr setzen in dessen zwahzigstes, wohin
es nicht passt, Hess aber die Erzählung jener durchblicken, indem
er die nach Makellum erfolgende Reise nach Constantinopel eine
Rückkehr nannte, was nur unter der Voraussetzung verständlich
ist dass der erste Theil der Angaben des Libanius und Sokrates
die Wahrheit enthält. Richtig ist also an Sozomenus' Bericht die
Einschiebung der kappadokischen Haft und die Andeutung eines
zweimaligen Aufenthaltes in Constantinopel ; irrig aber ist dass er
den zweiten Aufenthalt daselbst auf eine Weise schildert und ihm
Folgen beimisst welche vielmehr zu dem ersten gehören; dieser
Irrthum ist daraus entstanden dass Sozomenus die Angabe seiner
Vorgänger,' Julian sei durch die Eifersucht des Kaisers nach
Niko media verwiesen worden, beizubehalten suchte, anstatt
sie zu berichtigen.
Zu dieser Darstellung stimmt auch dasji^nige Datum welches
einen weiteren schwierigen Punkt im Leben des Julian bildet,
nämlich seine Zusammenkunft mit Gallus. Als man später, nach
der Ermordung des Letzteren, nach einem Vorwande suchte auch
den Julian zu verdächtigen und anzuklagen, stützte man sich auf
zwei Punkte: quod a Macelli fundo ad Asiam demigrarat liberalium
desiderio.doctrinarum et per Constantinopolim transeuntem viderat
fratrem (Amm.,M. XV, 2, 7). Das Erste scheint sich darauf zu
beziehen dass Julian von Makellum aus nicht an den Hof sich
begab , sondern seinem Wissenstrieb folgte und nach Nikomedien
sich wandte. Diess that er insofern n'on sine iussu als Constantius
ausdrücklich ihm die Erlaubniss ertheilt hatte sich zu unterrichten
wo er wolle, indem er es gern sah Ttsgl ta ßißkCa Ttlaväöd'aL
avtdv xal agystv [lakkov ij tov yivovg xal tijg ßaCiksCag
V7tofiLfivijaxB0d'ccL (Euuap. Max. L p. 48 Boisson.). Ammiän über-
springt hiebei wegen der Beiläufigkeit seiner Notiz den kurzen
zweiten Aufenthalt Julian's in Constantinopel wenigstens insofern
als er ^denselben nicht ausdrücklich erwähnt, aber auch nicht
aQss.chliesst. Hätte er ganz genau sein wollen, so hätte er sagen
müssen: weil er, von Makellum entlassen, in Constantinopel nicht
geblieben war, sondern sich alsbald von da aus nach Nikomedia
begeben hatte (aus Wissensdurst). fJebrigens schliesst hier Ammian
Kappadokien^ als den wesentlichsten Theil, von dem eigentlichen
154 Kaiser Julianus.
Kleinasien aus; denn dass er Asia hier nicht in dem engsten
Sinne (As. propria) nehme, sondern in dem von Kleinasien beweist
der Umstand dass er Nikomedia darunter mitbegreift, wofern
die Benennung nicht überhaupt vom europaischen (constantino*
polischen) Standpunkte aus gewählt ist. Schwieriger ist der
zweite Punkt der Anklage. Nach Ammian fand also die Zusammen-^
kunft in Constantlnopel statt, und zwar zu der Zeit als Gallus,
IUI Begriffe sich nach Antiochia zu verfugen, durch diese Stadt
reistjB. Wenn er blos durchreiste, woher kam er? ^E^'lraliag,
sagt Liban. I. p. 527 R. (jitifiTtstaL il^ 7. ti^v ngog sm tpQov-
Qijacov). Was hatte er dort zu thun? Er hatte von Constantius
seine Belehnung mit der Caesarwurde entgegengenommen. Hatte
aber' Constantius damals (J. 351) seine Hofhaltung bereits in
Italien, in Mediolianum? Unmöglich. Noch herrschte Magnentius
im Occidente, und eben darum war Gallus zum Caesar ernannt
worden damit Constantius seine Aufmerksamkeit und Kraft un-
gethellt dem Magnentius zuwenden könnte, der dann auch im
J. 353 seinen Untergang fand. Man muss daher annehmen, Con-
stantius habe sich zu Anfang des Jahres 351 zwar in Mediolanum
ebensowenig als in Constantinopel aufgehalten, aber doch in der
Nähe von Italien und dem Kriegsschauplatze, so dass Libanius
den allgemeinen unbestimmten Ausdruck gebrauchen konnte i^
'Irakiccgy während doch Constantius das eigentliche Italien erst
im folgenden Jahre (352) von Magnentius eroberte. ' Dahin wo
sich grade der Kaiser befand wurde Gallus berufen, zum Caesar
ernannt und erhielt die Weisung sich schleunigst nach Antiochia
zu begeben. Auf dem Wege dahin kam er durch Constantinopel,
und hier sah er, nach Ammian, seinen Bruder Julian. Möglich
ist diesswohl; es beweist, wenn es richtig ist, nur die Schnellig-
keit mit der sich Gallus auf seinen Posten begab, vermöge welcher
er seinen Bruder noch in Constantinopel antraf, so kurz dessen
Aufenthalt in dieser Stadt war. Aber bei Libanius findet sich
noch eine andere Version: ixstvog fihv ovv (der zum Caesar
ernannte Gallus) xal dvd f^g BitwCag doQVfpoQoviißvog i%oiQBt
xal elSov (die Brüder) ccIXTJko (or: I. p. 527 R.). Während es in
Libanius' Darstellung zweifelhaft bleibt ob das Zusammentreffen
Zufall oder Absicht war, glaubt dessen Nachfolger Sokrates be-
stimmter sagen zu dürfen: Katöag dvaösix^Blg '^xbv 6i^6(i€vog
avtov (den Julian) slg rijv NixoiiijdBLav, otB i%l rijv idav
inoQBVBXo (III, 1). Wer hat nun Recht, Ammian oder Libanius?
J
Jugendgeschichte. 155
Fand die Zusammenkunft in Constantinopel statt oder in Niko-
media? Im Ganzen ist diess ziemlich gleichgültig, da die beiden
Städte so nahe bei einander liegen dass es in chronologischer
Beziehung so gut als keinen Unterschied macht ob Julian zur
Zeit da Gallus sich in seine Residenz verfugte noch in Con-
stantinopel war oder bereits nach Nikomedia abgegangen. In-
dessen scheint doch das Zeugniss des Libanlus mehr Glauben
zu verdienen , weil dieser damals selbst in Nikomedia . lebte und
somit aus der besten Quelle , aus dem Augenschein, seine Angabe
schöpfte. In Nikomedia hatte also diese Zusammenkunft statt.
Gibt man aber in diesem Punkte die Darstellung des Ammian
auf, so versteht es. sich von selbst dass auch die Rechtfertigung
des Julian nicht darin bestehen konnte dass er nachwies, auch
diese Zusammenkunft habe non sine iussu imperatoris statt-
gefunden ; er musste vielmehr erhärten dass Gallus ihn aufgesucht
habe, nicht er den Gallus, und dass die damaligen Verhandlungen
entfernt keine politische Tendenz gehabt hätten. Diess wird er
um so mehr gethan haben als er auch Ep. ad Ath. p. 273 A
eidlich versichert dass er so gut als gar keine, am wenigsten
aber eine politische, Verbindung mit Gallus gehabt habe, was
auch Libanius (or. I, 530) nachdrücklich bekräftigt.
In Nikomedia also war Julian frei und konnte Lehrer wählen,
welche ihm beliebte, nur mit einer Ausnahme: den Libanius,
den berühmtesten, durfte er nicht hören, das hatte er seinem
früheren Lehrer in Constantinopel, dem Christen Ekebolius, eidlich
versprechen müssen (Liban. I, 527), ein Eid dessen lästige
Wirkung er durch seinen Eifer zu vereiteln wusste, indem er
sich um schweres Geld einen ständigen Nachschreiber bei Libanius
hielt (ytOQ^iida tivct xäv xad'' i^fiSQCCv ksyofidvcov dcoQsatg
fisyäkaig xtr^ödfisvog , ibid.). Dieses Factum, worüber Libanius
doch Gewissheit haben musste, ist einer der stärksten Beweise
dass Julian von Constantinopel aus nach Nikomedia kam. Der
Aufenthalt in dieser Stadt wurde für Julian's Religions- Richtung
entscheidend. Hier war es nämlich wo seine von Kindheit an
gehegte Vorliebe für die althellenische Religion (Ammian. Marc.
XXII, 5, 1 : a rudimentis pueritiae primis inclinatior erat erga
numinum cultum, vergl. Julian, or. in Sol. p. 130 C: ivtitTjxs
fiot dsivog ix Jtaidmv täv aiyäv xov %'sov %6%'og^ und aus
der kappadokischen Zeit die Notiz bei Gregor. Naz. or. III.
p. 61 C, Julian habe gegen seinen Bruder immer die helle-
156 Kaiser Julianus.
niscfae Religion vertheidigt) vorzugsweise durch den um seinet-
willen hieher gekommenen Philosophen Maximus (Sokrates III, 1.
p. 136 ßC) solche Nahrung fand dass er innerlich vollständig
mit dem Christenthume brach und nur den äusserlichen Schein
aus Furcht noch beibehielt (vgl. Julian. Ep. 42, p. 80 Heyler.
Liban. I. p. 528. Ammian. M. XXII, 5, 1 f. Sokr. lU, 1. p: 144
C. Sozom. V, 2, p. 166 D. Vales.). Daher sagt auch Gregor von
Naz. or. III. p. 61 D : *Aöla yv avtp to tijg dösßsüicg äiäa-
öxcckstov und schreibt mit Recht der Philosophie sein Abwendig-
werden von dem Christenthume zu: ijtsl äh stg avögag TCQotovxeg
(Gallus und Julian) f^dri rätf iv q>iXo0oq)Ca doyiiätcav ^^avto
(dg iiilTtotB Sq>Bkov!) xai f^v ix rov loyov ngogskafißavov
dvvcc^LV , . . ovxdtL xaxs%aiv oXijv ri^v voöov olog xs r^v (Julian
nämlich), ibid. A. , womit vollkommen übereinstimmt Liban. or.
I. p. 528 Reiske: xai %otB (in Nikomedien) xoig xov IJkdxcDvog
ysiiovöiv slg xuvxov ikd'(6v äxovöag VTtdg xs &S(Sv xai dair-
(lovcov . . aXfivgdv axor^v äTCSxlvöaxo itoxifiGH koyai xai Ttdvxa
xov %iiL%QO0%'Bv ixßakiov vd'kov dvxsLgrjyaysv slg xiqv ^fv^qi^
xb xiig dkrid'Bcag xdlkog^ SönsQ stg xcva fiiyav vs(ov dydkfjkaxa
d'SfSv TtQOxsQOV vßQL(S(iiva ßoQßoQG). xol ^v (ihv tcsqI xavxcc
sxsQog, ic%ri^ax{isxo äh xd XQOöd'SVy oi yaQ ^gi}i/ q)av^vat.
Eine bedeutend abweichende Darstellung gibt Eunapius in Max. I,
p. 48 Boisson. : Ttavxaxov ßa^icuv xai ßagvxdxcDv vjcoxstfidvcav
xxrjiidxcsv fisxd ßaöiXcx'^g vicovotag xai doQV(pOQCag TtSQvsfpolxa
xai 8ii0xsv%EV oicy ßovkoLxo. xai öiq xai slg lHgyaiiov ig>L'
xvsixai xaxd xkiog xiig AlSsöCov OofpCag. Aber dieser, selbst
schon zu alt, weist ihn an seine Schüler, von denen jedoch grade
nur Chrysanthius und Eusebius anwesend sind. Von dem Letzteren
geheimnissvoll auf Malimus hingewiesen, eilt er diesem nach
. Ephesus nach; auch den Chrysanthius ruft er hieher, xai [loktg
^(>xot;i/ a^(p(D xfj xov naidog slg xdg (iadij0sig svQV%(OQCa
(ib. p. 51). Aber ist schon Eunapius überhaupt ein unglaub-
würdiger Schriftsteller, welcher um jeden Preis seine Helden
verherrlichen will (daher er den Julian dem Maximus nachreisen
lässt, nicht umgekehrt, wie Sokr. III, 1. p. 136 C erzählt nach
der Andeutung bei Liban. or. funebr. I, 528: xiig q)TJfirig navxa-
%oZ q>SQOiLsvYig ndvxsg ot nsqil xdg Mov0ag xai xovg ak-
kovg ys %'Siyvg ol ^ihv ddoiTtoQOVV , ol d' inksov, öTtsiiöovxsg
ISstv r' ixstvov xai ovyysvko^'ai xai slnstv avxoC xi xai dxov-
0av ksyovxog) , so verräth sich die Unrichtigkeit dieses Berichtes
[Jugendgeschichte. 157
insbesondere noch in manchen einzelnen Punkten. Einmal in
der Uebertreibung womit Julian's Reichthum und in Folge dessen
sein Aufzug geschildert ist und welche nur den Zweck hat seine
Bemühung um Aidesius und Maximus in ein für diese noch
schmeichelhafteres Licht zu rucken ; denn Julian war damals nicht
reich, da er sein vollständiges väterliches Vermögen erst als
Kaiser wieder in seinen Besitz bekam (vgl. Jul. Ep. ad Ath. p.
273 B), und noch weniger war ein glänzender, Aufsehen er-
regender Aufzug der Julian's Neigungen und Erziehung ent-
sprechende. Auch beweist der Ausdruck roi) xatdog wie wenig ,
Kenntniss Eunapius von der Chronologie hatte, da Julian um
diese Zeit in seinem zwanzigsten Jahre stand. Denn dass seine
Abwendung vom Christenthume in diesem Lebensalter erfolgte
gibt Julian selbst an (Epist. 51: ststS'OfisvOL tp jcoqbv^bvxv
xdxeivTiv rijv 6d6v, nämlich das Christenthum, oixQ^S itäv
stxoöi). Wir haben also alle Ursache die Erzählung des Eunapjus
bei Seite zu lassen und uns an die mit Julian's eigenen Angaben
übereinstimmende Darstellung des Libanius und Sokrates zu halten,
wonach er (von Kappadokien aus, also nach seinem 19. Jahre)
nach Nikomedien kam und hier für die hellenische Philosophie
und Religion vollständig gewonnen wurde. Nur so viel können
wir an Eunapius' Erzählung als richtig anerkennen dass aller-
dings Julian um diese Zeit (etwa unmittelbar nach seiner Frei-
lassung} allerlei kleine Reisen in Asien herum ausführte, deren
er in seinem Briefe an Themistius p. 259 BC selbst Erwähnung
thut. Jedenfalls aber befand er sich in Nikomedien als sein
Bruder Gallus ermordet wurde. Dieses Ereigniss war auch für
Julian von bedeutenden Folgen. Man beschuldigte ihn bei dem
ängstlichen, misstrauischen Kaiser des.Einverständnisses mit Gallus.
Die Anklagepunkte und die Rechtfertigung welche ihnen Julian
entgegensetzen konnte haben wir des Näheren bereits betrachtet«
Es ist uns hier nur noch übrig die äusserlichen Hergänge welche
sich an diese Anklage knüpften darzulegen.
Der Tod des €allus erfolgte nach Gibbon im December des
J. 354, wo Julian volle 23 Jahre alt war, Gallus aber 29 (Amm.
M. XIV, 11, 27). Die Folgen welche dieses Ereigniss für ihn
hatte erzählt Julian selbst (ad Ath. p. 272 D) so: FiXkov xrsivat
naQsdioxs (Constantius) totg ix^lotoig^ i^h dh ätprixB fioyig STCtä
fiflvfSv 8X(PV 6kxv0ag tfjde xaxBl0s xal 3tOiri0ä(iBVog i^q>QOVQiov,
Also* von Gallus' Tod an wurde Julian 7 volle Monate lang hin und
158 Kaiser Julianus.
hergeschleppt und gefangen gehalten. Diess wird im Wesentlichen
auch durch Libanius bestätigt, der (Oratt. 1. p. Ö30 R.) berichtet:
(rdkXog) änid^riaxev uqxavoq^ . . xal ai^tixa ovtog (Julian)
avB6ica6x6 xb xal '^v iv (lioü) q>vXdx&v AnkiOiisvGiv . . .
xal TtQogijv to iirjäh iq>* ivog CdgvOd'ai. x^Q^ov, tojtovg Sh ix
röiccDv äiisißsi^v iv xakaiTCcnQia. Sokrates schllesst sich auch
hier an Libanius an, indem er (III, 1. p. 144 D Vales.) erzählt:
inal rdkXog apygidi], TCagaxQ^fia xal 'lovXiavog VTCOTtxog
xareöxfj x^ ßa6ikhi' dib q)Q0VQst6^ai aixov ixik€v€ev, l(Sxv-
0ag dh SiaÖQaOai xovg q)QOVQOvvxag avxöv xötcov ix x6nov
dfiscßcüv dL60cii6xo' o^h ÖS 7C0XB ij xov ßaöiXicog yafisxi^
EvCBßCa xQvnxo^BVQv dvBVQOvöa TCsid'Bt xov ßaOikm (irjdhv
fihv avxov ÖQaOat xaxbv^ 0'vyx^QV^f^'' ^^ ^^^ ^^S ^Ad-tjvag
ik%'6vxi q)iko0O(pBtv. Nur bat Julian und Libanius statt dieses
romanhaften, aus blossem Missverständniss der Ausdrücke des
Libanius entstandenen Versteckens und Entdecktwerdens, von wel-
chem auch Ammian nichts weiss, eine wahrscheinlichere Version,
dass nämlich Julian gefangen herumgeschleppt worden sei. Worin
aber bestand dieses ikxvBöd'ail Jedenfalls einmal darin dass
Julian von Nikomedia an den Hof, der sich jetzt zu Mediolanum
befand, transportiert wurde (perductus, Ammian XV, 2, 7; vgl.
ib. §. 10 u. c. 3, 1, wo derselbe Ausdruck wieder von Gefan-
genen gebraucht ist). Constantius bereute die Ermordung des
Gallus, sobald sie vollzogen war, um so mehr aber hiess ihn sein
böses Gewissen die Rache des Julianus furchten. Gern verwan-
delte sich die Furcht in Zorn, als ihm seine Camarilla einredete,
Julian habe sich mit Gallus gegen ihn verschworen gehabt. Aber
der Kaiserin Eusebia Fürsprache und Vermittlung beseitigte für
Julian die ihm drohende Gefahr. Sie verschaffte dem Gefangenen
und Angeklagten eine Privataudienz bei dem Kaiser, der ihn seit
Kappadokien nicht mehr gesehen hatte (ad Ath. 274 A), worin
Julian die falschen Anklagen zurückwies und sich vollständig
rechtfertigte (Jul. ad Ath. 273 A. Or. IIL p. 118 B: o'ßx dv^xBv
ij Ev0BßCa xavxa ÖBOiiivri tcqIv ifih rjyayBV Big o'^iv xiqv
ßaöikiag xal xvxbIv i%olri0B koyov, xal äjcoXvofiivc;} Ttäoav
alxiav adixov 0vv7J0d'fi; vgl. ad Ath. 274 A: axal^ iv ^Ixakia, mg
äv x'^g öcjxfjQiag xiig ifiavxov d'agQtjoaiiit). Constantius ver-
sprach ihm noch öfter ihn vor sich zu rufen, was aber der
Eunuch Eusebius zu hintertreiben wusste, so dass ihn Constan-
tius, obwohl Julian ungefähr sechs Monate in Mediolanum sich
Jugeudgeschichte. 159
aufbielt (Jul. ad Äth. p. 274 A: xaltoi trjv avrrjv ccvrp nokiv
SS äxrj0a ii'^vag^ xal (livroi, xal \mic%Bx6 [is d'eäösefß'av
ndXiv)^ nicht wieder sah bis nach seiner Rückkunft aus Hellas.
Sogar sein Leben wäre in Mediolanum vor den Nachstellungen
der schuldbewussten und daher ihn fürchtenden Camarilla nicht
sicher gewesen (cum obiecta dihieret, nefando adsentatorum coetu
perisset urgente, Ammian XV, 2, 8, vgl. Jul. ad Ath. 273 A),
ni Eusebia suffragante regina ductus ad Comum oppidum Medio-
lano vicinum (w^o er seinen Feinden aus dem Gesicht war),
ibique paulisper moratus procudendi ingenii causa, ut cupidine
flagravit, et Graeciam ire permissus esset. So Ammian und ebenso
Libanius (Orr. I, 531 R.): rov 81 slösv . . rj KovCtavtCov
ywri xal xov fihv (Julian) i^lst^as, tovSh (Constantius) i^idkal^e
xal TCoklatg xatg txscCavg IkvOsv (von seinen Banden) sgävtä
t'^g ^EkkdSog xal fidXtöta dt] xov x'^g 'Ekldöog 6q)d'ak(ioVf
xäv '^d'fjvdivj elg yrjv iQ(X)(i6V7iv ^dfi^at. Aber die Darstel-
lung beider Schriftsteller ist aus Julian in einem Punkte zu er-
gänzen: Julian wurde nicht unmittelbar von Comum aus nach
Hellas entlassen, sondern er hatte, unterstützt von Eusebia, sich
die Erlaubniss ausgewirkt in die Heimat seiner Mutter, iytl xtjv
xijg (Hfcg^g (weil sein väterliches Vermögen confisciert war) aOxCav
(ad Ath. 273 B), also wohl nach Bithynien oderlonien, zurückzit-
kehren (Or. lU. p. 118 B von Eusebia: otxaSs inid^^ovvxi ndUv
dnUvai Ttofinrjv d0q)akij naQi0%av, ixixgiil^aL TtQiSxovxov ßatSi-
Xia ^viiJtEiöaaa), Schon war er unterwegs (vgl. ad Ath. 273 A: dg
ow dnoq)vyfov s^Bt&sv aö^evog 67COQ€v6fiif)v inl xi^v r^g (irjXQog
iüxiav, und nachher Jtogsvofidvöv sjtl xr^v BCxiav)y als sich
tibqI x6 Uigiitov und nachher aus Gallien Sykophanten erhoben
iHdd Unruhen aus ihren Gegenden meldeten (ad Ath. 273 CD;
in der Lobrede auf Eusebia, Or. IH. p. 118 C- drückt er sich,
wie es der Tact gebot, unbestimmt aus: daifiovog rj xvvog
l^vvxvxCag dXkoxoxov 6d6v xavxriv vitoxa^Lo^iivrig), Der miss-
trauische Constantius fürchtete, Julianus möchte sich an die Spitze
einer dieser Empörungen stellen (ßaiöag navxdstaet xal (poßri^slgy
ad Ath. 273 D), schickt ihm daher sogleich nach [avxlxa an"
ipih ni^Tcai) und weist ihn weg von dem Schauplatze beider
Aufstände, nach Hellas, wofür sich in seiner Abwesenheit Eusebia,
•
seine Neigungen wohl kennend, verwendet hatte (Or. lü. p. 118 C
von Eusebia : iito^onbavov TtdfiTcav xr^v ^EkkdSa , xavxriv alxrj-
0a0a nagd ßaöckicog VTcag i^iov xal djtodruiovvxog 'ijdri xi^v
160 Kaiser Julianus.
XciQLv)*), Wir iivissen also dass er erst 7 volle Monate nach
Gallus' Tod nach Hellas kam, somit im Sommer des Jahres 355,
und den Ausdruck i^xvea^av vvissen wir so zu erläutern dass
Julian von Nikomedien nach Mediolanum transportiert, von da
nach Comum gewiesen, von dort nach Constantinopel entlassen,
unterwegs aber nach Athen beordert wurde. Zugleich aber sehen
wir dass es mit dem siehenmonatlichen Herumgezerrtwerden
nicht allzustreng zu nehmen ist; nur etwa einen vollen Monat
lang brachte er unterwegs zu, die übrigen sechs Monate verweilte
er in Mediolanum, freilich in einer Läge welche unangenehm
genug war, da er sich allenthalben von Feinden umringt sah.
Auch wie lange Julian in Hellas, oder vielmehr Athen, wohin
er sich sogleich begab, verweilte können wir bestimmen, da wir
den Anfangspunkt seines dortigen Aufenthalts wie den Endpunkt
desselben kennen. Der Anfangspunkt ist, wie wir eben gesehen
haben, etwa der Juni des Jahres 355. Nun war er aber am
6. November desselben Jahres schon einige Zeit, wenn auch nicht
lange (haud ita dudum ab Achaico tractu accitus, Amm. XV, 8,
1), in Mediolanum; denn an diesem Tage wurde er dort zum
Caesar ernannt, dem Heere vorgestellt u. s. w.; er muss also
Anfangs October den Befehl zu schleuniger Ruckkehr an den Hof
erhalten und Athen verlassen haben. Er war somit nicht über
ein Vierteljahr in Athen, wozu auch ganz der Ausdruck passt
^LXQOV sig ri)i; ^ElXaäa x€l€v0ag %mo%(»3qiioai^ ad Ath. p. 273 D.
Julian benutzte hier seine Müsse [(S%oXri ixelvri^ Ep. ad Themist.
p. 260 B, wo er auch seine damalige Besitzlosigkeit schildert,
vgl. Liban. oratt. I, 531 R.) zu emsigem Studium der Philosophie,
wiewohl er sich bereits duri^h seine gründlichen Kenntnisse aus-
zeichnete (Zosimus HI, 2, 1: ix täv ^A^riväv *IovXiavov fi£-
raTcdfiTCsraiy totg avröd'i rpikoCoq)OV0i Cvvovta xal iv icavxl
7tatd€v0S(X>g stÖBi tovg iavTOv xad^ysiidvag VTtSQßakXo^isvov^
*) Gregor. Naz. IV. p. 121 D sagt , er habe ausdrücklich den Kaiser
um Erlanbniss- zur Reise nach Hellas gebeten, angeblich um das Land
und seine Bildungsanstalten kennen zu lernen, in Wahrheit aber, um
mit den dortigen Opferern und Gauklern sich zu besprechen. Wahr-
scheinlich hat Julian dem Gregor gesagt was sein geheimstes Motiv sei?
— Dagegen Libanius ngogfpcDV. I. p. 410, 8 (Relske) sagt richtig: ors
aqijjQi&rjg zriv tov ßadi^siv onoL ßovXrj9'SLrjg i^ovciav iv zoiovzm
XODQ^co %aT s-Klaia&'Tjg £9 0 Teccvrcog av id^afisg i^ovö^ccg vnccQXOvarjg. Und
Julian selbst (ep. ad Themist. 260 A): änimv inl xriv ^KXXada itaXiv^
otB fis ipsvyBiv ivofii^ov ndvteg.
Jugendgeschichte. 161
und Libanius oratt. I. p. 532: (lovog ixstvog vsov tc5v 'y^d"^va^£
rjKovtcov dtdä^ag tv iiälkov ri (lad'av dx'^ld'Sy roiyaQovv asC
uva €(i'^V7i tcsqI avzov scogccto viov^ XQaößmaQOVy q)iko-
cötpcüv, Qi]tqQ<x)v). Aber er war damals noch so schüchtern
dass er erröthete so oft er zum Sprechen kam (Libau. 1. p. 533:
6 äi Xiycav ta riv dfioicog ^av^a6t6g xal aläovfiavog, oi yoQ
rjiu ozL %(x>Qlg iQvd^fiatog iqjd-ayyaro). Hier machte er auch
die Bekanntschaft des eleusinischen Hierophanten, Eunap. vita
Ma^imi I, p, 52 f. (Boiss.), der aber freilich nach seiner Gleich-
gültigkeit gegen den bislorischen Rahmen oder nach seiner Un-
kenntniss des streng Geschichtlichen diese Bekanntschaft in eine
viel frühere Zeit setzt. Andere Bekannte von Athen her begeg-
nen uns EpisL 55 und Ammian XXII,. 9, 13. Auch Gregor von
Nazianz und Basilius waren gleichzeitig mit ihm in Athen, aber
wohl ohne dass er ihnen bei seiner damals bereits entschiedenen
Richtung besonderes Interesse widmete {t'^g ngaötr^rog a'örov
aieavtag ccTcakavov, tov maxavao^ai 81 ol ßakxi0toi^ Liban.
I, 532); vielleicht auch wurden sie von ihm verdunkelt und
dadurch gekränkt. Bald aber rief Constantius, nachdem Eusebia
die entgegenstehenden ijjavdatg vito^Cag Siikvaav , ivagyatrax-
(iflQip xä ßic9 xcifip XQCDinivri (or. 111, p. 121 A), ihn an seinen
Hof zurück {ynxQbv alg xriv ^EKXdSa xalavaag v7toxc3Qij6ai
ndXiv ixat&av ixikai nag^ idvxov, ad Ath. 273 D. Or. lll.
p. 121 B). Unter schmerzlichen Thränen gieng Julian aus der
theuren Stadt einem noch Ungewissen Geschicke entgegen (ad Ath.
275 A). In Mailand, wo er Iv xivi itQoaOxaltp sich einquar-
tierte (ad Ath. 275 B), Hess ihn in Abwesenheit des Kaisers
Eusebia freundlichst bewillkommen (ib. p. 274 B) ; bald kam auch
Constantius, nachdem er eben den Feldzug gegen Silvanus glück-
lich beendigt hatte, nach Mediolanum, und Julian wurde nun an
den Hof gezogen (ibid. 274 C) , wo er sich wegen seiner Philo-
sophentracht Manches gefallen lassen musste (ib. 274 CD). So
war er nun unter Einem Dache [biioQOfpiog) mit denen von wel-
chen er wusste dass sie seiner ganzen Familie den Untergang
bereitet hatten (p. 274 D). Zwar schwand allmählich der Arg-
wohn der 'Höflinge gegen ihn (ib. 274 D), aber Julian fühlte sich
nicht heimisch in dieser Atmosphäre und wollte daher die Kaiserin
in einem flehentlichen Briefe um die Erlaubniss zur Rückkehr
ersuchen (ib. 275 C); aber er bedachte die Gefährlichkeit dieses
Schrittes, und da er noch überdiess durch einen Traum davor
Teaffcl, Studien. 11
162 Kaiser Jiilianus.
gewarnt wurde, so unterliess er ihn (ibid.). Ueberhaupt ent-
schloss er sich jetzt zu vollkommener Ergebung in sein Schicksal
(ib. 275 D bis 277 A) und liess es sich daher auch gefallen als.
ihn Constantius am 6. November 355 zum Caesar ernannte, so
bang ihm dabei war (ib. 277 A vgl. Misopog. p. 357 B. Liban. I,
532. Amm. XV, 8, 17), ertrug auch die zwar glänzende, aber
harte Gefangenschaft in welcher er die 24 Tage bis zu seinem
Abgang von Mailand lebte (ad Ath. 277 A — C).» Am 1. Decem-
ber 355 gieng er nach- Gallien ab (ib. 277 D und Amm. XV, 8, 18),
wobei die Art wie Constantius für seine Ausrüstung sorgte (Jul.
Ep. ad Ath. p. 277 D. Liban. orr. Lp. 535. Zos. III, 3, 3.
Amm. XV, 8, 18) die Vermutung nährte dass er nach Gallien
geschickt werde ovx ^^^- ßccövlsvy täv ixsivrj (lovov, akV
Xva iv ry ßaOvksCa Staq)SicQfj (Eunap. Max. I, 53. Soor. III,
1. p. 145 C. Ammian XVI, 11, 13), was aber w^ohl nur ein
Wechselfall war, den man zwar keineswegs fürchtete, aber auch
nicht unmittelbar wünschte.
Aus dieser Darstellung muss sich ergeben haben dass die
Hauptquellen, Julianus, Libanius und Ammianus, in keinem
Theile miteinander in Widerspruch sind; nur erzählt Julianus
manchen untergeordneten Punkt und manchen Nebenzug. welchen
Ammianus, der nur einen kurzen beiläuflgen Blick rückwärts
wirft auf die Geschichte des Julian ehe er Caesar wurde, über-
springen konnte und musste , Libanius aber entweder nicht kannte
oder übersah; wir haben somit festen historischen Boden genug
um eine zusammenhängende Darstellung dieses Theiles seines
Lebens gehen zu können.
2. tleber die Echtheit einiger Briefe des Julian^).
Eine ergiebige Quelle für die Geschichte des Julianus und
die Erkenntniss seines Charakters als Mensch und als Regent
sind seine Briefe. Schade dass wir sie nicht alle haben, dass die
erhaltenen nicht alle vollständig sind, nicht einmal die Echtheit
aller ausser Zweifel ist. Doch ist letztere Zweifelhaftigkeit bei
weitem nicht so gross als es der Herausgeber derselben, L. H .
Heyler, darstellt. Dieser verdächtigt z. B. Ep. 25, deren Inhalt
er so angibt: collata in Judaeos beneficia sua recenset. quos tum
•) Ans Schmidt's Zeitschr. f. Geschichtßwiss. IV. S. 166—161.
Echtheit von Jul. epist. 25. • 163
hortatur ut in ipsius gratiam preces ad deum mittant. denique
Hierosolymam ab ipso refectum iri pollicetur. Man sieht, der
Brief hat historisches Interesse,' und die Frage über seine Echtheit
ist daher schon vielfach verhandelt worden, s. die Literatur bei
Heyler p. 274. Was sind die Zweifelsgründe? Heyler selbst
fuhrt sie nicht auf, sondern gibt nur an dass schon Aldus, Martinius
und Petavius Bedenklichkeiten gehabt haben, indem sie der Ueber-
schrift des Briefes beifugten: ^el yrnieCcn^^'. Von äusseren
Gründen könnte hieher nur der Umstand gehören dass einige
Handschriften den Brief nicht haben, was aber für den der die
handschriftliche Beschaffenheit der Julianischen Briefe näher kennt
durchaus nichts Befremdendes hat. Von inneren Gründen dürfte
nur der von Belang sein dass sich Julian in diesem Briefe über
sein Verfahren gegen den Hof des Constantius auf eine Weise
ausspricht die der Geschichte zuwider ist und auf einen Verfasser
fuhren könnte welcher gegen Julian feindselig gesinnt gewesen
wäre. Während nämlich nach Ammian (XXH, 4, 2: data quo
velint eundi potestate proiecit, vgl. Socr. HI, 1. p. 139: roi)g
fihv ovv did tavvag tag altlag i^ißals) nur von einer Ent-
lassung, Ausweisung des Hofgesindes die Rede sein kann, sagt
Julian in dem Briefe: ovg ^ihv iy(o slg ßod'Qov äöag äls0a.
Aber recht verstanden sagen die Worte, wenn auch in einer
etwas übertriebenen Form, doch im Wesentlichen nichts Anderes
als was Animian und Sokrates auch angeben : er stiess sie von dem
behaglichen müssigen Leben, welches sie bisher gefuhrt, hinaus
in ein herbes, stiess sie von ihrer Höhe herab, und da die mei-
sten nichts Ordentliches gelernt hatten und ausser der Hofatmo-
sphäre nicht gedeihen konnten, so mochte bei Vielen die Folge
sein dass sie untergiengen. So schwach somit die Gründe gegen
die Echtheit sind, so stark sind die für dieselbe. Zuerst die
äusseren. Ausdrücklich berichtet Sozom. V, 22: 'lovdaloig svvovg
f^v xal TCQ^og . . xal avtä dh t^ TtXTJd-H lygatpav €vx£<f^cci
vithQ a'&tov xal tf^g avtov ßaCikelag, Diess entspricht den
Worten des Briefs: Iva iti iist^ovag Bvxcig noirltB VTchg f^g ifir^g
ßa6ikslag. Hätte (wie Heyler annimmt) ein Fälscher die Worte
des Sozomenos sich zum Thema gewählt wonach er den gegen-
wärtigen Brief ausarbeitete, so hätte er sicher nicht unterlassen
auch das v%kQ aitov seines Originals auszudrücken; und wie
kann man eine so untergeordnete Aeusserung zum Mittelpunkte
des Briefs machen und annehmen dass alle die übrigen theil-
164 • Kaiser Julianus.
weise wichtigen historischen Angaben desselben nur zur Bekleidung
jener einzigen gedient haben! Aber noch andere innere Gründe
sprechen für die Echtheit. Erstens hätte man später gar kein'
Interesse gehabt einen Brief dieser Art dem Julian unterzuschieben,
oder hätte man es gethan, so hätte das Product ganz anders
ausfallen müssen. Ein nachahmender Verfälscher pflegt die charak-
teristischen Eigenthümlichkeiten des Nachzuahmenden möglichst
stark aufzutragen, Julian aber war durch die Declamationen der.
christlichen Sehr iftsi eller allmählich in ein Licht gerückt worden
als habe er das ChristenLhum gehasst und verfolgt. Ein Späterer
nun, der einen Brief Julian's an die Juden fabriciert hätte, würde
ganz gewiss nicht unterlassen haben dem Kaiser Aeusserungen
dieses Inhalts unterzuschieben , wovon aber in Ep. 25 keine Spur
ist. Ebenso spricht sich der Brief über Julian's Vorgänger, den
christlichen Kaiser Constantius, nicht stärker aus als Julian sonst
zu thun pflegt. Auch wäre es wohl keinem Fälscher eingefallen
den Julian sagen zu lassen, er habe die auf die Steuern der
Juden bezüglichen Urkunden in seinem Archive verbrannt, was
eine sonst nirgendsher bekannte und nicht leicht zu erfindende
Angabe ist. Endlich kann an dem universell - religiösen Julianus
die Achtung womit er von dem Judengotte in diesem Briefe redet
um so weniger auffallen als er Ep. 63 (p. 133 Heyler) die Ueber-
zeugung ausspricht dass nur die Benennungen der Götter ver-
schiedene seien, das Wesentliche aber allefitbalben dasselbe.
Ebenso scheint der Brief an Arsakes (Ep. 67) nur mit Unrecht
verdächtigt zu werden.' Heyler sagt p. 485: minime credendum
est ab Juliane profectas esse litteras arrogantiam spirantes qualem
indignissimi nebulones prae se ferrent. Aber der bombastisehe
grosssprecheriscbe Ton des Briefes ist absichtlich angenommen,
weil er einem Barbaren, und zwar einem orientalischen Fürsten,
gilt, und ist darauf berechnet diesem zu imponieren {exjtk^iai,
vgl. Epist. ad Themist. p. 263 A). Eine andere, aber nicht hieber
gehörige Frage ist ob zu diesem Zwecke ganz die rechte^ Mittel
gewählt sind; da aber dieser Ton Julian durchaus nicht natürlich
war, so werden wir gegen Fehlgrifl'e im Einzelnen Nachsicht haben
müssen. Nicht triftiger Ist Heyler 's zweiter Grund : praeter Julian!
morem insultatur memoriae Constantii. Dieser wird nämlich aßgo'
tatog xal TtoXvBt'^ß genannt, welches Letztere im Munde des
dreissigjährigen Julian gegenüber von dem 45 jährigen Constantius
freilich auffallend ist. Auch diese Herabsetzung des Constantius Ist
. Echtheit von Jul. epist. 67 ff. 165
darauf angelegt den Arsakes einzuschüchtern und ihm zu sagen dass
jetzt strengere Saiten aufgezogen werden. Ob derselbe Zweck
nicht auch auf andere Weise zu erreichen gewesen wäre gehört
nicht hieher. Auch dieser Brief ist durch Sozomenos hinreichend
geschützt. Dieser sagt (VI, 1): ^AgöaxCco . . . ^ygaiffs öviiii^ai
3t6Ql tiqv 7toX€(iittV' djtavd'ttd€iccöci(i€v6g rs JtSQav tov (istgiov
iv ry ijtiöroXy xal avtdv (i'^v iJ^ägag ag ijcttr^dsiov JtQog
riysiiovCav xal tpiXov olg ivofii^s d'eotg (was alles Wort für
Wort auf Ep. 67 passt), K&vötavriG) rt, ov dud^liato^ (6g av-
dvdgG) xal äasßst koLSooTjödfisvog u. s. w.' Die Unmännlich-
keit liegt in aßgörarog ausgesprochen, das Prädicat äösß'^g oder
dveasß'^g aber muss, wenn man es nicht schon in dem Gegen-
satze zu Julian, der sich tov d'säv d'SQaxsvtijv nennt, liegen
sollte, an die Stelle des ohnehin sehr auffallenden und nur auf
Muratori's Handschrift beruhenden JtoXvstiqg gesetzt werden.
Wenn endlich Sozomenos als weiteren Inhalt des Briefs angibt:
insl XQi0tiavdv ovta invvd'ävsto {tov ^AQöaMov) , STtitsivmv
tf^v vßgvv rj ßXa0q>ri[istv S ft^ d'ifiig 0jtov6d^(ov elg tov
XQi0r6v^ . . . axETCoimaöBv v7to8ijX(Sv (og o'öx iTcaiivvoi ov
riysttat d'eov oXLyoQOvvti täv TtQogtstayfiiviov ^ so kann diess
nur zum Beweise dienen dass hier derselbe Fall ist wie so häufig
bei Julian (vgl. Heyler zu Ep. 27 p. 292, zu 38 fin. p. 350 und
zu 63 fin. p. 479) , dass nämlich die mönchischen Abschreiber
die dem Christenthum feindlichen Stellen gradezu weggelassen
haben; vielleicht aber ist die Steile nur eine Reminiscenz von
einer aus Sokrates herübergenommenen früheren Erzählung (V,
4. p. 483 D) , wo es von Julian hiess : btcsI Sh xal iTtiöxcijttcDv
ol SitsQ sidd'ai elg tov XQiötbv, ßXaöq>riiic3v ov äh 6 yaXi-
Xatog cfov (des blinden Bischofs Maris) d^eog, bItcs^ %'SQaxav6si
0s. Endlich muss selbst Heyler, der pathetisch sagt: equidem totum
foetum ut impurum damno; scripserit aliquis fraudator, qui e
Sozomeno didicerat Julianum similis argumenti litteras ad Arsacem
dedisse, — zugeben: quisquis fuerit auctor, non imperitus erat
still Julian!. Also ein neuer Bestätigungsgrund der Echtheit.
Auch die zuerst von Pabricius herausgegebenen , von Heyler
unter No. 68 — 77 abgedruckten Briefe halte ich mit Ausschluss
des letzten und etwa des ersten alle für echt. Heyler ia%einer
zuversichtlichen Manier urteiU über sie (p. 495): mea sententia
complures intersunt indignae Juliano. aliae sunt adeo futiles ut
argumentum agnoscam nullum easque scriptas censeam ab otioso
166 Kaiser Julianus.
quopiam homine, qui nugis eiusmodi tempus falleret; aliae, quibus
argumentum est quantumvis leve, tantam in singulis loculionibus
cum stilo Juliani concordantiam referunt ut Julianum se ipsum
exscripsisse minus existimem quam servum aliquod imitalorum
pecus(?) fucum nobis facere voluisse. So ungeschickt indessen
diese ganze Argumentation ist, so ist doch Einzelnes davon nicht
zu bestreiten. So ist es an Ep. 68, die bei Heyler 8 Zeilen
füiit , jdoch auffallend dass fast die Hälfte aus Wendungen besteht
welche wörtlich ebenso in JFrüheren Briefen vorkommen (s. Heyler's
Noten). Desto weniger ist bei Ep. 69 Grund zur Verdächtigung.
Inhalt und Form ist durchaus in der sonstigen Weise de$ Julian,
und auch Heyler sagt (p. 497) : quaedam leguntur utique- con-
venientissima Juliano. Nichtsdestoweniger meint er: sententiae
complures 3deo sunt inconcinnae ut interpolatus videatur contextus.
Nur hat- er diese sententiae inconcinnae näher nachzuweisen unter-
lassen, und die Annahme einer blosen Interpolation enthält das
Zugeständniss der Echtheit in sich. Auch Ep. 70 erklärt Heyler
für unverdächtig, wie er den Inhalt von Ep. 71 non alienum a
Juliani morlbus findet. Ep. 72 erklärt er stillschweigend für
echt, 'von Ep. 73 urteilt er (p. 500): insunt complura slilum
Juliani referentia. Dagegen bei fp. 74 heisst es (p. 503): ab-
surdas hasce litteras nemo sanus iudicabit esse Juliani. is enim
pro vitandis publicae vectnrae incommodis (unrichtige Darstellung;
die Post ist nur nicht zu rechter Zeit da, und er tröstet sich,
er wäre doch nur durchgeschüttelt worden u. s. w.) minime coactus
esset pedibus uti suis; vel si delectationis gratia pedestre fecisset
iter nuntiaturus a puerili temperasset ostentatione, quae nugarum
insulsissimum venatorem -prodit. Mit solchen polternden Urteilen
wird nichts bewiesen. Abgesehen davon dass es nicht unmöglicii
ist dass der Brief von Julian geschrieben wjirde ehe er eine
öffentliche Stellung hatte, ist es ganz in der Art des mit seiner
Einfachheit und -Abhärtung sogar etwas kokettierenden Kaisers,
wenn die erwartete Fahrgelegenheit nicht im Augenblick zur Stelle
ist, einen Theil des Weges (bis er eingeholt wird) zu Fusse zurück-
zulegen. Und was die ostentatio betrifft, so hätte ein Privatmann
(was der nugarum venator wäre) dazu gar keine Veranlassung
gehabt^ indem nur bei einem Hochstehenden etwas Derartiges
einigermaassen bemerkenswerth erscheinen kann; indessen ist die
ostentatio in. dem Briefe gar nicht vorhanden, und derselbe hat
so viele kleine Eigenthümlichkeiten des Julian an sich (Citate aus
Echtheit von Jul. epist. 68 ff. 167
Homer und Piaton, Lieblingswörter wie dXXoxorog ü. dgi.) dass
wir ihn unbedenklich für echt halten. — Zu Ep. 75 bemerkt
Heyler (p. 505): adeo futilis est ut an (num) Juliani sit addu-
bitare liceat. otiosi sophistae poterit esse lucubratio (also — wenn
wir nur das Uebertriebene dieser Behauptung abziehen — auch
Juliani). löcutiones tamen usurpantur quas ad instar bonorum
auctorum Julianus frequentavit (d. h. quibus saepe usus est);
unde liquet fraudatorem, si extitit, non ex toto rudern fuisse.
Diess hebt sich von selbst auf, und der Brief ist also julianisch.
— Ep. 76 ist, wie auch Heyler (p. 507) anerkennt, entschie-
den echt und auch äusserlich ganz gut beglaubigt. Aber Ep. 77
ist das Fabricat eines Christen, so gewiss wie der angebliche
Brief des Gallus an seinen Bruder Julianus. Heyler (p. 510)
ereifert sich wiedeft: quae hinc elucent, intolerabilis arrogantia
prorsusque ridicula iactatio, non minus ab indole Juliani sunt
alienae quam ab eins stilo vocabula quaedäm abhorrent mon-
struosa, quae nonnisi ab insulsissimo nebulone poterant effingi.
Andere Verdachtsgründe sind : Julian , der mehrere Jahre in Gallien
und Germanien zubrachte, hätte die (ioQq)Tq dygio^ipoviSa der
Gothen nicht neu und bemerkenswerlh finden können; er hätte
nicht voraus und am wenigsten an ßasilius geschrieben: dst gia
0VV JtoXXä rp tdxet xaraXaßatv trjg JleQöäv; die Wendung
(det fis XQOitmöaöd'aL tov UdsecjQa) &xqvs o'S vnotpoQog xal
vTCQTsXijs f^o^ yivritaij ist eine specifisch christliche (neutesta-
mentliche) und hier sehr übel angebracht; Julian soll sich zu
seiner Legitimation auf nichts Besseres zu berufen wissen als
darauf dass er K(Qv0tavrivov tov xQatidtov d%6yovoq sei,
was bei einem Christen allerdings fast die einzige unbedenkliche
Beglaubigung für Julian war; endlich ist die Abzweckung des
ganzen Briefs absurd, und in der Form zeigt sich eine ganz un-
julianische Armut an Ausdrücken, so dass dreimal von Julian's
Charakter yaXijvog gebraucht wird, was Julian niemals in diesem
Sinne angewandt hätte, zweimal die Verbindung vnotpoQog xal
iTCOteXrjg u. s. f. Die Unechtheit kann daher kaum bezweifelt
werden. Echt ist nur das durch Sozom. V, 18 hinreichend be-
glaubigte Witzwort am Schlüsse {dviyv<x>v^ Syv(ov xal xatsyviov),
welches die Veranlassung zur Anfertigung des ganzen Briefes
gegeben hat.
168 Kaiser Julianus.
3. Jnlianas und seine Beurteiler^).
So entgegengesetzte Auffassungen und Beurteilungen kann
keine andere lüstorische Persönlichkeit erfahren haben ^ie Kaiser
Julianus, von den Christen benannt der Abtrünnige, von Männern
seiner Partei mit dem Beinamen des Grossen verherrlicht**). In
neuerer Zeit sind die Gegensätze am schroffsten hervorgetreten
unter seinen franzosischen Beurteilern. Während Montaigne ihn
un homme rare et un grand homme nennt und Voltaire erkläre,
Julian sei le second des hommes, pour ne pas dire le premier,
und darin dass man Julians Namen ohne das Beiwort des Ab-
trünnigen ausspreche peut-etre le plus grand effort de Tesprit humain
erkennt***), meint dagegen Jondot: l'epith^t^d'Apostat, peignant
riiomme tout entier, forme en quelque sorle^ «n un seul mot,
le sommaire de sa vie. Woher di^se Verschiedenheit der An-
sichten? Sind die Handlungen Julians einer so entgegengesetzten
Auffassung fähig, unsere-Quellen so dürftig und widersprechend?
Nichts von all dem ist in Wahrheit der Fall; nur ein wenig
historische Kritik darf man anwenden, nur ein wenig in die
damaligen Verhältnisse sich hineindenken , so wird man über die
Glaubwürdigkeit der Quellen und über Julians Handlungen keinen
Augenblick im Zweifel sein. Nur Parteileidenschafl ist es was
diesen Theil der Geschichte so sehr getrübt, was die Auffassungs-
weise Julians zu einer Art von Glaubensbekenntniss gemacht bat.
Doch vertheilt sich hiebei die Schuld sehr ungleich: die Partei
des Julian selbst, die heidnische, oder, wie wir sie, dem da-
maligen Sprachgebrauche gemäss fj nennen • werden, die helle-
nistische, und Alle welche in der späteren Zeit Sympathie für sie
hegten, hat — den einzigen Voltaire ausgenommen — niemals
*) Aus A. W. Schmidt's Zeitschr. f. Geschichtswiss. V. 1846, S.
405 — 418, mit starken Kürzungen und unter Weglassung der Erörterung
über die Beurteiler aus der neueren Zeit (S. 418 — 439).
**) Zosim. V, 2; vgl. Eunap. Max. p. 51. 56. Boissonade.
***) In demselben Geiste ist die Defense du paganisme par Pem-
pereur Julien par M. le Marquis d'Argens, Gbambellan de S. M. le Roi
de Prusse. Berlin 1764. 1767. 1769. 2 Bde. gebalten.
t] Die Bezeichnung ^ Heiden'* ist scbon deswegen nicht passend
weil sie Hellenisten und Polytheisten zusammenwirft, welche man da-
mals wohl unterschied, vgl. Procop. Anecd. 11.
Julian und seine Beurteiler. 169
sich mif solcher Einseitigkeit und Leidenschaftlichkeit ausgesprochen
wie diess von der entgegenstehenden geschehen ist. Die helle-
nistischen Schriftsteller welche über Julian sich geäussert, haben
sämmüich unter christlichen Fürsten geschrieben: schon dieser
Umstand musste ihrem Parteieifer Zügel anlegen, wenn es ihnen
auch möglich gewesen wäre sich dem Einflüsse der sie umgeben-
den geistigen Atmosphäre zu entziehen. Wir finden daher gleich
bei dem wichtigsten Historiographen des Julianu^, bei Ammianus
Marcellinus, eine grosse Unparteilichkeit. Er vertheilt Licht
und Schatten, Lob und Tadel mit Gerechtigkeit; js^wenn seine
Darstellung jeden nicht allzu Befangenen nothwendig gemnnen,
wenn sie den Eindruck hinterlassen muss dass Julian ein durch-
aus ehrenhafter und bedeutender Mensch war, so geschieht diess
fast gegen den Willen des Schriftstellers, der niemals mit solcher
Entschiedenheit rühmt und bewundert wie er einige Male, und
zwar nicht einmal immer mit unzweifelhaftem Rechte, rügt und
anklagt*). Diess entspricht genau seiner religiösen Stellung: auch
hierin ist er ein Mittelding zwischen Christ und Hellenist, doch
so dass sich die Wage etwas mehr auf die zweite Seite neigt. ^*)
Denn sein Aberglauben, seine Wundersucht ist Nichts was der
einen oder der andern religiösen Partei ausschlieslich eigen-
thumlich wäre, sondern es ist ein gemeinsamer Zug der ganzen
damaligen Zeit. Eutropius sodann, gleichfalls ein Zeitgenosse
des Julianus und, wie Ammian, ein Gefahrte desselben bei seinem
parthischen Feldzug, wägt in seiner freilich sehr kurzen Ueber-
sicht über die römische Geschichte mit derselben Unparteilichkeit
Anerkennung und Missbilligung ab und desavouiert, wie Ammian,
mit besonderem Nachdruck das was Julian den Christen gegen-
über gethan hat, aber ohne darum die Wahrheit zu verletzen.
Eunapius und Zosimus sprechen unverhohlen ihre aufrichtige
Bewunderung für den edlen Kaiser aus, aber Animosität gegen
das Christenthum , Verdrehung der wahren Thatsachen zu Gunsten
Julians und Erdichtung unwahrer wird man ihnen nicht nach-
weisen können. Dies kann man 90gar dem entscTiiedensten Partei-
gänger Julians, dem Rhetor Libanius, nicht vorwerfen. Zwar
ist von den acht Schriften desselben welche sich auf Julian be-
♦) Amm. XXII, 9, 12. XXV, 4, 20 f. vgl. mit Liban. I.,p. 511.
Zos. III, 11, 10.
'**) Qenaueres s. in meiner Römischen LiteratQrgeschicbte 402, 6.
170 Kaiser Julianus.
ziehen nur eine einzige unter einem christlichen Kaiser verfasst,
diejenige worin er alles Unglück was das römische Reich seit-
dem betroffen davon ableitet dass man den Mord des Julianus
durch Christenhand zu rächen • unterlassen habe ; die übrigen
alle sind entweder unter Julians Regierung verfasst und an diesen
selbst gerichtet oder unmittelbar nach dessen Tode geschrieben,
wo zwar Julians Leib begraben war, aber sein Geist, sein Ge-
dächtniss noch fortwirkte und seine Feinde scheu und schüchtern
machte und seinen Freunden Hut einflösste. Nichtsdestoweniger
ist seine Parteilichkeit noch recht erträglich. Zwar darf man nie
vergessen dass ein Rhetor spricht, nicht ein Historiker, und
vollends von den an Julian selbst gerichteten Reden wird Nie-
mand es anders erwarten als dass der Redner sich ganz auf des
Angeredeten Standpunkt stellt, der ja ohnehin auch der seinige
war, und dass er Thatsachen von zweifelhafter Beurteilung über-
geht, bemäntelt oder nur von Einer Seite bespricht; auch wird
man es nicht auffallend finden dass er weitverbreiteten Gerüchten,
welche auf die Christen ein nachtheiliges Licht werfen, Glauben
schenkt und darauf eine Reihe von Schlnssfolgernngen baut. Aber
wo zeigt sich in seinen Schriften diese systematische Herabsetzung,
Verdächtigung und Verleumdung der Christen me sie die Chor-
führer unter diesen alsbald gegen die Hellenisten angewendet
haben? Wo treibt ihn die Liebe für seinen Heiden und Freund
und für ihre gemeinsame Sache zu Aeusserungen eines unedlen
Hasses? Natürlich, er kann Julians Feinde, die auch die seinigen
sind, nicht lieben, er hasst sie sogar, aber die Schranken der
Menschlichkeit überschreitet er niemals. Mehr durch seine Liebe
als durch seinen Hass zeigt er die Partei an für welche er sich
entschieden: und seine Liebe ist nicht die tobsüchtige, um sich
schlagende, welche Jedem die Faust ins Gesicht setzt der nicht
ihren Gegenstand für einen Ausbund aller Vortrefiflichkeit hält,
sondern es ist die stille, tiefe, auf gegenseitiger Achtung und lieber-
einstimmung beruhende, die keinen Wechsel kennt, die sich als
unerlöschlicbes w'armes Interesse durch das ganze Leben hinzieht.
Diess beweist nicht nur Libanius' schon erwähnte Rede an Theo-
ddsius in Beireff der Ermordung Julians , sondern besonders auch
seine C^däcbtnissrede auf den Letztern. Auch diese ist eine Rede,
aber das verräth sich fast nur in der etwas peinlichen Vermeidung
der Nennung von Eigennamen, welche mit dieser Stilgattung
nicht vereinbar schien; von dem Gespreizten^ Uebertriebenen,
Julian und seine Beurteiler. 171
Gesuchten, was sonst die Reden aus dieser Zeit (Charakterisiert,
ist in dieser möglichst wenig zu entdecken. Und dann hält sich
hier der Redner sehr nahe an die Wahrheit, er tadelt zwar
Nichts » aber er übertreibt auch nicht das Wahre , lobt und recht-
fertigt nicht; -als wo er es mit voller Ueberzeugung thun kann,
wie bei Julians Verbrennung seiner Flotte*), und begnügt sich
bei Mässregeln wie die Hinrichtung des Ursiilus**) sie in das
mildere Licht zu rücken; über die ganze Darstellung ist eine
Wärme verbreitet, welche den wohlthuendsten Eindruck hervor-
bringt.
Blicken wir nun aber auf die entgegengesetzte Seite, betrach-
ten wir die christlichen Schriftsteller und ihre Darstellung und
Beurteilung Julians, so finden wir hier den Charakter der Partei*
lichkeit in starkem Masse ausgeprägt. Die altchristlichen Histo-
riker sind überhaupt keine eigentlichen Historiker, ihr Interesse
ist überwiegend ein praktisches, apologetisches. Offen spricht
diess z. B. Evagrius aus, indem er in der Vorrede zu seiner
Kirchengeschichte an der des Eusebius als Hauptvorzug diess
rühmt dass sie so schön darauf angelegt sei Andersdenkende für
das Christenthum zu gewinnen'^**). Aber nicht blos überhaupt für
dae Christenthum suchten die Historiker durch ihre Darstellung
zu werben, sondern jede christliche Partei noch insbesondere
für sich selbst. Der athanasianisch gesinnte Historiker suchte zu
beweisen dass seine Ansicht von jeher die der Kirche gewesen
sei, dass das Leben der Führer wie die Schicksale der ganzen
Partei unwidersprechlich die Wahrheit ihrer Lehre bezeuge und
die entgegengesetzte Ansicht nur von schlechten, Gott und den
Menschen verhassten Personen vertreten sei; der Arianer aber
bewies ganz dasselbe auf demselben Wege von seiner Partei.
Die siegreichen Athanasianer haben die Gegenpartei nicht zum
Worte kommen lassen; nur die Darstellungen von Athanasianern
sind auf uns gekommen, und von der entgegengesetzten Partei
besitzen wir nur einen Auszug des Werkes von Philostorgius,
gemacht durch den Athanasianer Photius, der die einzelnen Mit-
theiluhgen regelmässig mit den Worten einleitet: der gottlose
Philostorgius sagt. Natürlich hat sich Photius' P'eder gesträubt
*) Reden I, 610 Keiske.
*•) Ebend. I, 573.
) Vgl. Schlosser, Universalhist. Uebets. III, 3. S. 130 f.
172 Kaiser Julianus.
die treffendsten, gegründetsten und daher schmerzhaftesten Be-
merkungen des Arianers abzuschreiben ; so ungenügend aber sein
Auszug ist, so enthalt er doch noch immer des Interessanten
genug. Für unsern Zweck heben wir nur diess Eine hervor dass
die Ermordung des arianischen Bischofs von Alexandria, Georgius,
welche die athanasianischen Schriftsteller halb und halb dem
Julian ins Gewissen schieben, Philostorgius (VII, 2) geradezu
dem Athanasius Schuld gibt, welcher den Bischofssitz selbst
wieder einzunehmen gewünscht habe. So gewiss diess eine Un-
wahrheit ist, so kann uns doch dieses Beispiel die Art der da-
maligen Geschichtschreibung veranschaulichen und uns darauf
vorbereiten was wir über einen gemeinsamen Feind, wie Julian,
von dieser Seite für Schilderungen zu erwarten haben , wenn die
Christen unter einander auf diese Weise sich behandeln.
Aber die höchste Erwartung die man in dieser Beziehung
hegen kann wird noch übertroflbn durch Gregor vonNazianz,
den Ersten unter den Christen welcher sich über Julian hat ver-
nehmen lassen. Zwei Reden hat er nach dessen Tode* auf ihn
gehalten, welche er Schandsäulenreden betitelt hat; Julian wollte
er damit an den Pranger stellen, für ewig ihn brandmarken,
und auf lange hinein ist es ihm auch wirklich gelungen , aber auf
ewig nicht, ewig ist nur die Wahrheit, und überlebt und über-
windet alle Parteien. Ein bewährter Forscher, Schlosser, sagt
(in seinem Archiv I, S. 267.^): „dass Gregor nach Julian's Tode
Schimpf- und Schandreden auf ihn halt, über seinen Tod laut
jubelt, dass er ihm körperliche Gebrechen vorwirft, alle seine
Fehler übertreibt und alle seine Tugenden zu Lastern macht,
dass er ganz keck offenbar lugt und verleumdet, wird man ge-
wiss von dem Gründer eines frommen Unterrichtssystems, das
*) Damit vergleiche man desselben Urteil in seiner Universal-
bist. Uebers. III, 2. S. 337 f., wo er Gregor so cbarakterisiert: „Ein
Mann den man Kircbenvater nennt, weil er reich ist an salbungsvollen
Redensarten, an blindem Glauben und süsslicber Sopbistik." Und 3,
S. 142: „Die beiden Reden gegen Julian, welche G. nach des Kaisers
Tode ausarbeitete, beweisen die traurige Wirkung des religiösen Fana-
tismus besser als irgend ein anderes Actenstück jener Zeit G. erlaubt
sich nicht nur die gröbsten und unschicklichsten Schmähungen, er froh-
lockt nicht allein über Julian^s Tod, er macht nicht allein alle seine
Tugenden zu Lastern, 'sondern er geht hämisch seine ganze Lebens-
geschichte durch, um zur Erbauung der Gläubigen zu beweisen dass
ein Ungläubiger nothwendig auch ein Nichtswürdiger sein müsse.'*
Julian und seine Beurteiler. 173
die von Julian beschützten und empfohlenen Wissenschaften ver-
drängen oder ersetzen sollte, nicht ahnen. Dennoch ist es leider
nur zu v^ahr» und sein Freund und Genosse Basilius sucht ihn
durch seine Predigten kräftig zu unterstützen oder wenigstens
Gregorys SchUnpfreden zu verbreiten und anzupreisen, empfiehlt
sie den christlichen Studierenden und kann nicht Worte genug
finden ihren ästhetischen Werth zu preisen. Er selbst hat auf
ähnliche Weise gegen Julian geredet, und Baronius, so wie die
Benedictiner, die Gregors Werke herausgegeben haben, rühmen
es als das grösste Verdienst des heiligen Mannes dass durch diese
nach Julian's Tode (als dieser selbst sich nicht mehr vertheidigen
konnte und Freunde ihn nicht mehr vertheidigen durflei)) gehal-
tenen Reden seinem Andenken ein ewiges Brandmal aufgedrückt
sei." Wer diese Reden aus eigener Anschauung kennt, der weiss
dass dieses Urtheil keine Uebertreibung ist. Nicht nur ist es
stehend dass Julian ein Unsinniger und Gottloser, ein Meuchler
und Apostat genannt wird^), sondern Gregor stellt auch alle Hand-
lungen desselben, selbst solche welche mit der Religion entfernt
nichts zu thun haben, wie seinen Parlherzug^'''), auf die giftigste
Weise dar und bürdet ihm die grössten Verbrechen auf. So soll
Julian den Constantius haben vergiften lassen*"**), und dass er
Alles was unter seiner Regierung die lange gedrückten Hellenisten
gegen die Christen verübten angestiftet hatf) versteht sich von
selbst. Gregor ist Sophist, und des Sophisten Geschäft ist ff)
die Geschichte nach Bedürfniss zu drehen, die Thatsachen zii
übertreiben, öder auch zu verkleinern, wie es der Zweck ver-
langt; zugleich ist Gregor herrschsüchtiger Priester, der es dem
Kaiser nimmermehr verzeihen kann dass er dem Klerus seine
Vorrechte genommen; man wird es daher erklärlich finden, aber
verzeihlich durchaus nicht, dass er die Geschichte Julian's in
solcher Weise behandelt hat dass man sich auf keine einzige seiner
Angaben mit Sicherheit verlassen kann. Aber wie soll man es
erklären , geschweige denn entschuldigen , wenn dieser christliche
•) Vgl; z. B. 94 C.
•*) p. 116 f.
***) p. 68 B. Dazu bemerkt Schlosser, Univers. - Uebers. III, 2. S.
338: „solche Yerleamdang, ein so feines und so sanftes Verklagen ist.
ärger als Mord!**
t) z. B. p. 88 A.
tt) Vgl. Sokrates K. G. III, 23. p. 161 C. •
174 Kaiser Julianas.
Bischof, der seine Rede Gott als Dankopfer darbringen will,
heiliger und reiner als das Opfer eines unvernünftigen Geschöpfes*),
mit sichtbarem Behagen die grässlichen Grausamkeiten welche
▼om hellenistischen. Pöbel zu Arethusa an dem Christen Markus
verübt worden seien auf seine Weise beschreibt, und dann hinzu-
setzt: dieser Markus sei einer von denen gewesen welche dem
Julian in seiner Kindheit das Leben gerettet (eine Angabe welche
jedoch sehr unzuverlässig ist), — „woför allein wohl er diess
mit Recht erlitten hat und noch Aergeres verdient hätte, indem
er unwissentlich ein so grosses Uebel für die ganze Welt ge-
rettet hat."**) Man beurteile hienach was dieser Mann, wenn
er Julian's Macht und Richtung gehabt hätte, gegen die Christen
gelhan haben würde *^), und bedenke was dagegen Julian gelhan
hat, welcher so fest wie Gregor überzeugt war die wahre Reli-
gion zu besitzen. Nicht viel ansprechender ist es wenn Gregor den
Todten einen Einfältigen nennt, der von hohen Dingen nichts
verstehet)» einen Verfolger wie Herodes, einen Verräther wie
Judas (nur mit dem Unterschiede dass er sich nicht wie dieser
aus Reue erhenkt habe), einen Christusmörder wie Pilatus, einen
Gottesfeind wie die Judenff); oder in sein Grab hinein ruft: „was
ist dir eingefallen, du AUerunersättlichsler und Allerleichtfertig"
ster, dass du die Christen der Wissenschaft berauben wolltest?"!
Nichts Gutes erkennt Gregor an dem Kaiser an; alles was so
aussah war blose Verstellung, und er leugnet selbst da wo die
Wahrheit aller Welt bekannt war. So sind alle Geschichtschrei-
ber Julian'» von Bewunderung erfüllt von Julian's Keuschheit:
Ammian sagt^ nach dem Tode seiner Frau habe nicht einmal
sein Kammerdiener in dieser Beziehung das Geringste zu munkeln
gewusst; Libanius rühmt, er sei kälter gewesen als Hippolyt, und
Mamertin, dass sein Lager reiner war als das einer Vestalin.
Gregor aber behauptet (p. 121 C), Julian habe mit Dirnen gezecht!
•> p. 50 C,
**) vtcIq ov toi%a fiovov Si%aimg tavtcc inaaxs xal nXeim nQog^
naO'itv «|toff ijy, OTt xaxoy roffovto z^ oitiQviiivjj ndajj ci^mv ilup-
»avs, p. 90 D.
***) Doch ist anzaerkennen dass Gregor nach Jalian's Tode, als die
Christen wieder Sieger waren , vor Gewaltthätigkeiten gegen die Helle-
nisten warnte.
f ) p. 76 A. Gerade dasselbe hatte übrigens vorher Julian von den
Christen gesagt. Ep. 62 p. 102 Heyler.
tt) p. 76 CD. •
Julian und seine Beurteiler. 175
Und in dieser Weise ist seine ganze Darstellung gehalten. Je tiefer
aber der Schatten ist der auf Julian fallt, in desto hellerem
Lichte strahlt das Bild seines Vorgängers, des Gonstantius. Denn
er war ein gar gottesfurchtiger Herr: er hat den Gregor zum
Bischof gemacht^). Dafür wird aber auch von ihm gesagt dass
er alle Regenten vor ihm an Einsicht und Klugheit fibertroffen*'''),
und nur weil Julian gefühlt habe dass er im Guten seinen Vor-
gänger nicht überbieten könnte habe er sich entschlossen im
Schlechten, in der Gottlosigkeit, mit ihm zu wetteifern'*''^'''). Zwar
habe Gonstantius die Orthodoxen ein klein wenig verfolgt, aber
es sei nur geschehen um sie zur Eintracht zu ermahnen""*"''*); nur
einen einzigen unklugen und unfrommen Schritt habe Gonstantius
gethan, den nämlich dass er Julian seinen Nachfolger werden
liessf). Ueberhaupt wurde es bei den Kirchenschriftstellern Sitte
Gonstantius auf alle Weise zu rühmen, was er einzig dem Um-
stände zu danken hat dass Julian sein Nachfolger war; denn wäre
der Athanasianer Jovian unmittelbar auf ihn gefolgt, so hätte
es nicht gefehlt dass Gonstantius der Arianer, welcher Athanasius
und andere Bischöfe seines Glaubens verbannt bat, als ein grau-
samer Tyrann» ein ungläubiger Verfolger des göttlichen Wortes,
als ein Ghristusfeind u. s. f. von den orthodoxen Schriftstellern
verschrieen worden wäre; auch über seine sonstigen Grausam-
keiten, z. B. die Ermordung aller seiner Verwandten, hätte man
dann nicht so die Augen zugedrückt wie es jetzt geschehen ist.
Tbeodoret z. B. f&Utft) über ihn das milde Urteil: wenn er
auch, verblendet von seinen Lenkern, den Ausdruck Homousiosfff)
nicht angenommen habe, so habe er doch dem Sinne nach den-
selben aufrichtig bekannt. Derselbe Kirchengeschichtschreiber
schliesstsein drittes Buch mit den Worten: „ich will mit dem Jubel
über den Tod des Tyrannen (Julian) mein Buch beschliessen; denn
ich halte es nicht für erlaubt die goltesfürchtige Regierung (des
Jovian) an die gottlose Despotie (des Julian) anzuknüpfen." Es
*) p. 66 C.
•♦) p. 66 A.
»•♦) p. 66 A.
•*«) p. 64 C.
t) p. 63.
tt) K. G. III, 3. p. 126 D.
ttt) Von Christas gebraucht: gleichen Wesens mit Gott, das Schibo-
leih der Athanasianer, dagegen das der Arianer: er sei homoionsios,
d. h. ähnlichen Wesens.
176 Kaiser Julianns.
genüge diess zu seiner Charakteristik, um so mehr als seine
Arbeit, wenigstens in diesem Theile, wenig Eigenthümliches bat.
Wie jener benutzt auch Sozoraenus sehr stark seine Vorgänger
Gregor und den sogleich zu erwähnenden Sokrates; mdessen theilt
er auch manche wichtige Urkunden mit, namentlich ßriefe Julian*s,
von denen wir ohne ihn Nichts wussten. Was er bei seinen
Glaubensgenossen und Vorgängern findet ist für ihn Geschichte,
und so wird was Gregor als Declamator erfunden und übertrieben
durch den Hund der Historiker als Wahrheit auf die Nachwelt
gebracht. Was die geistige Befähigung des Schriftstellers betrifft,
so ist er, wie seine ganze Zeit, im höchsten Grade abergläubisch:
Wunder und Prodigien werden in Menge und in der abenteuer-
lichsten Gestall erzählt und mit Sorgfalt ausgedeutet. So berichtet
er z. B.*) nach Gregor's Vorgang, Julian habe einst in den Ein-
geweiden eines Opferthieres ein Kreuz erblickt; ein andermal "**) ,
das vom Blutfluss geheilte Weib habe aus Dankbarkeit Christo
eine Statue gesetzt (von der man übrigens, wie Philostorgius
VII, 3 erzählt, nicht mehr gewiss- wusste ob sie Christus vor-
stelle), an deren Fuss ein Kraut gewachsen sei das alle Krank-
keiten geheilt habe; wie Julian an die Stelle dieses Bildes sein
eigenes habe setzen lassen, sei dieses alsbald vom BUtze getroffen
worden. Auch weiss er von einem Baume der sich vor Christus
auf seiner Flucht nach Aegypten geneigt habe und dafür mit der
Kraft beschenkt worden sei dass jeder Zweig, jedes Blatt oder
Stück Rinde von demselben, einem Kranken aufgelegt, ihn gesund
mache. Besonders viele Wunder aber veranlasste, nach den Kir-
chengeschichtschreibern , Julian's Versuch den Temper zu Jeru-
salem wieder aufzubauen. Die Erde bebte damals, am Himmel
stand ein leuchtendes Kreuz gezeichnet und dieselbe Figur auf
einmal wunderbarer Weise auf den Kleidern aller Anwesenden,
und anderes Derartige, was bei Gregor p. 112 f. Sozom. V, 22,
Theodorel p. 143 A und Philostorgius VII, 9 zu finden ist.
Uebrigens wirft auf das Misslingen jenes Wiederaufbaues einiges
Licht der von Gregor verschwiegene, von dem redlichen Sokra-
tes***) aber bemerkte Umstand dass das Fehlschlagen des Ver-
suchs von dem damaligen Bischof von Jerusalem, Cyrill, voraus-
gesagt worden war. Diesen allgemeinen Wunderglauben also theilt
•) K. G. V, 2. p. 482 A. vgl. 1, p. 480 D.
•♦) V, 21.
•*♦) III, 20.
Julian und seine Beurteiler. 177
Sozomenus in extremer Weise , und ein grosser Theil seiner Ge-
schichte besteht aus solchen Märchen. Von seinem Fanatismus
aber gibt eine Probe sein Urteil über das Gerücht dass Julian
von einem Christen gemordet worden sei. Er sagt nämlich^):
,, vielleicht ist diess auch wahr; denn es ist gar nicht unmöglich
dass einem Soldaten einfiel dass von den Hellenen und Jedermann
bis auf den heutigen Ttfg die Tyrannenmördei* gepriesen werden,
als Solche die sich für die allgemeine Freiheit geopfert haben.
Kaum wenigstens dürfte man einen tadeln der für Gott und seine
Religion eine mannhafte That verübt." Selbst Tillemont flndet
diese Aeusserung auffallend, und Bleterie gibt zu bedenken dass
Sozomenus kein eigentlicher Kirchenvater, also keine Autorität
sei, meint auch, derselbe müsse mehr das heidnische Alterthum
studiert haben als die Moral des Evangeliums und den wahrhaft
christlichen Geist.
■
Der seiner Gesinnung nach achtungswürdigste unter den
alten Kirchengeschichtschreibern ist Sokrates; er hat wenigstens
den guten Willen die Wahrheit zu sagen, wenn er sich auch
nicht ganz von der unter den Christen traditionellen Ansicht
über Julian loszumachen weiss. So sagt er am Anfange seines
dritten Buchs: „Da ich jetzt von dem berühmten**) Kaiser
Julianus in Kürze zu reden habe, muss ich diejenigen welche
denselben näher kennen bitten keinen glänzenden Schmuck der
Rede von mir zu erwarten, dergleichen nöthig wäre um hinter
einem solchen Gegenstande nicht zurückzubleiben.'' Am besten
lernt man seinen Werth kennen wenn man ihn mit Gregor ver-
gleicht; z. B. von Julian's Entlassung des sehr kostspieligen und
drückenden ungeheuren Hofstaates behauptet Gregor (p. 75 A) der
Grund sei gewesen weil der Hof an Constantius und Christus an-
hänglich gewesen sei, und einen Theil des Personals habe Julian
hinrichten lassen; Sokrates aber weiss nur von einer Entlassung
und tadelt***) die Massregel nicht mit Unrecht als unpolitisch,
weil nach den Begriffen des Orients der Herrscher mit einem
gewissen Glanz auftreten müsse. Je werlhvoller daher Sokrates
in dem ist was er gibt, um so mehr ist zu bedauern dass er
fast nur die das Christenthum berührende Seite von Julian*s Leben
und Thätigkeit genauer behandelt.
♦) VI, 2. p. 617 D.
♦•) iXXoyifiov avÖQOs,
**♦) m, 1. p. 139 A.
Teaffel, Studien. 12
178 Kaiser Julianas.
4. Jnlian's Charakter und Stellung znm GhriBtenthnm*).
Julian musste froh alle seine nächsten Angehörigen bluten
sehen; nur er und sein Halbbruder entgiengen dem drohenden
Untergange. Als er dem Jünglingsalter sich näherte wurde er
vom Kaiser Constantius, seinem Oheim/ zusammen mit seinem
Bruder in ein festes Schloss gesperrt, wo es ihnen an Nichts
fehlte als an dem was in den Jahren der geistigen Entwicklung
das Unentbehrlichste ist, an Umgang. In der Abgeschlossenheit
dieser sechsjährigen Gefangenschaft wurde wohl der Grund gelegt
zu Julian's späterer Herbheit und Schroffheit, zu seinem Eigen-
sinn; die Gewöhnung an Alleinsein und Alleindenken mag sein
Selbstvertrauen erzeugt, die Nothwendigkeit des Zurückhaltens
mit seinen geheimsten Gedanken und Empßndungen mag seine
nachherige Verschlossenheit in allen wichtigen Dingen neben
rückhaltsloser Mittheilungslust und sprudelnder Lebendigkeit ent-
wickelt haben. Aus seiner Haft entlassen lernte der zwanzig-
jährige Jüngling die bisher ihm vorenthaltene Zeitphilosophie,
die neuplatonische, kennen. Bisher war die christliche Dogmatik
seine einzige Philosophie gewesen: die Lehre von der Person
Christi, von dem Verhältniss der beiden Naturen in ihm, die
Frage ob er mit Gott gleichen oder ähnlichen Wesens sei, ob
der heilige Geist aus dem Wesen Gottes selbst hervorgehe, diess
und Aehnliches, welchem er ein tieferes Interesse abzugewinnen
nicht vermochte, hatte man seinem jugendlichen Gemüt als Nahrung
gereicht und jeder etwaigen Frage eines frischen denkenden
Geistes durch Hinweisung auf den Glauben ßuhe geboten. Nun
aber hörte er Gegenstände erörtern die ihn ins eigne Innere führten,
zum Nachdenken über sich und seine Bestimmung, über seine
Stellung zum Weltgenzen veranlassten, die Fragen nach der
Natur der Seele, ihrem Ursprung und ihrem Ende, nach dem
Begriffe der Freiheit, nach dem Wesen der Gottheit, und er
hörte sie erörtern mit Glanz, Beredtsamkeit und Begeisterung.
Basch warf er jetzt über Bord was ihm als werthloser Kram
erschien**), alle die theologischen Stichwörter die er auswendig
*) Aus den Monatsblättern zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung,
November 1847, S. 537— ,542.
**) Libanius Reden I, p. 528 Reiske.
Julian's Charakter. 179
kannte ohne einen geistigen Gewion davon zu haben*), und
gab sich mit vollen Segeln den Strömungen der Philosophie hin.
Aber er musste seine Gesinnungen verbergen/ um. nicht das
Loos seiner ganzen Familie zu tbeilen, und erst als er, nach
vielen Leiden und Quälereien die er von dem argv\röhnischen
Kaiser zu erdulden hatte, und nach einer Reihe glänzender Kriegs-
thaten in Frankreich und Deutschland, durch den Tod des Con^
stantius in den unbestrittenen Besitz der Kaiserwürde gelangt
war, durfte er die lästige Maske abwerfen. Nur zwanzig Monate
dauerte seine Regierung, aber er hat in dieser kurzen Zeit mehr
gewirkt als viele Andere in Jahrzehnten. Er fiel im J. 363 in
dem Feld2uge welchen er gegen die Perser unternommen hatte
um alte Beschimpfungen des romischen Namens zu rächen. Schon
hatte er das Ziel vor Augen, schon streckte er die Hand aus
nach dem goldenen Siegerkranze ^), da trat das Schicksal da-
zwischen und schleuderte ihn zu Boden und hemmte die un-
ruhigen Schläge dieses Heldenherzens. Er starb als Jungling»
wie Alexander, aber ruhmvoller denn dieser; er fiel im tapfern
Kampfe durch die Hand eines Feindes. Es ist ihm ein Tod zu
Theil geworden wie er ihn selbst sich erbeten hat***), sanft und
schmerzlos und süss durch die frohe Hoffnung zu den Göttern zu
gehen. Aber für die Welt, die seiner Energie bedurfte, ist er viel
zu früh gestorben^ und ein Freund stimmt daher die Klage an:
„Kaum hatte die lechzende Welt diesen Labetrank zum Munde
gebracht, kaum einen Zug daraus geschlurft und sich gefreut
seiner erquickenden Frische, als eine feindliche Gewalt ihn ihr
aus der Hand riss, dass es schien als hätte sie ihn bekommen
nur um die Grösse ihres Verlustes ermessen zu lernen ("f)
Was an Julian unsere Aufmerksamkeit am meisten auf sich
zieht ist natürlich seine Stellung zum Christenthum. Man hat
in dieser Hinsicht seinen Charakter in Anspruch genommen, man
hat ihn einen Abtrünnigen gescholten und als Triebfeder seiner
ganzen Handlungsweise die Eitelkeit bezeichnet: wir glauben mit
Unrecht. „Der Abtrünnige" ist ein Parteiname welchen fort-
zupflanzen nicht Sache der Geschichte ist, und den der Kaiser
in der That auch nicht verdient. Denn er war Christ nur so-
*) Eunap. Max. I, p. 47 Boissonade.
♦•) Liban. I, p. 613. II, 61. Zosim. III, 29, 1.
••♦) Caiesares p. 336 C. Oratt. IV. p. 168 B. V. p. 180 B. C.
t) Liban. I, p. 618 f.
12*
180 Kaiser Julianus.
lange er musste und nichts Anderes kannte; sobald er zu einiger
Selbständigkeit gelangt war entschied er sich für die Religion
der Vorväter. Er war nie Christ mit Bewusstsein und Freiheit,
die erste That seines Bewusstseins und seiner Freiheit war die
Entscheidung für den Hellenismus. Einer Sache der man nie
wirklich angehangen hat kann man auch nicht untreu werden. —
Aber er hdt nur aus Eitelkeit so gehandelt, er stand für sich
immer vor dem Spiegel, nach aussen immer auf der Bühne?
Ein schlimmer Fehler das, wenn es wahr ist, zumal an einem
Fürsten. Wenn ein Niedriggeborner seiner Person und seinen
Gedanken einen übertriebenen Werlh beimisst, so kommt die
Welt dadurch nicht aus dem Geleise; nur etwa in engem Kreise
werden seine Einfälle besprochen, über seine nächste Umgebung
hinaus schlägt er keine Wellen. Aber, in wessen Hand die Macht
ist, wer über die Arme von Tausenden gebieten kann, der ladet.
0
eine schwere Verantwortung auf sich wenn er seine Macht ge-
braucht im Dienste seiner Grillen. Zwar von nachhaltiger Wir-
kung ist es nicht, wie Julian's Beispiel zeigt. \Mag er sich dem
Strome des Rechts und der Wahrheit entgegenstemmen , es drückt
nur die Mitlebenden ; die Wogen der Geschichte gehen über sein
Haupt hinweg, und sein Andenken wird verwünscht von denen
die er unterdrückte und die trotz ihm siegten. In dieser Hin-
sicht ist Julian allerdings von Eitelkeit nicht freizusprechen: er
wollte seinen eignen Entwicklungsgang der Welt aufdrängen, er
wollte das Rad der Geschichte zurückdrehen auf einen Punkt
den es nun einmal verlassen hatte, er wollte mit seinem einzigen
Geiste und Willen Millionen bestimmen; aber er Ael, und an seiner
Leiche vorbei setzte die Geschichte ihren Weg fort, ruhig als
wäre nichts geschehen. Eine Ueberschätzung des eignen Urteils
und der eignen Kräfte lag hiebei freilich zu Grunde, aber eine
verzeihliche, denn sie gieng hervor aus begeisterter Ueberzeugung
von der Wahrheit seiner Sache. Wohl war Julian auch sonst
eitel: er lechzte nach -Lob wie ein ausgetrocknetes Feld nach
Regen ^); vielleicht verlangte ihn danach um unwillkürlich sich
regende Zweifel über sein Thun zu beschwichtigen , um sich ein-
zureden er handle wirklich in Uebereinstimmung mit dem Bedürf-
nisse der Zeit; vielleicht war er eitel weil er alles was er war
*) Liban. 1, p. 522. Eutrop. X, 8. Aur. Vict. Epit. 43, 7. Ammian.
Marc. XXV, 4,1 8.
Julian's Charakter. 181
durch sich selbst war, weil er es durch harten schmerzlichen
Kampf dem Schicksale hatte abringen müssen. Auch war die
Eitelkeit der gemeinsame Fehler dieser Zeit, wie er allen Perioden
geistiger Unfähigkeit eigenthümlich ist, z. B. der grosseren Hälfte
des vorigen Jahrhunderts, den Zeiten wo man den Massstab für
die Grösse verloren hat. Unter den Liliputern dünkt sich gross
wer um eines Nagels Breite über die Andern hervorragt. So
war Julian's Zeitalter arm an Originalität und echter Grösse ; wer
sich am reichsten jbelud mit den Fetzen der Vergangenheit und
sie mit der meisten Gewandtheit zu handhaben wusste, der galt
für gross und glaubte selbst es zu sein. Alle bedeutenderen
Männer dieser Zeit, Julian, Libanius, Athanasius, Gregor, Basi-
lius, leiden an unmässiger Eitelkeit, und es kommt nur darauf
an wer verhältnissmässig am meisten Recht dazu hatte, und wer
gegen diesen Fehler die meisten Vorzüge in die Wagschale legen
konnte. Und in dieser Beziehung hat Julian die Reinheit und
Tüchtigkeit seines Charakters, die bewundernswürdige Energie
seines Willens und die Unermüdlichkeit seines Strebens aufzu-
weisen. Auch gab er daneben Proben von aufrichtiger Beschei-
denheit^) und konnte wohlgemeinten Tadel nicht nur ertragen
sondern wünschte ihn sogar '^*). Ueberhaupt hatte seine Eitel-
keit nichts gemein mit jener schwächlichen die mit Feigheit ge-
paart ist, welche im stillen Bewusstsein der Grundlosigkeit ihrer
'Selbstbewunderung bei jeder missliebigen Berührung auffährt, in
kleinlichen Zorn geräth und für die Zukunft sich gegen jede
Verletzung sicher zu stellen sucht, sondern sie hatte einen ge-
wissen Anstrich von Grossartigkeit, sie beruhte auf einer tüch-
tigen Grundlage, und wurde daher nicht von jedem Windzuge
erschüttert, sondern konnte die Untersuchung und den Zweifel
ertragen. Weil seine Eitelkeit diese gesunde, aus wirklichem
Kraftgefühl hervorgegangene war, so hatte er auch den Humor
zur Selbstverspottung, und den Mut äusseren GJanz nicht nur zu
verschmähen sondern die Begriffe von kaiserlicher Würde geraden-
wegs zu verletzen : er war etwas Tüchtiges schon ehe er die Krone
trug, und er fühlte dass er, so viel er auch preisgebe und weg-
werfe, doch immernoch genug übrig behalte um Achtung einzuflössen.
Sehen wir daher ab von den etwaigen persönlichen Be-
stimmungsgründen und betrachten das was er gegen das Christen-
*) Vgl. Or. ad themist. p. 266 D.
**) Epist. 12. Ammian. XXIT, 10, 3. XXV, 4, 16.
182 Kaiser Julianus.
tbum ihat {ör sich selbst, so dürfen wir vor Allem Dicht ver-
gessen dass Julian unumschränkter Beherrscher des römischen
Reichs war, und dass man sich längst gewöhnt halle diejenige
Religion als Staatsreligion zu betrachten welche der jedesmalige
Kaiser begünstigte oder bekannte. ' Der Begriff einer Staatsreligion
war damals ein zwar noch nicht rechllich, aber doch factisch
bestehender; Julian übte daher nur ein unbestriltenes Recht
wenn er zu den höheren Staatsstellen nur Männer seines Ver-
trauens, also Genossen seiner religiösen Ansicht, berief; und dass
im hellenistischen Staate die Bevorzugungen einzelner Stände
wegfielen, welche gegolten hatten so lange der Staat ein christ-
licher war, darüber konnte mit Grund sich niemand beklagen.
Freilich war in den wenigen Jahrz.ehnten seit das Cbristenlhum
Staalsreligion war Staat und Religion so zusammengewachsen,
das Christenthum war so weltlich und die Welt so christlich
geworden*) dass eine Aenderung der Religion zugleich eine poli-
tische Revolution war, und es zeigte sich bei dieser Gelegenheit
die ganze Verderblichkeit eines solchen Verhältnisses zwischen
Staat und Kirche. Der Staat sollte schlechthin unabhängig sein
von den religiösen Ansichten der Burger und auch des Herrschers ;
jedes andere Verhältniss untergräbt nicht nur die sittliche Rein-
heit der Kirche sondern bedroht auch die Ruhe, die Existenz
des Staates, wie sich wohl bald hätte zeigen müssen wenn Julian
länger am Leben geblieben wäre.
Aber Julian begnügte sich nicht das Christenthum vom Throne
zu Sturzen, ihm die weltliche Macht zu entreissen; auch die
geistige suchte er ihm zu entwinden« Dahin zielte sein berühm-
tes Gesetz, es solle kein Christ in Rhetorik und Grammatik unter-
richten, d. h. überhaupt ein Lehramt ausserhalb seiner Kirche
bekleiden dürfen. Julian glaubte nämlich entdeckt zu haben
dass die Christen alles was zur eigentlichen menschlichen Bildung
gehört aus dem AUerthum, besonders dem griechischen, schöpfen,
und meinte nun dadurch dass er ihnen diesen Quell verstopfte
das Christenthum in einer Gestalt hinstellen zu können in welcher
es für niemand etwas Einladendes hätte. Die Massregel war
wirklich nicht ohne Klugheit ausgesonnen, und man darf nicht
glauben sie sei blos eine halbe gewesen, weil er den Christen
zwar verbot die hellenische Wissenschaft zu lehren, nicht aber
•) Vgl. Gregor. Orat. III. p. 80 A. B.
Julian'» Stellung zum Christenthum. 183
zugleich sie zu lernen; denn es war vorauszusehen dass die
Christen einen Anhänger der alten Religion auch nicht zum Lehrer
nehmen würden. Dabei versah es aber Julian doch in wesent-
lichen Punkten. Fürs Erste bemerkt sein Widersacher Gregor
von Nazianz*) sehr richtig dass die Berechtigung auf die helle-
nische Literatur von. der Sprache, dem Hellenischreden, nicht
aber von der Religion abhängig sei. Nun meinte zwar Julian,
Form und Inhalt lassen sich nicht trennen**); aber. dem ist nicht
also. Man kann Homer lieben und verehren ohne darum au
seine Gölter zu glauben; denn diese Götter geben sich nicht als
ein Glaubensartikel. Freilich halte die damalige Philosophie auf
Homer's Gedichte den christlichen Begriff der Inspiration über-
getragen, und Julian glaubte daher wohl einen philosophischen^
d. h. allegorischen Glauben an sie fordern zu dürfen. Auch das
bemerkt Gregor ganz treffend, dass es mit den erfundenen Ge-
danken, mit den Literaturwerken sei wie mit jeder Erfindung:
nachdem sie einmal gemacht sei habe Jedermann ein Recht dar-
auf. Julian thut den alten Dichterheroen Unrecht wenn er sie
zu Parteimännern stempelt , wenn er meint sie würden sich grämen
wenn sie wüssten dass auch Christen sie benützen ; vielmehr sind
sie ja Quellen, gelegen an der Heerstrasse der Menschheit und
neidlos labend Jeden der kommt aus ihnen zu trinken, auch den der
nach dem Trünke sie beschmutzt, sie vergiftet oder sie verlästert.
Weiter tauschte sich Julian auch darin dass er meinte es
werde irgend ein Christ seiner Zeit, wenn ihm die Alternative
gestellt werde entweder seiner Religion zu entsagen oder auf alle
humane Bildung zu verzichten , auch nur einen Augenblick zögern
das Zweite zu ergreifen. Die Sache stand damals so dass die
Christen einen Stolz darein setzten der Bildung haar zu sein"^*"^);
diess galt für christliche Einfalt. Einen anschaulichen Beweis
von der Sttimmung der damaligen christlichen Wortführer der
hellenischen Literatur gegenüber gibt ein Brief von Gregor an
einen gewissen Adamantios, an den er seine Exemplare alter
Schriftsteller verkauft, wobei er ihm eine väterliche Ermahnung
mit in den Kauf gibt. Er selbst, schreibt er, habe den Quark
längst in den Winkel geworfen , wo ein grosser Theil von Motten
•^— ..^.^— — — — — ^-^ .
•) Or. in. p. Bl A.
**) Liban. I, p. 674.
***) Gregor. Or. IIL p. 51 B. 97 D. Vgl. Schlosser, Universalhist.
Uebers. III, 3. S. 143.
184 Kaiser Julianus.
und Rauch zu Grunde gegangen sei; er habe jetzt Wichtigeres
und Angenehmeres zu thun als den Pindar zu lesen : er disputiere
über den Ausgang des heil. Geistes» über die Möuchsregeln und
über die Art und Weise wie Christus Gott sei. Adamahtios thäte
viel besser wenn er ihm nachahmte, und statt dergleichen Zeug
zu lesen vielmehr die heil. Schriften auswendig lernte; da er es
aber einmal wünsche, so wolle er ihm die Bücher aus Freundschaft
überlassen ; bitte sich indessen gelegentlich das Geld dafür aus"*").
Und welche Begriffe man damals überhaupt von der Literatur
hatte geht am deutlichsten hervor aus dem Beginnen der beiden
Apollinaris. Als nämlich Julian sein Verbot ergehen liess, so
schüttelten die beiden, Vater und Sohn, eine ganze christliche
Literatur wie aus dem Aermel. Der Vater brachte die jüdische
Geschichte bis auf Saul in Hexameter, und um die Aehnlichkeit
mit Homer noch tauschender zu machen Iheilte er sein Werk
gleichfalls in 24 Bücher ein; auch christliche Komödien fertigte
er nach Menander und christliche Tragödien nach Euripides,
ebenso eine christliche Lyrik nach Pindar, und richtete es dabei
so ein dass jedes Metrum vorkam, damit kein Bestandtbeil der
hellenischen Bildung den Christen mangle; der Sohn sodann ver-
wandelte die neutestamentlichen Schriften in platonische Dialoge.
Unter den alten Kirchenhistorikern sind die Stimmen über dieses
Unternehmen getheilt. Sokrates sagt, diese Arbeiten seien so
ganz vergessen als ob sie nie gemacht worden wären, und ver-
Iheidigt das Studium der hellenischen Literatur; Sozomenos aber
meint, nur in Folge des Vorurteils für alles Alte habe man die
Schriften der beiden Männer hintangesetzt, die doch den alt-
hellenischen in Nichts nachstehen. Dass in einer Zeit wo solche
Unternehmungen entstehen konnten, wo ein Gregor von Nazianz
hierin wetteiferte mit den beiden Apollinaris^*), Julian mit seinem
Verbote nichts ausrichten konnte liegt am Tage. Aber es war
zugleich ein Zeichen von mangelndem Vertrauen zu seiner eignen
Sache, von bösem Gewissen, von innerer Schwäche. Hatte die
hellenische Literatur wirklich den Werth den er von ihr voraus-
setzte, dass man um ihretwillen seine Religion sollte verlassen
können, so durfte er sie getrost in den Händen der Christen
lassen und konnte von der Macht der Wahrheit den Sieg er-
•) Epist. 30. Vgl. Schlosser, Archiv I. S. 265 f.
*•) Schlosser, Universalhist. Uebers. III, 3. S. 143 f. Vgl. Gregor.
Or. III. p. 51 B.
Julian's Stellung zum ChriBtenthum. 185
warten. Aber er fühlte selbst dass er diese Schriften zu einem
Zwecke verwende für welchen sie nicht geeignet sind und bei
welchem sie sich daher vielfache Blossen geben, welche die Gegner
mit Schadenfreude aufdeckten. Der Widerwille Julian's hiegegen
ist leicht erklärlich: es that ihm wehe zu sehen wie die christ-
lichen Ausleger der alten Literatur bei jeder Gelegenheit die
Schattenseiten derselben hervorhoben und dagegen auf das Cbristen-
thum als das weil Bessere hinwiesen*). Aber diess durfte ihn
nicht bewegen den Versuch zu machen den Christen diese Lite.-
ratur zu entreissen,, die nun einmal allen denen gehörte für
welche sie zugänglich war. Nur das^ hätte er sich dadurch be-
stimmen lassen sollen dass er es aufgab sie als Religionsurkun-
den, als symbolische Bücher zu betrachten. Aber er fühlte mit
seiner ganzen Zeit das Bedürfniss von Stützen für den in sich
selbst haltlosen Geist, und da er sich nun einmal darauf steifte
die vom Christenthun^ gebotenen zu verschmähen, so blieb ihm
nichts übrig als sich solche innerhalb der alten Religion selbst zu -
schaffen und die althellenische Literatur mittelst der allegorischen
Auslegung, an deren guter Begründung und Berechtigung er so
wenig als seine Zeit zweifelte, in Religionsquellen zu verwandeln.
Schon hieraus geht deutlich genug hervor dass für Julian
ein sachlicher Grund den Hellenismus dem Cbristenthum gegen-
über festzuhalten nicht vorhanden war, indem er jenen, um ihn
seiner Zeit anzupassen, nach diesem umzuformen sich genöthigt
sah; aber noch unmittelbarer und auffallender erhellt diess aus
den Mitteln die er anwandte um die alte Religion zu kräftigen
und zu heben. Es waren diess erstens äussere: der Aufwand
welcher gemacht wurde Mm den hellenischen Cultus recht prun-
kend, recht bestechend und einladend für die Menge zu be-
gehen**), und die Bevorzugung der Bekenner des* Hellenismus
bei allen höheren Staatsämtern***). Bedeutsamer sind die inner-
lichen Mittel welche er anzuwenden theils beabsichtigt, theils
begonnen hat. Er gieng nämlich darauf aus das Gute am Christen-
Ihum dem Hellenismus wieder anzueignen, da es dieser von
Anfang an und zuerst besessen und nur durch Fahrlässigkeit ver-
*) Vgl. Julian bei Cyrill VII. p. 229 f.
**) Liban. I, 579. Ammian. XXII, 12, 7.
♦**) Liban. I, p. 576. Gregor. Naz. Or. IV. p. 120 C. Sokr. III, 13.
Theodoret. III, 6.
186 Kaiser Julianue.
loreo habe. Der Brief in weichem er dieses ausfuhrt*) ist
indirect zugleich die schönste Lobrede auf das Christenthum.
Was er von diesem herubernehmen will ist erstens die Sorge
•
für die Armen. Das Christenthum ist die Religion der Armen:
es treibt die Reichen zum Geben und den Armen verspricht es
für ihre Entbehrungen Schadioshaltung im Jenseits. Dadurch
Ist es eine weltbeherrschende Macht geworden: die Masse der
Armen, der Unterdrückten und das Geschlecht der zum Helfen
und Lieben Geborenen, das Geschlecht der Frauen, fiel ihm
zuerst zu, und durch ihren langsamen und stillen, aber tiefen
und unwiderstehlichen Einflüss ward dann auch die Welt der
Männer in seinen Kreis gezogen. Diese Richtung und Bedeutung
des Christenthums hat Julian aufs Klarste erkannt. Er sagt in
dem angeführten Briefe: zur Förderung des Christenthums hat
ganz besonders beigetragen die Wohlthätigkeit gegen die Fremden,
die Sorge für die Todten und die (erheuchelte, setzt er hinzu)
Gesetztheit des Lebenswandels. Noch deutlicher und zugleich
schroffer erklärt er sich in einer andern Stelle ^^): „Sobald die
ruchlosen Galiläer (wie er die Christen regelmässig nennt) be-
merkten dass die Armen von den (heidnischen) Priestern vernach-
lässigt werden, so warfen sie sich schnell auf die Wohlthätigkeit;
und wie man Kindern Kuchen schenkt um sie zum Mitgehen zu
bereden, und dann, wenn man von Wohnungen entfernt ist, sie
auf ein Schiff schleppt und als Sklaven verkauft, dass sie die
kurze Freude mit lebenslänglichem Elend zu büssen haben, so
hat das Christenthum durch das sogenannte Liebesmahl und die
Wohlthätigkeit Gläubige zur Gottlosigkeit (d. h. Heiden zum
Christenthum) verfuhrt." Um diesen Vorzug nun seiner eigenen.
Kirche zuzuwenden, verordnet er***) Herbergen zur Aufnahme
der Fremden in jeder Stadt zu errichten, und zwar nicht blos
für Hellenisten, sondern für alle Hülfsbedürftigen ohne Unter-
schied des Glaubens. Denn es wäre doch eine Schande, sagt
erf), wenn wir auch fernerhin nicht einmal unsern eigenen
Leuten hälfen, während doch von den Juden kein einziger zu
betteln braucht und die gottlosen Galiläer aussei^ den Ihrigen auch
noch die Unsrigen verpflegen. Zweitens wollte er der alten Reli-
♦) Epist. 49.
*♦) Fragm. Ep. p. 306 B. Vgl. p. 290 f.
•*•) Ep. 49. Vgl. Gregor. Or. III. p. 101 f. Sozom. V , 16.
t) Ep. 49. p. 91 Heyler.
-j^m
Julian's Stelhmg zum Christenthum. 187
gion unter die Arme greifen durch Hebung der Sittlichkeit.
Die Priester sollen darin mit gutem Beispiele vorangehen: sie
sollen nicht das Theater besuchen, weil das ganz unziemlich
sei*) — eine personliche Antipathie des Kaisers**)» zugleich
aber begründet durch den damaligen Zustand der Bühne und
dem Christenthum abgesehen — , nicht ins Wirthshaus sitzen und
keine missachtete Hanthierung treiben ***) ; auck die alten lambo-
graphen und die Stücke der alten attischen Komödie, ja sogar
Hythographen ****) sieht er wegen deren Nuditaten nicht gern in ihren
Händen, und möchte sie von der epikureischen und skeptischen
Philosophie, als einer frivolen, ferne halten f). Auf solche Weise
glaubte er von zwei Seiten zugleich zu seinem Ziele zu kommen :
das Beispiel der Priester sollte auf die sittliche Veredlung des
Volkes einwirken und den Hellenismus mittelst seiner Bekenner
achtungswürdiger machen, und andererseits sollte die sittliche
Hebung des Priesterstandes diesen selbst in der äusseren Aner-
kennung und Geltung steigen machen. Denn das war ein weite-
rer Punkt den er als Bedürfniss erkannte: ein wohlorganisierter
und geachteter- Priesterstand. Er will daher dass allein die sitt-
liche Tüchtigkeit die Aufnahme in den Priesterstand bedinge -ff),
und dass die Priester den Civil- und Militärbeamten an Rang
gleichstehen fff). Man- sieht wie gut Julian erkannte was den
Hellenismus gestürzt hatte und was ihm Noth that, aber man
wundert sich auch warum er nicht lieber beim Christenthume blieb,
wo er alle diese Einrichtungen nicht erst machen , alle diese Vor-
zuge nicht erst befehlen durfte, wo er sie vielmehr schon vor-
fand; und nur etwa von dem Schlechten was sich daran gehängt
zu reinigen halte. Aber tr war durch die Philosophie zu sehr
darauf capriciert worden den Hellenismus zu bewundern, und sein
persönlicher Widerwille gegen das Christenthum war zu gross als
üass die bessere Einsicht hätte siegen können. Er nimmt daher
seine Zuflucht zu der Bemerkung dass alle jene Vorzüge ursprüng-
lich den Hellenen eigenthümlich gewesen seien, und meint, diese
•) Ep. 49. Fragm. p. 304 B.
**) Misopog. p. 339 f.
•**) Ep. 49.
••**) Fragm. p. 301 A.
t) Fragm. p. 300 f.
tt) a. a. O. p. 305 A.
ttt) Ebendas. p. 296 C,
188 * Kaiser Julianus.
werden sich doch nicht in ihren eignen Tugenden von Fremden
übertreffen lassen*). Und allerdings haben die Tugenden der
Humanität, wenn auch nicht zuerst, so doch am schönsten ge-
blüht im hellenischen Geiste; aber mit diesem waren auch sie
erstorben und erst durch das Christenthum neu gepflanzt worden,
wenn auch nicht in der alten unreflectierten Gestalt; denn im
Christenthum war Grundsatz und Pflicht was im Hellenenthum
Sitte war. Es galt daher die Zeichen der Zeit zu verstehen und
das Lebendige nicht zu suchen bei den Todten. Ein bestimmter
Ideenkreis war fest in dem Geiste seiner Zeit gegründet: Julian
durfte nur in ihn eintreten, durfte ihn ausbilden und entwickeln
mit seinem überlegenen Geiste, so fiel ihm alles zu; er durfte nur
ergreifen was in jener Zeit das Geistiglebendige war, was die Herzen
der Völker bewegte, und es durchführen mit Kraft, Weisheit und
Beharrlichkeit, — und die ganze Welt war sein; er aber zog es vor
längst Vergrabenes und Vergessenes aus dem Schutte von Jahrhunder-
ten hervorzuziehen. Naiv ist daher seine Klage**) dass für die
alte Religion so gar wenig Begeisterung vorhanden sei , während die
Christen für die ihrige Noth und Tod freudig erdulden. Er meint die
Begeisterung lasse sich machen, er meint sie lasse sich befehlen.
Da so Julian selbst wider seinen Willen der lauteste Zeuge
für die Schwäche seiner Sache und die Nothwendigkeit äes Chri-
stenthums ist, so werden wir uns nicht wundern in seinem Han-
dein allenthalben Zeichen des Gefühles dieser Schwäche zu ge-
wahren. Ein solches haben wir bereits gefunden in dem Verbote
des höheren Unterrichts für die Christen; ein noch deutlicheres
ist' sein Verfahren gegen Athanasius, den von den Arianern ver-
triebenen Bischof von Alexandria. In Folge der Amnestie welche
Julian bei seiner Thronbesteigung allen denjenigen ertheilte welche
wegen theologischer Abweichungen unter der frühern Regierung
verbannt worden waren, war auch Athanasius nach Alexandria
zurückgekehrt und hatte den durch Georgius' Ermordung gerade
leer gewordenen Bischofssitz eingenommen. Alsbald fieng er auch
an für die Ausbreitung seines Glaubens thätig zu sein: einige
vornehme hellenische Frauen brachte er dazu dass sie sich taufen
Hessen. Als diess Julian erfuhr erklärte er es für einen Miss-
brauch: er habe den Bischöfen nur die Rückkehr in ihre Ge-
meinden gestattet, nicht aber sie wieder in ihre Posten einsetzen
•) Epist. 49.
*♦) Epist. 63.
Julian^s Stellung zum Cbristentbum. 189
wollen. Aber auch jener Vergünstigung habe sich Athanasius
unwürdig gemacht und habe daher nach Sicht die Stadt zu 'ver-
lassen; und wie diess nach einiger Zeit noch nicht geschehen
ist, so wiederholt er seinen Befehl noch nachdrücklicher und mit
Ausdehnung über ganz Aegypten. Als jetzt die Orthodoxen von
AlexandrJa um Aufhebung des Befehls baten, wies Julian sie zur
Ruhe: wenn sie durchaus nicht ohne atheistische (christliche)
Predigten sein Icönnen, so sollen sie sich an einen Schüler des
Athanasius halten; denn leider stehe dieser nicht allein. So gut
wie er können auch Andere ihnen ihre heiligen Schriften aus-
legen, und alles Weitere, die UebergrifTe, das Proselyteomachen^
sei es eben was er nicht wünsche und um dessen willen er den
Athanasius verbannt haben wolle. Freilich gibt es einen Gesichts-
punkt von welchem aus diese Massregel nicht so unbedingt als
Beweis von schlechtem Vertrauen zur eignen Sache erscheint:
es ist der- politische. Dem Volke gegenüber kann man auf die
Macht der Wahrheit nicht ausschliesslich vertrauen ; man weiss ja
dass es für die Unvernunft mindestens ebensoviel Sinn und Empfäng-
lichkeit hat als für das Wahre und Gute, dass es für jeden Einfluss
zugänglich ist und von dem auf welchen es einmal sein Vertrauen
gesetzt hat sich blind als Werkzeug gebrauchen lässt. Auch beruht
die äussere Stärke einer Partei auf der Theilnahme der Masse, und
es war daher für einen Parteigänger wie Julian fast unmöglich ruhig
zuzusehen wie unter dem Volke für die Gegenpartei geworben wurde.
Aber es war eine arge Täuschung von Julian, wenn er meinte dass
das allegorisch -mystische Gebräu aus Altem und Neuem, das er auf-
tischte, für das eigentliche Volk geniessbarund erquicklich sein könne.
Es ist uns so eben bei Julian der Ausdruck Atheismus als
Bezeichnung des Christenthums begegnet. Es hängt diess damit
zusammen dass jenes Wort in seinem gewöhnlichen Sinne —
denn es gibt allerdings auch absoluten Atheismus, sittlichen, d. h.
Nihilismus — ein relativer Begriff ist: Unglauben an das was in
einer bestimmten Zeit die Masse oder doch die herrschende Partei
in religiöser Hinsicht glaubt^ also Unglaube an die herrschende
Religion, Nichtverehrung der Gottheit des Volks. Daher haben
zu alleQ Zeiten die Philosophen, wenn sie hinaus waren über
die Volksreligion, für Atheisten gegolten; daher hiessen Atheisten
unter Julian die Christen, unter seinen Nachfolgern wieder die
Hellenisten. Denn man kann dem religiösen Bewusstsein nicht
zumuten sich als möglich zu denken dass sein Gott nicht der
190 Kaiser Julianus.
einzige, absolute sei, dass an seinen Gott nicht glauben noch
nicht heisse keinen Oott, nichts Göttliches anerkennen; wurde
es solche Betrachtungen anstellen, so hätte es damit sich selbst
aufgegeben; denn ein relativer Gott ist kein Gott, ist nichts an
was man sich absolut hingeben» was man absolut lieben kann.
Werfen wir zum Schlüsse die Frage auf, wo bei Julian
ein Punkt zu finden sei um dessen willen er sich als Romantiker
bezeichnen liesse, so sind wir in der That in Verlegenheit einen
solchen zu entdecken. Wohl hat er die phantasievolle und
durch den Neuplatonismus sogar phantastisch gewordene alte
Religion festgehalten gegen das im Vergleich mit ihr nüchterne
Christenthum, aber nicht darum weil jene ihm die tiefere,
poetischere schien , sondern vielmehr weil er sie für näher
liegend und natürlicher hielt. Die Alexandriner z. B. fragt er^),
um sie zum Glauben an Gott Helios, Selene u. s. w. zu be-
kehren, welche er, sein Religionssystem dem Alterthume unter-
schiebend, unter dem Namen „olympische Götter" zusammenfasst,
— ob denn sie allein unter allen Menschen nichts verspüren von
der Macht des Helios? Und wie sie dazu kommen diesem die
Verehrung zu versagen, und dagegen den Jesus, von dem weder
sie noch ihre Väter etwas gesehen haben, als Gott Logos anzu-
beten? Ein Romantiker hätte gerade umgekehrt in dem Umstände
dass Jesus kein Gegenstand der niedrigen sinnlichen Wahrnehmung
sei einen Vorzug des Christenthums gefunden. Wohl stellt Julian
Idee und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart in Gegen-
satz zu einander; aber um das zu thun brauchte man nicht etwa
Romantiker zu sein, sondern vielmehr nur ein gesundes Auge zu
haben. Und was sind das für unromantische Ansichten die er
über das Theater, über Archilochos, Aristophanes u. s. w. aus-
spricht! Nicht nur nicht als Romantiker zeigt er sich hier, son-
dern vielmehr als das conträrste Gegentheil davon, als echter
Philister. Wie unromantisch ist weiter seine unerschütterliche
Keuschheit, seine' strenge Massigkeit, seine Umsicht als Feldherr,
seine Ausdauer, seine eiserne Willenskraft! Ein Mann der That
ist Julian , oft von fieberhafter Ungeduld und Leidenschaftlichkeit,
doch im Grunde seiner Seele nüchtern ; mit einem süss oder süss-
lieh träumenden Jünger der Romantik hat er keine Aehnlichkeit.
*) Epist. 51.
vm.
ProcopiusO.
Procopius aus Käsareia in Palästina ^) war wohl am Ende 38
des fünften oder gleich zu Anfang des sechsten christlichen Jahr-
hunderts geboren. Er war Rechtsgelehrter ^) und mochte sich
als solcher in Byzantion bereits bekannt gemacht halben als er
unter Justin dem Aelteren kurz vor dessen Tode (also im J. 527)
dem Belisar als rechtskundiger Rath und Secretär [itÜQSÖQog,
^viißovXoQ, assessor, consiliarius) auf seinen persischen Feldzug
mitgegeben wurde ^). Von da an begleitete er den Belisar fast
bei allen seinen Zügen und sammelte so das Material für sein
Geschichtswerk ^); er zieht mit ihm im J. 533 in den Krieg gegen
1] Ans A. W. Schmidts Zeitocbr. f. Geschichtswiss. VIII. 1847. S.
38 — 79. Dazu vgl. Prokopias von Cäsarea; ein Beitrag zur Historio-
graphie der Völkerwanderung und des sinkenden Römerthums, von
Dr. Felix Dahn. Berlin 1866. 502 S. 8.
') Pers. 1,1: KaicaQSvg nnd iv Kaiaagsiot xij ift^ (Anecd. 11^ p. 75
Bonn.). V^gl* Agathias Prooem. p. [11: IT^. o pijroQ o Kataagsiad'Bv,
Said. 6 Kaia<XQSvg iyi üaXaiatCvTjg , Joannes Scholast., Epiph. I u. A.
') g'qtfOQ xal nocpiatris, Suidas, vgl. Evagr. IV, 12. V, 24. Phot.
bibl. 63, Agath. a. a. O. u. II, 19. IV, 15. 30. Dass (tJtohq identisch
ist mit a%oXaati%6g beweist z. B. Evagr. V, 14, wo Agathias, fast
immer tf^^oXatfTtxog genannt, das Prädicat (i^tag erhält, nnd über die
Bedeutung von seholasticus s. Hanke de byz. rer. scr. gr. p. 178. 181.
*) Pers. I, 12 extr.: ßaailsvg BsliadcQiov ägxovta %ataX6ytav tcSv
iv Jccgag TiarsotTjöato. tots dri avtov ^viißovXog '^gid'Ti Ugonontog og.
tccds ^vviyQa^ps, 13 in.: XQOvo} dl ov noXXä varsgov 'loiHStivog . .
ittXsvtrios. Der passive Ausdruck ygid-ri scheint freie Wahl durch
Belisar selbst auszuschliessen.
^) Niceph. XVII, 10: comes in ezpeditione bellica illi (Bei.) subser-
vlens fnit. Vgl. Pbot.-a. a. O. u. bes. Pers. I, 1, nebst Suidas: yiyovsv
inl tmv xgovmv 'lovativictvov xov ßaaiXimgj vnoygatpBtfg xgrKiut^aag
BsXiaagiov lutl uTioXovd'og %atä navtccg vovg avy^ßdvxag noXi^^ovg rs
xal ngd^sig tag in* avtov avyyga(pstGag,
192 Der Geschichtschreiber Prokopius.
39 die Vandalen, zwar Anfangs zagend vor den Gefahren der weiten
Fahrt und des Feldzuges, aber durch einen Traum ermutigt^),
und Belisar verwendet seinen itägedQog um Nachrichten über
den Weg und die Feinde einzuziehen^). Auch nach Bßlisar's
Abgang aus Afrika bleibt er dort^) und veriässt das Land erst
zu Ostern 536^); um sich -über Syrakus nach Italien zu Belisar
zu begeben, welcher hier gegen die Gothen Krieg führte**^). Als-
bald sehen wir ihn im Dienste ~des Feldherrn neue Proben seiner
Gewandtheit ablegen^), und wenige Jahre nachher ertheilt er
aus seiner Renntniss der Vergangenheit heraus Belisar einen
gutea Rath^). Am Ende dieses Jahres kehrte er ohne Zweifel
mit Belisar nach Byzantlon zurück und begleitete ihn wohl, auch
in den Feldzug gegen die Perser, um dessen willen er vorgeblich
aus Italien abberufen wurde .^); und da Procop im J. 542, als
die Pest in Byzantion wüthete, sich in dieser Stadt befand^), so
musste er mit Belisar ^^) dahin aus dem Osten zurückgekehrt
sein. Dass er eine hohe Stellung bekleidete, darauf weist der
Titel ^IXXovötQiog hin, der ihm von Suidas und Nicephorus
(XVII, 10) ertheilt wird**). Da er das 328te Regierungsjahr
Justinian's (558 — 559 n. Chr.) jedenfalls noch erlebt hat (die
Anecdota und die Schrift De aediOciis sprechen von dieser Zeit),
so bedarf es für den Beweis dass Procop das sechzigste Lebensjahr
erreichte nicht erst der Annahme dass der in Anecd. 26 erwähnte
und der von Theophanes ins J. 562 gesetzte grosse Wassermangel
*) Vand. I, 12. vgl. Hist. inisc. XVI, 5. Theophanes, Anastasius
und Zonaras zum siebenten Regierungsjahr Justinian's.
8) Vand. I, 14.
^} Er war nicht an Belisar's Person, sondern an dessen Amt ge-
bunden.
*) Vand, II, 14, p. 474 Bonn, nach welcher Ausgabe wir immer
citieren.
6) Vand. II, 14 extr.
6) Goth. II, 4.
7) Goth. II, 23 (aus dem J. 639).
^) Goth. II, 30. Pers. II, 14.
») Pers. II, 22.
10) Pers. II, 21.
**) Darin liegt wohl auch die Patricierwürde ; wenigstens Anecd. 12,
wo er nach Aufzählung von Justinian^s Unbilden gegen den Patricier-
stand fortfährt: dio dij ifioi rB xal xoig nollois '^[täv oväsnoanovs
^do^av ovTOi äv&Qomot slvai, würde für sich zu keinem sichern Schlüsse
berechtigen.
Leben und Schriften. 193
in ByzanüoD identisch seien ^). Diess ist Alles was wir über
Procop's Leben wissen^).
Unter den Schriften des Procop nimmt die erste Stelle ein
das grosse Gesobicbtswerk in acht Büchern. Als Inhalt und
Gegenstand gibt er zu Anfang des Ganzen selbst an: TLq, Kccks.
rovg xoXaiiovg l^vvayQai;Bv avg 'lovözLvtavds 6 'Paikaia^v
ßaeiksirg tcqoq ßuQßaQovg Svijv&yxs rovg rs i^vg Tcal iöna-
QLOvgj Sg Tty avrdiv axirtfroi i,vvrivi%^ ysviöd'Ui^ also die
Kriege welche unter Justinian» Regierung — so weit als sie in 40
den Rahmen dieses Werks fällt — gegen die „Barbaren" im
Osten (Perser) und Westen (Vandalen und Ostgothen) geführt
worden sind. Als eine Kriegsgeschichte wird es von dem Ver-
fasser auch in seinen späteren Werken, so oft er darauf zu reden
k«mmt, bezeichnet: oC vtcsq täv noHfkfxtv koyot nennt er es
De aetlific. prooem. I, 1. 10 in. II, 1. III, 1. 7. VI, 5. 6, und
in der Vorrede zu den Anecd. eothalten die Worte: oiSa fihv
ovv ^Pca^itov TcS yivBi SvtsjtoXifioig a%Qi dsvQO l^wrivix^V
yavi&^i ryda (aol daäi'^yijrcci das Nämliche angedeutet. Und
da der grösste und wichtigste Theil dieser Kriege unter Belisar's
Oberbefehl geführt worden ist, so ist wenigstens nicht materiell
unrichtig die Auffassung dieses Werks als einer Geschiehte der
Kriegsthaten Belisar's, wie sie sich bei Evagrius % Zonaras, Georgius
Cedrenus, im Chron. Vat. und sonst findet. Aber dem Sprach-
gebrauche des despotischen Staates, wie ihn auch Procop Pers.
in. befolgt hat, ist gemässer die Darstellung von Niceph. Call.
XVII, 10: facta Jnstiniani a Procopio Caesariensi eleganter
admodum et docte in temporum suorum historia sunt conscripta.
Ohnehin erzählt das Werk weder ausschliesslich Kriege (z. B.
auch den Nika - Aufstand , die Pest in Byzantion u. A.), und noch
viel weniger blos die von Belisar geführten Kriege, sondern ist
überhaupt eine Zeilgeschichte, doch absichtlich mit möglichster
Vermeidung der Darlegung der innern Verbältnisse. Die An-
') Hanke p. 153 n. 157 stellt diese Annahme auf. Vgl. unten S. 217.
') Dass er der von Theophanes erwähnte TlgOTioniog vncegxog des
J. 562 sei ist zweifelhaft, und wird von Dahn, Prokop. S. 452 ff. mit
guten GrSnden bestritten.
^) IV, 12: yiyQamai, üffOTioniai tcS qtjtoqi tu vLaxa BsXteuQioVy und
dann: qnlonovißxaxa moiiipcig xs xal Xoyimg i%xs&sixai x& avxm Hqü-
wm^m S dl} nin^antat vno Bsliaagioi axQaxriyovvxi xwnf hmtov dwa-
Hsoav n. s. f.
Teuf fei, Stadien. 13
194 Der Gescbicbtsclireiber Prokopius.
Ordnung dieses Stoffes ist in der Weise des Appianus vor-
zugsweise nach lokalen Gesichtspunkten gemaciit: das räumlich
Zusammengehörige , auf Einem Räume Geschehene ist zusammen-
gestellt. Vgl. z. B. Vand. II, 14: iv rotg oniö^i [loc Xoyois
lsHI^€tai ote fi€ 6 löyos is t^^v 'IraXtXfDV nQayfidtov
riqv laxogCav äyoi. Aber dieses rein äusserliche Anordnungs-
princip hat viele Inconvenienzen herbeigeführt: die Ereignisse
greifen nicht immer in einander, der Historiker muss Lücken
lassen, Wiederholungen begehen, und der Leser bekommt zwar
von dem einzelnen Kriege ein lebendigeres Bild , von der ganzen
Zeit aber ein desto weniger zusammenhängendes, überschauliches
und einheitliches. Nur bei dem letzten Buche sieht sich der
Verfasser genölhigt eine Ausnahme zu machen und das Princip
der Gleichräumlichkeit sich kreuzen zu lassen von dem der Gleich-
zeitigkeit; er erklärt zu Anfang von Goth. IV (oder vielmehr Bell.
VIII), alles bisher Erzählte habe er, so sehr es thunlich war,
nach dem Schauplatze der Ereignisse geschieden und dann (das
41 Gleichräumliche) aneinander gereiht^); aber im Folgenden sei
ein solches Auseinanderhalten nicht mehr möglich, er könne
nicht mehr das räumlich und stofflich Zusammengehörige rein
halten von heterogenen Elementen , sondern müsse jetzt ein Stück
persischen und ein Stuck gothischen Krieges in Ein Buch zusammen-
werfen, und so sei es unvermeidlich dass die Geschichte bunt-
scheckig (noLTcllrj) werde. In dem zusammenfassenden Ruckblick
welchen Procop in der Vorrede zu den Anecd. auf das ganze
Werk de bellis wirft stellt er dann beide Principien zusammen:
er sagt, er habe das Bisherige erzählt yvceQ övvatov iyeyovet
xäv TCQdiscov tag drjkGiöeig anä0ag inl xulq^v rs x/xl
XG)Qi(ov imtriSBlGiv &Q(w0ccfiiva). Dieser von Procop selbst
gewählten Anordnung entspricht vollständig die Eintheilung
des ganzen Werkes in acht Bücher, zwei de hello Persico, zwei
de b. Vandalico, drei de b. Gothico, wozu noch nachträglich
das vierte hinzukam , und es ist" daher gleichgültig ob auch diese
Eintheilung von dem Verfasser selbst herrührt. Wenn diess auch
') oaa fihv &XQi toBäi fioi dsdiriyrjtai t^äs ^vyyiygantai ynsg
dwocTci iysyovsi inl xagiav i(p* mv dr^ xa ^gya td noliiiia ^vvrjvix^fl
ysviod'oci dtsXovti rs xofl aQfioeapbivqi rovg Xoyovg. Vgl. Vand II, 14:
vvv fkoi ovx ano rgonov ido^Bv slvai ^vfiitavza dvayQU^dfievov rd iv
Atßvji ivvsvtx^ivta oStod 9^ inl zov Xoyov xov afiqpl 'itaUav ts xal
Fotd'ovg Uvtti'.
Bella. Eintheilung. Abfassungszeit. 195^
nicht wahrsclreinlich ist, da Procop selbst immer nur mit den
Worten iv tots OTtia^sv oder IfiTtQoad'Sv Xoyotg auf die ein-
zelnen Theile seines Werkes verweist und Vand. I, 1 von Mridtxdg
xoksfLog spricht, ib. II, 14 die Bücher vom gothischen Kriege
vielmehr nach Italien benennt und die Vandalica eher Aißvxä
genannt hätte ^), — so ist sie doch jedenfalls in seinem Sinne
gemacht und von ihm herbeigeführt. Auch sagt schon Photius bi-
bliolh. 63: IIqoxotcCov gi^togog Cötoqitcov iv ßtßXiotg 6xr(6,
Eustathius ad IJ. IV ciiiari 11 QOXOTCtog iv rotg Atßvxotg (Vand.),
und bei Niceph. Call. XVil, 10 heisst es: quatuor Volumina is
(Pr.) ad antiquitatis slilum accedentia composuit, quorum unum
Persica nominavit, in quatuor partes divisum opus, secundum pari
divisione Golhica^). Diess ist die in den Ausgaben sich findende
Eintheilung in zwei Tetraden. Sie muss aber auf einem Miss-
verständniss beruhen, wenigstens ist es nicht denkbar dass Procop
den persischen und den vandalischen Krieg unter dem ge- 42
meinsamen Titel Usgama zusammengefasst habe. In Betreff der
Zeit der Abfassung und Herausgabe fällt das ganze Werk in
zwei ungleiche Theile aus einander: Buch I bis VII. und Buch VIII.
Denn zu Anfang des letzteren nennt Procop selbst die ersteren
xovg koyovg ovtcsq ^dr^ i^evex^^f^^^S navta%6^i daS'qkGivtat
t'^g^Pcofiaicov aQxVSj spricht von ihnen als ygäfLiiaOi rotg ig ro
Tcäv dsdijXionivotgj und sagt: ixsidr/ rovg ifLTtQOöd^sv Aoyovg
i^ijveyxa, iv rpdi (VIII) ^ot rä Adyco ndvxa yeyQa^sxui
u. s. f. Und da die sieben ersten Bücher unstreitig uno tenore
geschrieben^) und herausgegeben sind, so ist nur noch die Frage,
wann jeder dieser beiden Hauptlheile verfasst und herausgegeben
wurde. Hiefür bieten die Schririen selbst hinreichende Anhalts-
punkte. Keines der in diesen Büchern erzählten Ereignisse weist
^) Vgl. Qoth. I in. : xu y^hv ovv iv Aißvy n^ayfiava t^Ss ^PcafiULOis
i%<aQ7iCBv und Eustath. ad IL IV. Dass aber Goth. I in. im Unter-
schied von Vand. II, 14 von 9roil€fio$ o Tox&i'nog die Rede ist, ebenso
Vand. I, 1 im Unterschiede von Goth. I in. es heisst: oaa ig ts Bav-
dlXovg "nal MavQOvclovg (nicht: iv Aißvrf) spQyaataiy kann nnr be-
weisen dass Procop überhaupt keine festen Ueberschriften dieser Art
gewählt hat.
*) Von dem dritten und vierten völumen (Aedif. u. Anecd.) wird
später (S. 206 ff.) die Rede werden.
') Wie die unmittelbar anknüpfenden Uebergänge von Vand. I an
Pers. und Goth. an Vand. beweisen.
13*
196 Der Geschichtschreiber Prokopias.
über das J. 551 hinaus: Vand. schliesst die umstandlicbe Er-
Zählung mit dem 19len Regierungsjabr Justinian's (J. 545 — 6)
und gibt über das Weitere nur eine summarische Uebersicht
(II, 28); Pers. erstreckt sich bis zu Justinian's 23stem Regieruogs-
jahre, also 549—550 (II, 30), und Goth. I— III geht bis über
das fünfzehnte Jahr dieses Krieges hinaus (iil, 39 extr. und 40),
also, da in seinem neunten Regierungsjahre (535 — 6) Justinian
den Krieg gegen die Gothen begann^), bis an den Schluss des
J. 550. Die Erzählung des Krieges mit den Persern schliesst
(Pers. U, 30) mit dem vierten Jahre des fünfjährigen Wafienr
Stillstandes (J. 549) ab, also an einem Punkte der sich an sich
nicht zum Abschluss eignet, dessen Wahl daher nur durch die
Abfdssungszelt herbeigeführt sein kann und bei dem es* wohl
auch nicht geblieben wäre, wenn die Zeit der Herausgabe des
Ganzen eine Weiterführung möglich gemacht hätte; wir werden
daher wohl zu dem Schlüsse berechtigt sein dass die »leben
Rücher gleich im J. 550 oder 551 herausgegeben worden sind, ehe
noch über den weiteren Verlauf des Krieges mit den Persern in
Kolchis bestimmte und zuverlässige Kunde gegeben werden konnte.
Mit diesen Daten sind noch andere in diesen Rüchern vorliegenile
in Zusammenhang zu setzen. Pers. .1, 25 extr. ist angegeben
dass in dem Augenblicke da der Verfasser schreibe Johannes
4er Kappadokier schon über zwei Jahre in Gewahrsam sei^).
Zugleich ist daselbst gesagt dass die Strafe für seine Verwaltung
zehn Jahre später als diese, d. h. dass sein Sturz am Ende einer
43 zehnjährigen Verwaltung erfolgt sei^). Es fragt sich, wie Procop
hiebei gerechnet hat. Er hat unmittelbar vortier den Nika- Auf-
stand (Januar 532) erzählt und berichtet wie in Folge desselben
Tribonian und Johannes abgesetzt, aber nach demselben bald
iXQ^"^^ vGxsQOv) wieder in ihre Würden eingesetzt worden seien,
welche dann Tribonian bis an seinen Tod bekleidet, Johannes
dagegen im zehnten Jahre nachher^) durch Theodora's Intriken
wieder verloren habe. Diess geschah im Frühjahre 541, als
^) Goth. 1,5: ^acilBv^ . . xa^/aTaro ig xov noKspkov, ivaxov ixog
'] \\.: xQitoy xßif^Q ixog avxov ivta^p^a ^aQ'BdfiuvxBg xriQPvaiv.
^) Imdvvriv ftlv ovv xov KannadoKT)» di%u ivtavxoig ScxsffOff avxi^
x&v nsgcQXixsvuBvoiv %axiXaßs xCaig,
*) 8i%axov ixog xr^v iq%riv ^%(ov, ib. p. 130.
Bella. AbfasBungBzeit. 197
Bclisar bereits in d«n Osten abgegiinge« war^y, nachdem er im
Herbste zuvor nach Besiegung des \lltigis und Wiedereroberung
von Italien^] nach Byzantion zurückberufen worden war^); somit
wirklich im zehnten Jahre nach der Wiedereinsetzung des Johannes.
Der Entlassene und Verbannte wurde in Kyzikus Priester; aber
auch dahin verfolgte ihn der Hass der Kaiserin: als der dortige
Bichof Eusebius ermordet wurde, suchte Theodora den Johannes
als Mitwi^er in den' Process hineinzuziehen. Diess geschah vier
Jahre nach seiner Verbannung^), also im J. 545. Trotzdem
aber dass Johannes' Schuld durchaus nidit erwiesen wurde, wurdb
er doch nach Antinoopolis in Aegypten in^Haft gebracht, lieber
zwei Jahre war er schon dort, als Procop sein erstes Buch
schrieb, -^ es ist also dieses ums J. 548 geschrieben, was ganz
zu unserer obigen Berechnung stimmt. Eine andere Andeutung
ist Goth. II, 5, p. 167. Im dritten Jahre des gothischen Krieges^],
also im J. 537» wurde ein römischer Soldat Namens Traianus
in die Stirne verwundet, wobei die Spitze des Geschosses stecken
blieb. Im fünften Jahre nachher®), also im J. 542, zeigte sich 44
von selbst die Spitze wieder, und zu der Zeit da der Verf. diess
schrieb war «s das dritte Jahr dass dieselbe allmählich immer
weiter sich heraus arbeitete^). Somit hätte Procop Goth. II schon
im J. 545 geschrieben, was zu dem eben gewonnenen Resultate
durchaus nicht passen will. Vermittlungsversuche lassen sich
mehrere denken: entweder ist zwischen dem ersten Erscheinen
der Spitze und ibne« weiteren H6rvorruck<<n ein Zeitraum von
^) ibid. p. 131 f.: (^BsXiadgtog) av&ts inl Uigcag iargaTevüs tijv
ywcLi%a iv Bv^avtiq} änoXmmv, vgl. 133, wo Antonina sagt: iiiXXBiv
avtC-aa dr^ (idXcc ig ti^v eo nagd !BsXtcccQLOv atsXXsa^ccif und Pers. II, 14
p. 215: (BsXiaaQiov) otgatriyov knC ts Xocgotiv nccl Üigoccg Sfia 'qgi
OQXOfiivm ßaoiXsvg insfiipsv, ^
<) Was nach Goth. JII, 80 nach fünfjähriger Kriegführung (von 685
Ml), also wirklich im J. 540 erfolgte.
^) Pers. I, 25, p. 131: iv rovrm BeXiad^ios 'itccXiav %ccTaatQSilHifiS'
vog ßaoiXsC ig Bv^dvtiov ^vv 'Avtcav^vy xif yvvttiTil pLStdnefintog '^X&sv
i(p* CO inl nigoocg atgatevasis ^ vgl. II, 14, p. 215: BeXiadgiog ßaoiXsC
ig BvtdvTiov i^ *IxaXCag (istUTtsiiietog rjXQ's xal avrov dicc%Hp,daavttt
iv Bv^avxCtp vxQccrrjyov inl . . Uiqaag . * insfi'fpsv,
*) Anecd. 17, p. 105: tstgccaiv iviavtotg vGzeqov,
ß) Vgl. Goth. II, 2 extr. mit ib. 12 extr.
^] nifinxm votsqov iviuvzm^ ib. p. 167.
^ ib.: TQ^TOv xovto hog l| ov natd ßQä%^ HegosiCtv i^m dsL
198 Der Geschichtschreiber Prokopius.
einigen Jahren, worin sie ruhig geblieben, einzuschalten^), oder
ist anzunehmen dass auch Pers. I ursprunglich ums J. 545 ge-
schrieben wurde und nur die Fortführung der Geschichte des
Johannes, bis auf die Zeit wo Procop an sein Werk die letzte
Hand anlegte und sich zur Herausgabe anschickte, erst später
(ums J. 548) von ihm hinzugefügt wurde. Auf eine ähnliche Weise,
scheint es, ist ein anderer Widerspruch zu schlichten. In den
Anecd. 16, p. 96 bekennt Procop dass es ihm unmöglich ge-
wesen sei Goth. I, 2 f. die volle Wahrheit über Amalasuntha's
Tod zu sagen, aus Furcht vor der dabei compromittierten Kaiserin
Theodora^). Demnach lebte Theodora noch als Procop Goth. I
schrieb und — sollte man meinen — herausgab, er hätte es
also vor dem Juni 548 geschrieben und ediert haben müssen.
Letzteres aber ist, wie wir gesehen haben, nicht der Fall, viel-
mehr erfolgte die Herausgabe erst nach Theodora's Tod , dessen
Pers. H, 30 extr. und Goth. IH, 30 ausdrückliche Erwähnung
geschieht. Dass er aber nicht auch hier nachträglich bei der
letzten Bearbeitung einen die Wahrheit enthüllenden Zusatz machte
war natürlich, da zu dieser Zeit Theodora noch in frischem An-
denken bei Juslinian stand, eine missliebige Eröffnung in Bezug
auf sie daher besonders empfindlich aufgenommen werden musste
und daher nicht rathsam war^). Was dann endlich Buch YHI
(Goth. IV) betrifft, so schliesst es sich seinem Inhalt nach un-
mittelbar an die vorhergehenden Bücher an und führt den per-
sischen Krieg bis ins J. 552 (vgl. c. 15 extr.), den gothischen
bis an den Schluss des J. 553 (c. 35 extr.) ; und da zur Annahme
einer verzögerten Herausgabe kein Grund vorhanden ist, so wird
man diese wohl ins Jahr 554 oder 555 setzen dürfen. Das ganze
Werk ist wohl aus allmählich an Ort und Stelle gesammel,ten
Notizen ; einer Art Tagebuch, entstanden und in Byzantion ausge-
arbeitet; für letzteren Umstand scheint eine ausdrückliche Be-
stätigung zu enthalten die Stelle Goth. IV, 31: ^xov6a ob noxB
45 Hai xovSb tov Xoyov aTcayyeXXovrog ^Pcofiaiov dvÖQÖg ^vtTca
inl 'Pdfirig diatQtßriv bIxov.
^) Dieser Vermittlang (durch mehrjährigen Stillstand) stimmt Dahn
za, Prokop S. 449.
*) tva dfj fiot tmv TCBitQayfiivoiv innviftovg noista^ai rag altj^siccg
Sisi Tfjg ßcLUiXCdog ddvvatcc ijy.
8) Vgl Dahn, Prokop 8. 460.
Bella. Herausgabe. Quellen. 199
Welche Quellen hat Procop für dieses Geschichlswerk be-
nützt? Vßv Allem die eigenen Augen. Er begründet seinen Beruf
und seine Befähigung zum Geschichtschreiber am Anfange seines
Werkes damit Sri avxä l^v(ißovXip yQfnidvc) Behöagip rcJ OTQat-
riyip exBÖov xv ccTCaöt Tcagayeviöd'at rotg xsjtQayiisvotg l^vve-
7t€0s}). Auch die von ihm beschriebenen Länder, Völker, Gegen-
stände und Oerter hat er selbst gesehen^): wenigstens bedauert
er in Bezug auf Thule ausdrücklich ^) dass es ihm nicht möglich
gewesen sei sie persönlich zu besuchen, so sehr er es gewünscht
hätte. Nächst seinen Augen sind seine Ohren seine Hauptquelle :
was er nicht selbst erlebt hat, darüber hat er sich wenigstens
bei Solchen erkundigt welche es mitgemacht hatten oder sonst-
her Kenntniss davon haben konnten^). Aber auch schriftliche
Quellen hat Procop mit solchem Fleisse zu Rathe gezogen dass
Agathias IV, 26, p. 264 ihn als ag nkatdra (isfiadT^xota xal
Ttäcav (og elnstv IctOQiav ävaX€^d(i€vop prädiciert. Er that
es bei den der Vergangenheit angehörigen Partien seines Werkes,
und die Hinweisungen auf diese Studien treten vielfach zu Tage.
So Pers. I, 5 in Bezug auf die armenische Geschichte^); so
heisst es Vand. U, 10: äöJtSQ Sicaatv (OfioXoyi^taL o*C ^oi-
vlmov %a aQ%ai6xata dvsyQa^avxo^ und Pers. U, 12, p. 208
wird in Betreff des Briefs Christi an Abgarus in Edessa gesagt:
fpaol . . roi;ro avxov izetnetv dg ovdh r} nohg noxh ßaQ-
ßaQOtg alciötfiog iaxav. xovxo X'^g iTttOxoXijg ro äxQOxaXsvxiov
ol iilv ixsivov xov XQOvov xr^v [gxoqCuv i,vyyQd^avxag ovdcc(ifj
iyvcDOav^ ov y&Q ovv ov8b nr^ avxov iTCSfit/i^ö&Tiaocv, Arrian
wird Goth. IV, 14, p. 535 erwähnt, und in ^er gelehrten Er-
örterung über die Grenze zwischen Asien und Europa (Goth.
IV, 6) wird Aeschylus und Aristoteles eitler t, von Herodot eine
^) Fers. I, 1« vgl. Vand. I, 12. Phot. bibl. 36 und andere oben
angef. Stellen.
») Vgl. Goth. IV, 22.
3) Goth. II, 15.
*) Vand. II, 13: tovrov tov civd-gaonov iym Xiyovtog ijiiiovacc. Goth.
I, 23: diei&ccvov VoT&mv xQiafivQiov, tog avvmv ot &q%ovxBq laxvqC^ovxo,
ib. II, 15: Tcov Iff r^iküiq ivd'ivde (von Thule) iX€pi%oiiiv(ov InwQ'avoibriv^
otnsQ ifiol Xoyov dXrid'ii '^^ ^^^ ntaxov iq>Quaav, ib. IV, 20. p. 567:
driXcoaa} afcovSaiotarcc d«ayysXX6vt(ov axi^xocos noXXdmq zmv r^Ss
dv9Q<ommv (von der Insel Brittia).
^) ij xwif 'AQ(t,sv£<ov tatOQkcc Xiyst wechselt mit 17 t. *A, avyyQccqfij
Xiys^, Vgl. De aedif. III, 1, p. 245.
200 Der Geschichtschreiber Prokopius.
ganze Stelle herübergenommen. Aber er nennt seine Quellen
fast nur wenn er von ihnen abweicht; Slrabon z. B. hat er fleissig
46 benützt und citiert ihn doch nur Goth. IV, 3^); indessen ist unter
den ncdai&csQoi deren Angaben aber den Pontus Euxinus er
Golh. IV, 1 vervollständigt und berichtigt wohl auch Strabon
mitbegriffen. Bei ihrer Benützung wendet Procop eine Genauigkeit
an welche sogar kleinlich werden kann,, wenn er z. B. Pers. II, 5
anführt dass die Perser nach Einigen einen Stein, nach den Andern
ein Holz zwischen das Thor und die Schwelle geworfen haben;
ebenso erwähnt er Goth. IV, 32 z. E. verschiedene Versionen
derselben Erzählung. Die Kritik die er den Angaben seiner Quellen
gegenüber übt ist eine rationelle, apriorische; so findet er Vand.
I, 2 die Darstellung als habe Honorius selbst Alarich herbeige-
rufen gegen seine aufrührerischen Unterthanen psychologisch un-
wahrscheinlich, und häufig kehrt er sich gegen wunderbare oder
mythische Berichte ^) , wiewohl noch viel. häufiger, wie wir sehen
werden, die Fälle sind wo er solchen Dingen Glauben schenkt.
Einen eigenen Vermittlungsversuch zwischen Glauben und Zweifel
enthält Pers. II, 12, p. 209. Nachdem Procop berichtet, warum
die Sage dass Christus mittelst eines Briefes den Edessenern die Un-
einnehmbarkeit ihrer Stadt versprochen habe unzuverlässig sei (was
Evagr. IV, 27 mit Berufung auf Euseb. Bist. II, 13 bestätigt), fügt
er hinzu: ich bin auf den Gedanken gekommen dass Christus, falls
sein Brief auch jenes Versprechen nicht enthalten hat, doch, weil ein-
mal die Leute glauben er habe es versprochen, darum die Stadt vor
Einnahme beschirme, damit man ihn nicht beschuldige er führe irre.
Procop nimo^t unter den Historikern eine durchaus achtungs-
würdige Stelle ein sowohl in Bezug auf die Gesinnung^) als die
^] ravvv ovdaii'^ xmv ayiitpl to Kavaciaiov oQog xtogltav 'Afia^ovatv
ziq f»,in]pnfj diaad^staiy nairoi %al ZtQoßoovi nccl äkXoig tial Xdyoi dfitp'
avtatg nolXol stgtivtai,
') Z. B. Goth. I, 9. 11. IV, 1: p^vd'ov yoQ ttttogiav naget itoXv
v,B%togCG^cLi olfiai. Anderswo erzählt er so dass er stillschweigend das
Mythische beseitigt, vgl. Pers. II, 27 mit Evagr. IV, 27, wo das Bild-
nis« Christi Wunder wirkt, eine Tradition die yielleicht auch erat nach
Procop*s Erzählung entstanden ist. Ebenso vgl. Pers. II, 20 mit Evagr.
IV, 28, wo Reliquien eine Schaar Bewa£fneter hervorzaubern.
^) Wie er sie in den Bella kundgibt. Die Uebertreibung des Lobes
von Justinian in den Aedif. und des Tadels in der Arcana erklärt sich
aus persönlichen Verhältnissen und beweist eine Schwäche des Cha-
rakters die keineswegs geleugnet werden soll. Vgl. Dahn, Prokop S. 366.
I
Bella. QuellenbenützuDg. Freimut. 201
Darstellung^). Er hat mit Ernst und Redlichkeit sich bestrebt
die Wahrheit zu sagen, auch tadelnde Bemerkungen freimutig
ausgesprochen^). Und zwar rögt er nicht blos das Treiben von
Johamies aus Kappadokien, Tribonian, Arethas, Bessas, Alexander, 47
Sergius u. A., so hoch auch diese schon standen durch Wurde
und kaiserliche Gunst, hebt nicht nur bei untergeordneten An-
führern ihre strategischen Missgriffe hervor^) sondern auch bei
Belisar seinem Gebieter^), dessen schmählichen zweiten Feldzug
gegen die Gothen er nicht bemäntelt^), wenn er gleich die wahren
Ursachen hier nicht aufdeckt®). Selbst Justinian gegenüber hat
er gethan was er konnte; er stand unter einem Drucke noch
schwerer als irgend welche Censur, well er scheinbar dem Schrift-
steifer vollständige Freiheit Hess; nur dass, wenn er von dieser
seiner Freiheit einen irgendwie missliebigen Gebrauch machte, dann
auch der Despoftlsmus seine unumschränkte Freiheit und Macht
gegen ihn in Anwendung brachte. Erwägt man diese Verhältnisse,
so ist in Procöp's Geschichtsbüchern noch so viel ünverhaltene
Wahrheit dass wir dem Schriftsteller unsere Anerkennung nicht
versagen können der noch unter den Augen des bethetligten
Despoten öffentlich so zu sprechen wagte. Schon was er gegen
Jttstinian's Beamte sagt trifft nicht blos indirect den Kaiser seihst,
sofern dieser solche Werkzeuge wählte und duldete, vielmehr
war es kein Geheimniss dass sie mit seinem Wissen und Willen
so handelten und dass er eben um ihrer Charakterbeschaffenheit
willen^) sie erwählt hatte und beibehielt. Aber er wendet sich noch
^) Vgl. Photius bibl. 160: ügononiog Sg sig fiiya TiTrjficc Ttal Sq>8Xog
xftv' iüsivQ xixi^fov zag y^tpccg cvvza^ag de^iivrjatov avtov %Xiog rot^
anovdoiiotBQOtg ^ataXiXomsv.
*) Vgl. Prooem.) wo er als erste Pflicht und Aufgabe des Historikers
die dXi]9'sia nennt nnd hinzufügt: xavToi tot oi^h t&v 0% ig £ytzv initTi-
Ssimv zd fi,oxd"rjQd insTiQvipavro , dXXd td nä6i ^wsvsx^i^fx^ ^Tiacea
d%QtßoXoyov(ASVog ^wayi^dipato sÜts sv stxs aXl^j n^ avroig et^yaorai,
») Vgl. Pers. II, 8. 39 extr. Goth. 11, 17 extr. m, 6. 26. IV, 13,
p. 625.
*) S. Goth. I, 26 extr., vgl. II, 8 extr.
^) Goth. III, 35. Von seiner Unbefangenheit Belisar gegenüber ist
auch sein Lob des Narses , des Nebenbuhlers von jenen , ein Zeugnis«.
^) Sondern Anecd. 5.
^ Durch welche sie ebenso gefügige wie brauchbare Werkzeuge
seiner Habsucht wurden; vgl. Dahn S. 384.
202 Der GeschichtBchreiber Prokopius.
unmittelbarer gegen ihn, rügt seine nachlässige Kriegsführung ^),
erwähnt seine kleinliche Eifersucht^), seinen kläglichen Wankel-
mut^), seine unzeitige Beschäftigung mit theologischen Dingen^),
bemerkt «eine feige Nachgiebigkeit gegen fremde Völker und
Fürsten, die Schnödigkeit seiner Verträge^). Zwar steckt ersieh ,
dabei gern hinter Ändere, nimmt die Miene an nur objectiv zu
berichten was die Leute gesagt haben ^), bescheidet sich au,ch wohl
48 kein Urteil darüber zjd haben ob solche Ansichten begründet oder
kurzsichtiges Unterlhanengerede seien ^); das sind aber doch wohl
nur Praktiken der Vorsicht, die jeder Billige ebenso sehr verzeiht
als sie jeder Verständige durchschaut^), zumal wenn der Historiker
ausführlich auseinandersetzt warum die Leute sich zu einem tadeln-
den Urteil berechtigt geglaubt haben ^). Ohnehin strebt Procop auch
sonst nach objectiver Hallung, drängt seine Person nicht in den
Vordergrund, und spricht von sich, wenn die Erzählung ihn auf
sich selbst führt, gern in der dritten Person, wie Caesar. Wie
wenig er sich über seine ganze Zeit Täuschungen hingibt erhellt
schon daraus dass er Aetius und Bonifacius die letzten Römer
nennt ^^). Dass er dennoch nicht mehr thut in der freimütigen Kritik
seiner Zeit war nicht seine Schuld : nicht an seinem Wollen fehlte
es, wohl aber am Können. Diess hat er am besten dadurch be-
wiesen dass es ihn drängte das was er öffentlich nicht sagen durfte
doch wenigstens in einer geheimen Schrift niederzulegen, um so der
Wahrheit die Schuld abzutragen, die er auf sich geladen, indem
er in der einen Schrift nicht die ganze Wahrheit sagen konnte,
in einer andern das Gegentheil von ihr sagen musste. Diese
^) Goth. IV, 26: X£av xa tcqotsqcc woXsftov xo^Bb an7jiJLeX7i(i,ivmg
dia<psQ(ov *Iovativiav6g ßoioiXsvg.
«) Goth. III, 36, p. 432 f. vgl. Pers. II, 29.
3) Goth. III, 37, p. 440.
4) Goth. III, 35, p. 429.
5) Pers. II, 16, Goth. IV, 15.
6) Vgl. die vorige Anm. u. Goth. IV, 21.
^) Goth. IV, 15: xal ei Simaiav riva rj dXoyiOTOV inoiovvTO Ttjv
(lifiipiv, old ys zmv ägxopi'ivtov , ovn ^%(o slitsiv.
^) Unbegreiflich ist daher, wie Schlosser (Universalhist. Uebers. III,
4, S. 125) in Bezag auf diese Bücher sagen kann: „Justinian^s Lob-
redner, der parteiische Procopias.'*
^) Wie er eben Goth. IV, 15 thut.
^®) Vand. I, 3. Aensserlich betrachtet er auch die Oströmer durch-
aus als *Pa>fiaiO( und nennt sie constant so.
Bella. Charakteristik. 203
Schuld druckte ihn um so mehr, je klarer er sich bewusst war
dass sein Wirken auf die Zukunft gerichtet sei und das Thun
und Urteilen der Nachwelt zum Theil von ihm abhänge*), und
je tiefer und wahrer seine Liebe zu seinem Vaterlande war und
sein Schmerz über dessen unglückliche Lage. Dieses Gefühl durch-
dringt sein ganzes Geschichtswerk und bricht besonders lebhaft
hervor wo er von den Erniedrigungen zu erzählen hat welche
die „Römer" von den „Barbaren" zu erfahren hatten 2).
Procop bemuht sich seine Darstellung^) durch Excurse und 49
Episoden, durch Einflechten kleiner Nebenzöge ebenso anziehend
als lehrreich zu machen. Mit einer Menge specieller Züge und
Anekdoten, wie sie nur der Augenzeuge zu liefern vermag, hat
er sein Buch durchwirkt. Auch die vielen geographischen, ethno-
graphischen und historischen Erörterungen sind ebenso lehrreich
für den Leser als sie des Verfassers Gelehrsamkeit beweisen; sie
sind zwar öfter wie vom Zaun gebrochen^), nicht selten aber
dienen sie zur Aufhellung und Veranschaulichung der erzählten
Ereignisse^). Je mehr er nach dem Ruhme der Vollständigkeit
und Gründlichkeit strebt, desto weniger erspart er sich solche
Einschaltungen^) und bemerkt, wo er abkürzt, ausdrücklich dass
^) Z. B. Ooth. III, 10 g. £.: aitccvrccg imxsivccv tgonm Srj mneg
i^sji i6t äpLsvog ^ytoys tag rjniata sni[ivjjaoficci , mg firj dnav^gatit/ag
anoXstna} fivrjiisicc tm oniad-sv jt^oVo). Vgl. Anecd. 15, p. 94.
') Z. B. Goth. IV, 11, wo er von einem Gesandten des Chosroes
sagt: aXka ts ov% d^ioloya tpsgoav iyakT^fiata (gegen die Römer und
ihren Kaiser), ivnig fioi iieiiivrjö&^vai ovtov avayitatov iSo^sv elvai.
Vgl. ib. 15. Pers. II, 15.
^) Menander Protector verzichtet in dieseL Beziehung auf den Wett-
eifer mit ihm: ov yotg ifioi ys Swatov ovSs ys ccXloag nifpvus d'viiij-
QBg, toeccvffj Xoyoav duttvi trjv ifiavtov d'QvakXiSa dvxavaG%Btv (p. 433,
nro. 27, ed. Bonn).
^) Vgl. z. B. Goth. IV, 22 über die Lage der homerischen Insel der
Kalypso.
5) Goth. IV , 1 : ontog xotg tdds dvaXsyofiivoig ^nSriXcc tu inl Aa^i-
KTJg %mqlu ^oxai . . xal fti} VTikg tmv dtpccvmv GtpifSiv tognBQ ot amiafioc-
XOvvTsg BiaXiyBG&ai dvayud^mvzai , ov fioi äno hcciqov ^So^sv stvcci
dvayqdipaG^ui ivtayd-a xov Xoyov ovziva diq tqonov ävQ'gmjeoi ol%ovai
zov sv^sivov yiaXovfievov novrov. Minder klar ist das Goth. 1 , 15 über
die Geographie von Italien Auseinandergesetzte.
^) Goth. IV, 20, 656 f.: indvayyiig fioC iatt Xoyov fivQ^oXoyioi ifitpe-
Qsatdtov imiiVfjod'TJvaL , , mg firj zu yB u(i<pl BgizzCff zij vqaat uvu-
yQUfpopifBvoi dyvoiug zivog xmv xrjSs ^vfißuivovxmv dii^VBHmg dxBviy-
%ui(it do^uv.
204 Der Gefscfaichtechreiber Prokopios.
er es mit Absiebt thae ^). Eine zweifettiaftere Zierde sdner Dar-
stellung sind die cablreicben Reden welche er nach tradilioneüer
Manier seiner Geschichtserzahlung einverleibt. Bd jeder Gelegen-
heit, Tor jeder Schlacht, hei jeder Verhandlung kommen die
obligaten Standreden und fingierten diplomatischen Actenstücke,
zwar meist in bescheidener Ausdehnung und oft auch den Um-
standen angemessen, aber im Ganzen doch über Einen Leisten
geschlagen, reichlich gespickt mit Gemeinplätzen und Reflexionen
ober specielle Verhältnisse wie über ganz allgemeine Dinge. Es
mag kommen wer da will» Grieche oder Barbare, die Gemein-
plätze bekommt er in Mund oder Feder, &e mögen flin würgen
50 so arg sie wollen ; das wasserfarbene Kleid des Rhetors wird ihm
angezogen, es mag ihm passen oder nicht. Einer der stärk-
sten Fälle dieser Art ist Goth. IV, 12, wo ein römisdier
Soldat eine lange Rede voller Sentenzen^) an die Akropolis von
Petra hinaufscbreit Abgesehen von dem Unpassenden ihrer Stel-
lung sind übrigens diese Sentenzen der Beachtung nidit unwürdig;
namentlich findet sich unter ihnen manche feine und treffende
psychologische Bemerkung. Beispielsweise erwähnen wir Goth. iV,
15, p. 537. Hier wird erzählt wie Justinian sich dazu verstanden
habe den Persern für die Bewilligung eines fünfjährigen Waffen-
stillstandes 2000 Pfd. Gold zu bezahlen; diese Summe habe er
Anfangs auf die fünf Jahre vertheilen wollen, sei aber davon
abgekommen, damit es nicht scheine als zahle er Tribut. Hierzu
bemerkt Procop: tä yuQ alß%Qa ovofuiraj ov ra nQayfuxxa
sldd'aOtv av^Qtonot ix roi) iici xXbZ^xov aüfxvvs0^t, —
die schlagendste Kritik von Justinian's Handlung.
Der Stil^) von Procop ist zwar klar, trägt aber starke Spuren
seiner Zeit an sich; er hat das Preäöse, Geschraubte und Ge-
*) Vand. I, 7: pa&ilsit «ttl aXloi tv x^ i^ntgta ysyovatfi^, mtwn^
za ovoficcta i^B^iCTOiisvog mg ^xicta inißvijaofiai., XQ^^^ ^^ 7^ ^^'
toig ti afjxi olfyov xiva inißimwai ««l ehr' avxöv loyov S^wp ovShf
nBft^axivht fvrisrsirs.
*) Z. B. apdyxij ovdl aya^^g xivog ilxiSog xvxovüa x^ ixipCttp
ixipBvysi dixaCag ^v %al xmv igyav intßdlrixai xd alcxifoxattt.
') Vgl. die Urteile von Alemannos: Prooopii formain dicendi si spe-
ctes ea sopbisticis comta est lonociniis atticiaque leporibas ad ostentatio-
nem inairacta. Sigonios de hist. rom. c. 33: mediocri 0tilo hc plane
naturali dictionis qaae aaiaticae propins est qaam atticae; Balttt.
Bottifacins de rom. scriptor. c. 33 : propior est asiaticae redondanliae
qaam atticae copiae, neque tamen verbosns nimium.
Bella. Charakteristik. Sprache. 205
blähte des .späteren Heiienismus. Er sagt nie einfach: TÖd^
iyi'uato, sondern regelmässig rode y€VE6^a$ ^vvijvix^ ^^^^
livvBJt£ö€,oder ^vvsßri oder rsTvxri^s; nicht ßov^o^ai^ sondern
ßovkoiiBvq) [wi iiSiftv; er liebt hyperbolische Wendungen wie
den Superlativ (z. B. ^veteStatog^f 0q)ccXs^cixatog) mit axävtcov
äv%Q(6n(0Vj oder den Ausdruck: iöxaza i6%at(QV xcsxä TCcksjfyv^i
(Golh. IV, 14). In lexikologiscber Hinsicht stdbert er allenthalben
poetische, pikante, gewählte Schriftausdrücke auf und rerwendet
sie wie ordinäre; es ist der überreizte Gaumen der späteren Zeit,
dem die einfache gesunde Kost nicht behagt. Von dieser Art
sind Ausdrücke wie XtitaQBtv^ o^av^ aim%aix{t,Btv ^ n6vm 6fte-
keZv, äxQaxtog, ^«^og (sedes) und viele andere. Was das Gram«
matische betriilt, so hat die Reinheit des attischen Dialekts viel-
fach Noth gelitten: für dea richtigen Gebrauch des Artikels ist
das BewusstseiQ verloren gegangen, idv wird unzählige Male
mit dem Optativ verbunden, ' die Präpositionen der Ruhe und
die der Bewegung werden durch einander geworfen, andere
haben ihre specifische Bedeutung eiogebüsst^), die natürliche 51
Stellung der Worte wird mit Afiiectation zerrissen^), der Dialekt
durch eine Menge von lonismen getrübt. Hiehei scheint der
Einfluss von Herodot bedeutend mitgewirkt zu haben ; denn diesen
copiert Procop in den kleinsten Eigenthümlichkeilen , in Liebliogs-
wdrtern wie xatoQQadatVj l^vvexv^rias^ ^vvrj^ g)LXst {= etcad'e)^
nsQl kö^fav &q>äg^ u. A., in der Gewohnheit die kleinste Mit-
theilung mit einem Epiloge zu schliessen, wie taika [ihv ovv
tyda ijipiQft(fi^¥^^ und damit den Uebergang zu machen zu einer
neuen, in der Sitte zweifelhafte Erörterimgep abzuschliessen mit
der Weiidung: aXla neifi xovtmv (ihv ixä6tp oxy g>llov ravty
Xoyi^dvcD u. dgl., aber auch in Bedeutenderem, in der Anlage,
in dem episodenreichen Gange, in der fatalistischon Auffassung
des jEusammenbanges d«r Ereignisse^). Aber ehe wir diesen
^] Z. B. naQcc xiva iivai regelmässig in dem Sinne von rcgog
xiva; für das Andere vgt z. B. Goth« IV, 16: ig tmv if^v zag vnsQ-
ßoXag ri6v%j^ ifbsvsv. Aber Schnitzer wie das bei Theophanes regel-
mässig Torkommende 'qXd'SP iv Kmvatavtivovnolsi finden sich bei
Procop nicht.
') Vgl. z. B. Goth. III, 1 g. E.: %a^ novs avtov rotd-tav satiavTa
ttiQfjaag tovg ugimovg vj inißovX^ ine%9{0i^0'8v; ib. lY, 33: wxiva ^
') Vgl. Schlosser, Universalhist. Uebers. III, 4, S. 108: Procopios,
der sich in der Breite des Herodotus gefällt, die bei seinem naiven
206 Der Geschichtschreiber Prokopius.
charakteristischen Punkt von Procop's Weltanschauung näher be-
sprechen, müssen wir auch auf seine übrigen Schriften einen Blick
werfen.
Dass die Schrift de aedificiis (tceqI xriöiidtcav)^) nach den
Büchern De bellis verfasst ist geht aus der häufigen Anführung
dieser in jener mit unfehlbarer Gewissheit hervor; dass auch
nach Herausgabe des letzten (achten) Buches, beweist Aed. III, 7,
p. 261: fJTtBQ ftoe anavxa iv totg vtcIq täv noXsiiav dedTJ-
Xcotccc Xöyoig^ Iva d^ xal tovto ^ot dsdi^^yritai^ dg . • q)QOVQia
ovo, EsßaOtovjcoXCv re xal Ilixvovvta^ xa^elXov ^Po^Latoi
XoOQoriv äxov0avT€g CtQarevfia Oriklaiv ivravd'a diä öitov-
d^g i%siv tovg rä q>QOVQia tavza xa^iijovtag. Diess bezieht
sich auf Goth. IV, 4, p. 473 f.: q)QOVQia d6i(iäii£vot dijo,
UeßaCtonokiv xa xal Ilixovvxa^ , . q)Q0VQäv ivxavd'a 6xQa-
xicoxäv xo ii, aQx^g xaxeöxijaatno . . . XoöQorig . • axQcixsvna
JlsQöciv ivxavd'a Oxikkevv iv öTtoväfj iois xovg xa xa q)QOVQia
52 xavxa xad'i^ovxag . . . anag inal oCPatfiatoi OxQaxiäxai hqo-
liadatv toxvöav, itgoxriQrfiavxag xag xa olxCag ivaTtQrjöav xal
xa xaC%ri ig x6 iSaq>og xadakovxag ig . . TQaTca^ovvxa icökiv
i%(aQTfi6av. Eben diese beiden Castelle wurden dann später
wieder aufgebaut, nach Aedif. 1. 1. Also wüssten wir dass die
Schrift nach dem J. 555 verfasst ist. Aber sie ist auch nach dem
J. 558 geschrieben; denn IV, 9, p. 297 f. ist darin erzählt wie
Justinian den Wiederaufbau der langen Mauern und von Selymbria
habe besorgen lassen, was Theophanes 1; p. 362 Bonn, in die
Zeit von Ostern bis August des J. d. W. 6051=558 n. Chr.
setzt. In dieses Jahr, spätestens den Anfang 559, muss die Ab-
fassungszeit (und Herausgabe) fallen, da das Werk den am 7. Mai
559 erfolgten Einsturz der Sophienkirche noch nicht kennt ^).
Die Absicht Procop's bei der Schrift war wohl, seine dem Kaiser
verdächtig gewordene Loyalität zu beweisen und dadurch die
Muster nie, bei ihm aber zuweilen sehr lästig wird. S. 112: Procop,
der mit Zahlen ebenso freigebig ist als sein Vorbild der Altv^ter Herodot;
vgl. S. 115. 117, wo Beispiele von PrÖ€op*s übertriebenen Zahlenangaben
aufgeführt werden.
^) Niceph. Call. XVII, 10: tertium (opus) Aedificia inscripsit, magni-
fice admodum commemorans quae opera Justinianus construxerit, templa
scilicet, regias, oppida et urbes, pontes atque alia ad publicum usum
spectantia.
2) Dahn, Prok. S. 38.
De aedificüs. 207
drohende Lebeosgefalir zu beseitigen'). Der Inbalt ist nSmiicfa
ein Panegfrikus auf Justinian, der freilieb den schlagendsten
fieneis liefert wie schnierig es theils objecliv uud an sich, tbeils
besonders nie schwer es dem Procop wurde einen solcheo zu
lierern. Er preist den Kaiser wegen seiner Milde, er nennt ibn
(prooem. p. 172) Jtat^if äg ^ittog, aber er führt hiefür Nichts
an als nag er schon Goth. III, 32 erzählt hat, seine Hilde gegen
den Verschwörer Artabanes, deren MoÜve wir nicht kennen; er
rühmt seine Tbatigkeit für die Zusammenstellung der Gesetze,
seine Wirksamkeit für die Vergrösserung des Reiches, und wendet
sich dann- zu dem Punkte den er zum Gegenstände seiner ganzen
Schrift machen will, zu Justinian's Bauten: Saa air^ äya^
olxodonovfiäva äeSTjuiovQyijTai , diess ist das Thema der Schrift.
Er beschreibt zuerst Uuch I die von Justinian in Byzantion und Hes-
sen Umgegend ausgeführten Neubauten and Reparaturen (worunter
z. B. die Sophienkirclie] , sodann tä ^v^ara olgatQ tag ea^tmas
jtEQidßaXe'Pcafiaiav T^g/^g, und zwar fängt er dabei im Osten
au und geht von da mit seiner Aufzählung in der Hicblung von
Süden nach Norden weiter; zuerst das an der persischen Grenze
Gebaute {&. II), dann das in Annenien und an der asiatischen
Küste des schwarzen Meeres Geleistete (B. III); B. IV Europa,
wobei mit Justinian's Vaterland Illyrien begonnen wird, B. V den
ftest von Asien , Ephesus , Bithynien , Galatien , Kappadokien,
Kilikien, endlich B. VI Afrika, Sardinien, Gades u. dg). Aber
wie lasst sich diesen Sachen eine panegyrische Seite abgewinnen!
Procopius gebraucht den Kunstgriff, Alles was unter Justinian's
Regierung aus Staatsmitteln irgendwo gebaut worden ist, der
Theorie des despotischen Systems gemäss, als vom Kaiser selbsl
ToHrührt darzustellen. Er sagt p. 172: ravvv ial rag oixo-
Sofiiag ToiiTOv S^ tov ßaeiXimg ^(itv triov, tag (i^ untdzSv
rp TS ai.ij&£i xal lä fiey^&ei fg tiv ^itta&ev %(f6vQV Tolg
avzag ^eatfiivotg ^vftßaii] Srt Äij ävSpog Ivdg Iqy"' tvy-
%ävEi ovTa, und IV, 1 heisst es: ^vjj^s {leyd&si 6 ßaaiÜEvg B3
') Dahn, Prokop S. 356 ff. macht liiegegen die Zeiteotfernang;
zwischen der Herauegabe der Bella und der AbfaBsntig der Aedif. gel-
tend and Dimmt als Aalaas za letzterer vielmehr einen ,,directen BefeM
JuBtinian's" an, „welchem zn trotzen Frok. nicht den Uut hatte", den
er aber nnr widerstrebend befolgte; „er schrieb das bestellte Lob gegen
seine Ueberzeugnng". Dafür wird (8. 319) besonders Aedif. I, 3 p. 183 '
angerührt (toöio xal avti ßatulet l^tTHtnänt^a ßovlotihm [Ivai).
I
4
208 Der Gescliiohtöclireiber Prokopius.
Ottos td te «AA« 4g elicstv anavxa xal tä ig tag olTioSoniag
ovädv t^ '^isaov l&yov dtaninQccmcck x(fsi00(o. Diese Theorie
ist in der Schrift mit solcher Consequenz durchgeCQhrt uod so
auf die Spitze getrieben dass sie dadurch gleichsam ad absurdum
geführt ist; denn es kann unmöglich einen- ernsthaften Ein-
druck machen wenn I, 1 der Historiker sagt: iirixccvats noXXatg
ßaOiXsvg rs 'lovouv^avög xal ^Av^i^iog 6 (irixavoTCOiog 0vv
rä *l6iSciQ^ ovxfo drj yL^xBo^loiuvriv fqv ixttia^^ütv iv t^
ci6g>aXat dtsTtQal^avro alvat, oder III, 2: ßaoUsvg^IotJ^tivucvdg
iicsvoBi vdSs ' Tov nsQißoiov ixrog tiqv y^v öio(fv^ag d'SfiiJUd
te tavty ivd^siiavog tslxt^fia dxodofiij^atQ u. dgl., wodurch
die kaiserliche Wurde thatsächlich ironisiert wird. Freilich wenn
einmal Justinian durchaus gepriesen sein musste, d. h. wollte,
so war die Wahl gerade dieses Gegenstandes' sehr gläckiich ge-
griffen: man konnte das Geleistete preisen ohne auf die Person
des Urhebers näher einzugehen, ohne seine entschiedenen und
grossen Fehler berühren oder gar bemänteln zu müssen , man
konnte sich in die Wirkung vertiefen ohne nolhweniig der Ur-
sache näher ins Gesicht zu sehen, ja man eröffnet« auch durch
eine rühmende Aufzählung jedem Denkenden die Perspectife auf
jene Fehler. Denn wenn der Kaiser so ungeheurcSumaien yer-
baute, so lag die Frage nahe: wie kam er zu dem nötbigen
Gelde? So zog sich Procop noch leidlich ans der Schlinge in
welcher er entweder seine Ehre oder seihe Existenz zurücklassen
zu müssen schien. Aueh die gßnze Behandlungsweise liefert den
Beweis wie wenig von innerer Betheiligung des Schriftstellers
dabei die Rede sein kann. Das Lob ist so dick aufgetragen dass
es aussieht als fürchtete der Verfasser seine wahre Gesinnung
möchte himlurchblickeii, und als wollte er diese mit immer neuen
Lagen Lobes zudecke und übertäisdien; und dann ist es anderer-
seits doch so kahl itnd kühl, so arm und einförmig, so trivial
und langweilig wie es bei der geringsten Theilnahme des Ver-
fassers nimmermehr hätte seia können. Ewig kehrt dieselbe
Wendung wieder: es ist zu schön, zu gross, zu herrlich, als
dass man es ausdenken und beschreiben könnte, und daneben
die allepschaalsten Bezeichnungen. Das Prooemtum dreht sich
immer im Kreise herum, ohne von der Stelle zu kommen, und
gleich I, 1 heisst es in der Beschreibung der Sophienkirche:
svQog avt^g xal (lijxog ovt<Dg ip initudsi^ an:otet6QV6v-
tat (Sgts Tüxl xj^Qij^Tix^g xai oXwg svQeta ovx und
De aedificiis. Anecdota. 209
tQOJCOv elQiq6exaiy TcdXlsi äh d(ivd'7Jtci d7C06£(ivvv£tai,
ib. 3: rov vedv ovdi dvofiaOtv STCcc^ioig ovllaßetv QaSiov
ovdl SiavoCa 0xiayQaq)ijaai ovds dcatlfid'VQiöai rc5 ^oyoD,
Weiterhin heissl sie vsdg ovx Bvötr^yritog^ und von Tbeodora
wird I, 11 gesagt: a'dtiqg tiiv sviCQiTCSiav loycD rs q)Qd6aixal
ivSdKyiari dTtoiiiiietöd^aL dv^QcijtG) ye ovxi TcavtdTCaOtv d^irj- 54
Xccva ifi/. Dieses geschraubte, aufgeblasene Wesen bei inner-
licher Hohlheit und Luge charakterisiert den Ton der ganzen
Schrift. Wenn man von den Bella her an diese herankommt
merkt man alsbald einen wesentlichen Unterschied. Es weht ein
kalter Wind aus dieser Schrift entgegen. Zwar warm sind auch
die Bella nicht: zu viel Blut ist abgelassen, zu viele Gedanken
sind unterdruckt, zu viele Empfmdungen verhalten, als dass sie
das sein könnten; aber man fühlt doch die Pulse schlagen, und
ein feineres Ohr hört das Herz pochen ; dagegen in dieser Schrift
ist Alles unnatürlich. Alles erzwungen, es sind hölzerne Beine
auf denen einherstolziert wird, es ist Flittergold was hier um-
hängt. Und am Ende wird dem Verfasser selbst die umgenom-
mene Maske lästig, er wirft sie ab, und die Söhrift verläuft in
eine nackte, dürre, trockene Aufzählung, der Panegyrikus wird
zum Register. Das Biographische verschwindet ganz, die Schrift
wird zu einer geographischen und erstrebt und erhält dadurch
allein Werth und Bedeutung. Der Verfasser schliesst daher
auch sein Werk (VI, 7) mit den Worten: o6a fiiv ovv rc5v
^lovöTiviavov olxoöoiAi]fidtc3v [lad'ctv Üöxvöa^ ^ avtozrrjg yeye-
vi][iivog ij tfSv d^safSafisvaiV avxTJxoog *) , o0ri dvva^ig reo Xoyo)
iz'^l^ov, i^sn:i0raiiat dh dg noXXd [i€ xal akla naQrlK^Bv
elnstv i} o%lfp Xad'ovta rj navxd%a6iv Syvoota ^eCvavra,
ßgrs Srco did önovd'^g lötat SiBQ6vvri<Sa0%aC zs anavta xal
Tca> koyGi ivd'stvaL , JCQogs6tai avxä rd diovxa Tcenonfixivai xal
q)iloxdlov xXdog dn:svsyx6tv'^). Von entgegengesetzter Art ist
die Schrift
Anecdota (oder historia arcana). Diese Benennung be-
stätigt Suidas, indem er von Procop sagt: iyQa^s xal bxbqov
ßißXiov, xd xaXov(iBva ^Avixdoxa xäv avxov (Justinian's) ngd-
^) Vgl, II, 4, p. 221: onsQ fiol xar* «Qxdg dya(iivw xal töiv inie
%oiq{iav dvanvv&avoykivao . . dnrjyyfXXov tivsg. Bei Dingen weich-
weit über seine Zeit hinauslagen beruft er sich III, 1. IV, 1 auf of
tmv t^xoQicov dvayQail>dfi€VOt td dgxaioxccta,
*) Vgl. meine Römische Literatur- Gesch. 33, 6 E.
Teuf fei, Studien. 14
210 Der GeBchichtschreiber Prokopius,
^scav^ dg slvcci diig>6TaQa tä ßißkia ivvia. tb ßißXCov 77po-
xoxiav rö xaiovfievov ^Avixdora ilfoyovs xccl xfoiiciSiag
7ov6tiviavav rov ßacikdmg negiixai, xccl r^g a'ötov yvvccixög
&BodciQag^ dkkä (if^v xal avtov BsliOagiov xal x'^g fanev^g^
airov. Diess ist die einzige beslimaite und durchaus richlige
55 und wirkliche Kennlniss^) beweisende Nachricht welche wir aus
dem Alterlhume selbst über dieses Werk haben. Denn was Niceph.
Call. XVII, 10 sagt (quartum opus retractallo est orationum
quas apud JusUnianum laudibus eum vehens habuit quasi quae-
dam palinodla seu recantatio minus rede ab eo diciorum) verräth
oflenbare Unkenntniss und kann nur auf Hörensagen und Miss-
verstandniss^) beruhen. Es scheint dass Procop die Schrift ver-
borgen hielt so lange er lebte ^j, und nach seinem Tode, wenn
dieser vor dem des Juslinian erfolgte, oder auch unter Justinian's
Enkd Justin, mochte Niemand darauf hinweisen oder von ihrem Vor-
handensein wissen. Erst der römische Bibliothekar Nico!. Alemannus
entdeckte zwei Handschriften davon in der Vaticana und gab sie
(Lugd. fi. 1623) heraus mit einem sehr gelehrten und, so weit
nicht das Interesse der römischen Curie ins Spiel kommt, unpar-
teiischen Commentar, an welchen sich im J. 1654 (Ileimstädt) der
noch ausfuhriichere von Job. Eichel anreihte, der sich zur Aufgabe
machte Procop's Angaben zu widerlegen, was er tlieilweise mit
Scharfsinn und Gelehrsamkeit , immer aber mit Leidenscliaft , durch-
<) Suidas führt auch viele Stellen aus den Aneed. an, worunter
einige die sich in unsern Handschriften davon nicht finden, wie: Xifxv
y€C(f ig ccixiiv "^ GBoSoiga TjygiaivsTO ttccl iasaiJQBt und fiT^xi^ 91 rSv
Ttvoff iv 9^vfi4lfj nsTtOQVBviiivaiv. Vgl. Orelirs Ausgabe p. 436 — 442.
Doch gilt diese Kenntniss keineswegs nothwendig von der Person des
Suidas, sondern nur seiner Quelle.
') Nicephorus hat den Ausdruck iloyot, welcher auch von Geschichts-
werken gebraucht wird und auf die Schrift De aedific. sich beziehen
kann, nicht verstanden.
^) Dass aber die VeröflFentlichung ili seinem Willen lag geht hervor
z. B. aus c. 15, p. 94: tlg rcov nargiKiaiV J. oinsQ iy&i ro evo(ia i^s-
7ei9T€i(isvog mg fj^tista intuvrjüofiui , (og fii^ dniguvTOV triv ig avTov
vßQiv nonqaaiLai, Vgl. die Vorrede: of vvv avd'gatnoi Sai^fioveütatoi
ftd^xv^sg tmv nQa^Emv ovvsg a^ioxQSco nagaieofinoi ig tov ^nsira
XQOVOV t^g vnhg uvz^v nioxstog ieovrai. Denn beglaubigen können
sie doch nur eine Schrift die sie kennen. Da jedoch Agathias durch-
aus Nichts von der Schrift weiss, so scheint es dass sie auch nach
dem Tode Procop^s noch geheim gehalten wurde.
Anecdota. 211
(ührtf^). Audi aus der Zahl der JurUten erlioben sich bald warme
Vertlieldiger Justinian's, wArunLer wir als älteste nennen : Thomas
Biviua, derensio Justiniani, Frankr. 1628. 8. Gabr. Trivorius,
obrer vaUon es apologelicae adversus quosdam ICtos et Procopii
Anecdota, Paria 1631. 4. Prokop's Sclinft ist nSmIicb wirklich eine
Anklageschriß ^egen Jusiinian , wenn auch nicht mit bewu»ster
Absicht, aber doch ihatsächlich. Sie schliesst slcli unmiltelbar
an die Bücher De bellis an, so dass sie Sufdas mit Recht als
neuiries fiucli zahlt. Procop selbst sagt zu Anfang der Schrift:
Sea fiiv ovv'PfapLtdcav t^ yivBi Svtc noXdftote ^X9* Sbvqo ^e
^vtnjvdx^ yEvia^ai x'^i (loi SeSiflyffzai . . . tu Si dv&ivSs
01ÜX Iti fUM Tp6xip tm eiffrjfiiv^ (wie die' Bella, nach Gleidi-
heit des Ortes und der Zeit) ^vyxetaetat, ixel ivtav&a yty(fä~
itettti «ävra hiöa« Sr^ tbtvxijxe y£vits&tti atcvraxo&i r^g
'Pajutiav d^xvs- Aurb bezieiil er steh auf die Hella immer
mit dien Awdruck: iv tolg IfmQoa&Bv ^ö/oig'). Zu diesen bilden
die Anecdota die Ergänzung, einmal sofern sie cntiialten was in
Jenen Art UmstSnde wegen gar nicht gesagt werden konnte, wenn
nicht der Verfasser &avdt^ oCxrCatet änolaXivat wollte (prooem.
p. 10), sodann sofern sie das in den Bella aus Furcht ungenau
Angegebene berichtigen'), das nicht ganz Gesagte vervollstän*
digen*), das dort niclit Begründete erklfiren; denn nolläv räv
iv tots iii«QOO&£V Xöyois e^pjjjmVov äxoxtfVii'uCd'M tag ahCas
^Vttyitüa&^v''). Und so fasM er selbst seine Aufgabe in die
Worte zusammen: rä zÖtb liag ä^ijrcc (iBivavza xal rraf
ilixQoaf^BV SeStii.ap.ivav ivrav9ä pot toü Xöyov tag ahiag
') Die SeparatRnBgnbe von J. C. Orelli (Lips. 1S2T. 8.) ist ein
tMbeqaemer Abdrar.k von A-lemann's Änigabe, dessen kritische nnd
eariiliehe Anmerkungen Bereiche rangen erfahren hsben, aber keine
weMnlliohen. Der Text dag^egen ist dnrch die NuditSten in c. 9 rorroll-
BtSndigt, welcfte Alamaon BUllHchweig«nd anagelaBBeu hatte,
*) Prooem. p. 10. c. 11,73. 13, p. 86. 16 in. 18, p. 108. 111. 20, IIT.
') Vg], Vand. II, ai: rovTOvg liyovaitovt ßafßäfovs vä Soit^^
iv T^ xälti ytvit9ai ontog Sdfyiov iveSgivaavxfs »rcivataiv, mit
Aiieod, ö, p. 41; «osovtov fioi xaviv ivxi9/vai lä läym ittjoti, m$
ovti v-ä JSolFQä o[ ävS^rt ovtoi nopä Si^tov t]l&D*> oüci iivü OMq-
ifuv « £ifytat vKo^Cat «e^ avxovt elxtf.
*) Vgl. c. 2, 21 ! Toweo' fioi t{v üh ataititiipai.
') PftMiem. p. 10, vgl. c. 16, p. 96: iv rots iynatffOie löyotg, Sva
4iJ fuu Tmv ntxtay^vani inxvttovg iroitt'ffd'at läf älriS'cias Sin ßaat-
X{^Dt aSvvaia tpi. 17, p. 105: cmv aittäv, ojttQ vifttitov, ivxav9ä
fHu ftäliaxa x&t aXTfitaxäxai avaytaiov flnstv.
212 Der Geschichtschreiber Prokopius.
Cri^ijvav äsijösi (ib.). Alle durch die Zeitverhältnisse zurück-
gedrängte Bitterkeit, alle verhaltene Wahrheit legt er hier nieder;
die geheimen Fäden der Ereignisse legt er hios und enthüllt die
inneren Zusammenhänge. Widerspräche zwischen den zweierlei
Schriften wurden dem Sinne Procop's gemäss zu Gunsten' der
Anecdota zu entscheiden sein. Aber solche finden kaum Statt;
denn es ist falsch was Eichel c. 13 über die Anecdola sagt: si
contra res ipsas quas ^AvaKÖora habent et reliqui Procopiani Codices
attendas, scilicet conslantem ordinem quem in reliquis servat, contra
confusionem et indigestam molem huius scripli; praeterea gra-
vitatem et virtutem scriptoris quae in aliis elucet , levitatem econtra
et malitiam quae ubique hie pellucet; candorem denique et liber-
tatem qua in reliquis usus est, virulentiam econtra et prope-
modum diabolicam conviciandi et maledicendi libidinem in hisce
perpendes: haud facile adduci poteris ut credas haec scripta
57 toto coelo in omnibus a se distantia ab uno eodemque homine
fuisse profecta, nisi dixeris cum illa quidem scripsisse cum sanae
adhuc mentis, haec vero cum insania et furore erat correptus^).
<) Ebenso ist die unverhohlene Abneigung Schlosser^s gegen Procop
und die Anecd. insbesondere weder gerecht noch «von Schi, selbst moti-
viert. Er sagt (Universnihist. Uebers. III, 4, S. 96): „Dass Justinian
von einem und demselben Mann in drei besonderen Werken über alle
Regenten erhoben und in einem vierten Buche nicht blos wegen seiner
Sitten und seines Privatcharakters sondern auch in Rücksicht seiner
vorher so laut gepriesenen Kenntnisse und seiner öffentlichen Thätigkeit
in einem unwürdigen Tone herabgesetzt wird, gehört zu den traurigsten
Eigenthümlichkeiten jener Zeit. Just, hatte zwar allerdings Fehler, er
war schwach gegen seine Gemahlin, die ihn irre leitete; allein weder
er noch Theodora können so scheuslich gewesen sein als sie Procop in
seiner sog. geheimen Geschichte darstellt. Die grossen Dinge die unter
Justinian^s Regierung geschehen sind widersprechen den Uebertreibungen
des Procopins, der ausser Acht lässt dass man von einem orientalischen
Despoten und seinem Hofe weder Keuschheit noch Tugenden freier
Seelen erwarten oder fordern darf.** Diese Worte enthalten beinahe
ebenso viele Unrichtigkeiten als Behauptungen. Weder sind die Bücher
vom persischen, vandalischen und gothischen Kriege drei besondere
Bücher (sondern eines oder acht; auch ist die Schrift De aedificiis ver-
gessen), noch hat Procop darin den Justinian über alle Regenten er-
hoben; ebenso wenig sind es dessen Sitten welche in den Anecd. „herab-
gesetzt'* werden (vielmehr berichtet Pr. gerade die ausserordentliche
Nüchternheit derselben), und nicht dessen Privatcharakter als solchen,
sondern sofern er für die Unterthanen verderblich wirkte, tadelt er.
Femer welche Kenntnisse Jnstinian^s hatte Procop vorher so laut ge-
Aoecdota. 213
Das Wahre hat vielmehr Alemann gelrofTen, wenn er in der Praef. 6S
sagt: in tarn prolixa hUtoria (de Bellis) adeo sobrie ne dlcam
ieiuiie Ju&liniani laudes Procopius deiibavit, contra vero lam copiosa
sparsit semina vituperationum , ul neque Ibi per adulationem,
neque hie (Anecd.) per calumniam egisse posteritall videri possit').
Alle bedeutenderen Anklagepunkte in dieser Schrift werden durch
das grössere Geschichtswerk Procop's, zum Tbeil sogar durch
De aedif. besLätigl; namentlich der wahnwitzige Bau Ins Meer
hinein, an dem die Anecd. so vielfachen Anstoss nehmen, ist
De aedif. ausführlich beschrieben, und das leichtsinnige Veran-
lassen, nachlässige Führen und schmähliche Beenden vieler Kriege,
die Wahl schlechter Anffihrer, die Sendung habgieriger Logolhelen,
und vieles andere Derartige, ist offen genug in den Büchern
De bellis bemerklich gemacht. Auch andere Schriftsteller, wie
Evagrius (IV, 30. 32. V, 3), stimmen in den wesentlichsten
Beschuldigungen gegen Juslinian, wie Habsucht und Verschwen-
priesen? Etwa seine architektonischen? Aber das geschieht in der
Schrift De aedif. , und diese kennt Suhl, nicht; aber andere Kenntnisse,
die er laut gepriesen hätte, sind uns nicht bekannt. Ebenso ; wo hat er
die öffentliche Thätigkelt Juatinian's laut gaprieacn? Die Bücher De
bellis enthalten blutwenig von Justinian's eigener öffentlicher Thätig-
keit, sie laut Preisendes aber nichts. Und worin besteht denn der
unwürdige Ton der Anecdota? Und was kann ans dieser doppellen
Bearbeitung für die ganze Zeit Anderes gefolgert werden, als daas ihr
der Mnnd geknebelt war, dass man die Wahrheit nicht sagen konnte?
Weiter ist es nnmöglicb alle Schuld auf Theodora zu wälzen, da Jnstinian
schon ehe er sie kannte (unter Justin I.) und in den 17 Jahren seines
Wittwerlebens ganz ebenso handelte und regierte wie zu Theodora's
Lebzeiten. Dass Procop's Angaben Uehertreibungen nnd Jnstiman und
Theodora nicht so „schonslicli" gewesen seien wäre erst lU beweieeu;
denn mit den grossen Dingen die unter Justinian gesobehen sein tollen ist
es noch nicht bewiesen. Denn was beweist das Corpus Juris gegen die
Behauptung von Justinian's Habgier? Was beweisen Bellsar's Siege
gegen die Angabe von Justinian's wahnwitziger Verschwendung? Auch
dtirfte die Bezeichnung als orientalischer Despot in keiner Weise für
Justinian etwas Rechtfertigendes oder Entschuldigendes eothalten. End-
lich enthalten die Anecdota zum kleinsten Theile Anklagen gegen Jnstinian
und seinen Hof wegen Mangels au „Keuschheit und Tugenden freier
Seelen"; die Unkeuschheit der Theodora fallt nur in ihr früheres Leben,
und die eigentlichen Anklageputtkte sind ganz andere.
') Zur Veranschaulichnag des Verhältnisses zwischen beiden Werken
dient die Vergleicbung der zwei Stellen über Justiniaa. Vand. 1, 9:
i* iniyo^aai is öföc Mut noxfoe lä fitßovltvitiva ixirelftitu, und
Anecd. 8 (vgl. 13 eztr.): tjv iaivo^aai xu qiavKa *al inixttivai ögv;.
214 Der Geschicbtschreiber Prokopius.
(lung, GewalUhäligkeit, Beganstigaog der Blauen u. s. f., mit
den Anecd. uberein, besCätigen sogar ganz einzelne Züge, wie
z, B. die Erzählung c. 16. p. 97 über das Schicksal des Priscos
von Theophanes, die c. 17, p. 100 von der HiurichUieg emes
pflichttreuen Prafeclen ?on Evagrius iV, 32 gleichfalls mitgetheilt
wird, mit Abweichungen die ?on der Art sind dass sie nur die
Unabhängigkeit der Erzähler von einander zu beweisen vermögen ;
und über das widerrechtliche Einziehen angeblicher Erbschaften
gibt Agathias V, 4 noch detailliertere Nachrichten als Procop
Anecd. 12, nur dass jener auf das Werkzeug Anatolius die Schuld
abladet, aber auch hinzufügt: ^0av nal aXkov ytXeiöxoi avd
ri^v nokiv itagaTclijoioi, (läkkov (ihv ovv xal adixdxsQOt;
Corippus de laud. Just. II, 260 ff. 367 ff. bestätigt diess Alles
in s^etnem ganzen Umfange. Da Proc. sich nicht in vagen Be-
schuldigungen ergeht , sondern Namen nennt und , wo es die Wahr-
heil erfordert, auch Anerkennung zollt ^), und überdiess die beste
59 Gelegenheil hatte auch Geheimnisse zu erfahren, so ist kein Grund
vorhanden seine Wahrhaftigkeit in Zweifel zu ziehen. Er spricht
(prooem. p. 11) die Besorgniss aus, der Nachwelt möchte das
was er über Justinian's und Theodora's Leben erzähle fiiJTS
jciCtä (ifjte eixora erscheinen : SeSoixa fii^ xal (iv^oXoyiag axoi-
öofiai dol^av xdv totg tQay^dodiSaaxdkois tetd^ofim; aber
er beruft sich auf das Zeugniss seiner Zeitgenossen und darauf
dass er selbst gesehen was er erzähle ^). Indessen scheint es
doch als habe er MÜe Schattenseite der Handlungen zu ausschliess-
lich hervorgehoben, die ganze Schilderung zu pessimistisch ge-
halten^) und oft eine zu kurzdärmige Kritik geübt. Besonders
') Z. B. c. 10 von der Schönheit der Theodora. Sehr für die Wahr-
haftigkeit und ernste Gesinnung der Anecd. spricht auch diess dass von
dem angeblich unreinen Verhältnisse in welchem Jnstinian nach der
Behauptung der Leute su dem Eunuchen Narses gestanden haben soll
(Theophanes chronogr. p. 376 Bonn: NtXQifijs • • o dyanfizog xov ßaai-
Xitog 'lovtftiviavov, slg ov iloidoQSito) in ihnen nichts erwähnt ist.
Freilich ist aber weder sicher ob hier nicht vielmehr die yulg/lovctivov
(von dem wollüstigen Justin II.) richtig ist, noch auch darum die Iden-
tität des hier gemeinten Narses mit dem Feldherm.
') Ebenso c. 8, p. 56 f.: ygdtpm iv p^oi itpinia^ai öwazov yiyovBv,
c. 12, p. 81 bemerkt er ausnahmsweise: xccvtcc ovh ccvrog ^secifd^BVog
yifdtpcD^ diXa t&v zotB d'edaacd'ai laxvgiSoftivmp dnovcag.
^) Z. B. wenn er alle Ersparnisse als Beraubung der durch die bis-
herige Einrichtung Begünstigten darstellt, vgl. c. 24.
Anecdota. 215
spiessburgerlich zeigl er sich darin dass er (c. 8» p. 58) alle
Henschenleben die unter Justinian's Regierung gewaltsam zu Grunde
gegangen sind zusammenzählt und die Summe als einen Beweis
von der Mordlust und Unmenschlichkeit jenes Kaisers anfuhrt»
da doch die Umstände ebenso viel dazu beitrugen als Justlnian's
malitiöse Indolenz. Auch dass dieser gleich am zehnten Tage
seiner Regierung den Ersten unter den Hofeunuchen, Amantius,
wegen einer herausfordernden Äusserung gegen den Patriarchen
von Byzantion hinrichten Hess weiss Procop (c. 6 extr.) unter keinen
andern Gesichtspunkt als den der äicavQ'QmitCa zu stellen, da
es doch, wenn diess der* Grund war, gleichsam ein Programm
über des neuen Kaisers Stellung zur Kirche gewesen wäre; aber
die übrigen Schriftsteller geben noch ganz andere Ursachen jener
Massregel an, namentlich setzt Evagrius iV, 2 sie ausdrücklich
an den Anfang von Justin 's Regierung uiid nennt »als Motiv
dass Amanlius einen Andern als Justin (Theokrit) auf den Thron
setzen wollte. Eine offenbare Uebertreibung ist die Beschuldigung
(c. 6, p. 45) dass Justinian Alles, Gesetze und Verhältnisse [tä
ev xad'SOtcSra) , verschlimmert habe, und die Charakteristik (8,
p. 53): Justinian war über alle Maassen dumm, einem trägen
Esel gleich, den man nur dadurch von der Stelle bringen kann
dass man ihn am Zaume ergreift; oder ib. p. 57: Jtäöav ^ q>v0is
iöoxsL xaxotQOTtiav ag)€koiievfi topg aXXovg ävd'Qcixovs iv
rij tovds T(yv dvSQog xarad'e0d'cci tfjvx'g, oder die Vergleichung
mit Domitian Ib. p. 55. Es könnte zwar scheinen als hätte Procop
in dieser Schrift das nämliche Princip durchgeführt wie in den
Aedif. , nur hier nach der entgegengesetzten Seite, und hätte
alles Schlechte was unter Justinian's Regierung durch die Beamten
geschah auf Rechnung des Kaisers gesetzt. Aber diess wird durch eo
die Schrift selbst widerlegt, in welcher er z. B. (14, p. 90 f.)
dem Kilikier Leo den ihn treffenden Antheil ausdrucklich zuweist
und c. 30, p. 165 als eine Hauptelgenlhumlichkeit der Regierung
des Justinian eben diess anfährt dass unter ihm die Verwaltungs-
behörden und Gerichte die Selbständigkeit welche sie früher bis
auf einen gewissen Grad besessen hatten eing^üsst haben , indem
man für jeden einzelnep Fall die Entscheidung im Palaste zu
holen hatte, dass der Kaiser und seine Gemahlin in alle Einzel-
heiten persönlich eingriffen und Mitschuldige der Verbrechen waren
welche die höheren Beamten begiengen. — Nachdem der Anfang
des Prooem. die Anordnung in den Bella als unthunlich bezeichnet
216 Der Ge&chichtschreiber Prokopius.
scheint der Scbluss dennoch eine planmässige Anlage zu ver-
sprechen; es heisst hier: ngdircc ^hv oöa BshöaQtoi (lox^Qci
et^yaotat^) sq^v SQXO^iai^ vörsgov ds xal o0a 'lovörwi^ava
xal ©eoSciQcc (lOx^rjQä slgyaCtai eya StiXciöca. Aber in Bezug
auf die Letzteren Tveiss er keine rechte Ordnung einzuhalten:
Anfangs befolgt er eine Art von chronologischer, dann gar keine,
dann wieder ein Versuch mit einer sachlichen: was Justinian
den Patriciern zu Leide gethan hat, was den Grundbesitzern, was
dem Heere u. s. f. ; aber sie ist an sich ungenügend und er fängt
sie uberdiess zu spät an und führt sie nicht durch, sondern begeht
Abschweifungen und Wiederholungen^) in solcher Menge dass es
scheint als hätte er zu verschiedenen Zeiten niedergeschrieben
was ihm gerade die Erinnerung darbot Daneben spricht er immer
von Neuem den Vorsatz aus sich kurz zu fassen, z. B. c. 14 in.:
(0VJC6Q ftot oXiycov ini^vriO^'ivxi (SioTcfi Sotdov tä komä^ ag
fiij iiot 6 loyog äitiQavtog strj ; 15 extr. : oliycov iTCigivijö^sig^
(Dg fii) atskBvtrixa novalv do§a&/it; 27 in.: okCya ii,ol äzta
ix Ttdvtcovä jtoxQij(Ssi' bItisIv ; 28 extr. : iQya xal aXXa roiaika
^lovöttvcavov ävccQLd'na H^STtiOräiisvog ovx av tv ivd'sirjv, eitel
TtBQccg Soteov tp Ao'yo}, djtoxQij(fet yaQ xal d^ avtcSv to tov
avd'Q(d7tov iqd^og örnifjvai^ und so noch oft, welche künst-
lerische Unvollkommenheit vielleicht Folge davon ist dass der Ver-
fasser seinem Werke die letzte Feile nicht mehr geben konnte.
Zwar dass er die Schrift noch unter der Regierung Justinian's
61 geschrieben hat geht im Allgemeinen^) hervor theils aus c. 25,
p. 142 (noch jetzt habe Just, das Monopol des Seidehandels in
Händen), theils aus dem Schlüsse, wo von dem Tode Justinian's
als etwas Zukünftigem geredet wird'*); aber es war doch im letzten
Theile dieser Regierung , genauer in dem zweiunddreissigsten Jahre
derselben (J. 558 f.). Vgl. c. 24, p. 137: ß| otov dviqQ oSe dt^o-
TcijiSaxo xiiv nokixeCav^ xolovxo oväiv ovxe SieTtgäl^axo ovxs
^) Vgl. c. 5, p. 41 ta '^fiaQtrjfiivtt,
'] Diese sind besonders lästig, und er macht sie oft ganz nahe neben
einander, vgl. 13, p. 87. 25, p. 142.
^) Pröoem. p. 10;^v;|r oroi' rs 17 v nsQiovtcov ^ti tmv ocvvcc slgyaü-
fiiviov otm dsi avciyQoigisad'ai tgonm. Ein solches Hinderniss war be-
sonders Theodora, vgl. 16, p. 36. Indessen hätte z. B. auch das was er
c. 5, p. 41 über Sergius sagt, wenn er es schon im bell. Vand. gesagt
hätte, wie eine Denunciation geklungen.
^) c. 30 extr., p. 166: onrjviTia *[ovisuviccv6g dnil&tj tov ßCov . .
oaoi tTivindSe nsgiovrsg tv%toai xiXri^'hg staovtai.
Aaecdota. 217
ifi^Xltjas, xaiJCEQ %q6vov Svo xa\ zQiäxovra iviavröv
XQtßivTOs ^^^^ «nd am Schlüsse des Capitels: ^v xis ti]1' %vfi-
«esTmxvtav avroCg ivd-^vSe ^fiiav ig itrj Svo xal rpiä-
xovta Siapi^iiotTo , evQ^Oet t6 iiirpov. Und da in diesem
Jahre ') {559] Belisar gegen die Hunnen vor den Thoren von Byzantlon
geschickt wurde, Procop aber in der Geschichte lielisar's^) davon
Nichts erwähnt, sowenig als den Einsturz eines Theils der Sophien-
kirche (7. Mai 559)*), so wird die Schrifl noch *or diesen Ereig-
nissen abgescblosscn worden sein. Ohnehin ßelisar's Ungnade
{Ende i. 562) und Wiedereinsetzung (J. 563] hätte Procop, wenn er
sie noch erlebt hätte, nicht unerwähnt lassen können. Hat man
also das Jahr 558 — 559 als solches worin Procop noch an dieser
Schrin schrie))^), so wird dadurch die Annahme bestätigt dass
er dieselbe nicht in Einem Zuge niedergeschrieben habe, da das
Prooemium den Schein annimmt als schlösse es sich auch zeit-
lich^] unmittelbar, an die Bella an, deren achtes Buch J. 554 fertig
wurde (s, oben S. 198). Auch folgt aus jenem Datum dass die von
Theophanes (T. I, p. 366) und Haiala aus dem November des J. 562
n. Chr. bericlitele Dürre und Wassernolh {dßQoxia] nicht identisch ist
mit der Anecd. 26 erwähnten. Wurde aber die Geheimgeschichte im
J. 558 {oder 559] fertig gebracht? Dagegen scheinen zu sprechen
die oftmaligen Verweisungen auf spatere Erörterungen über Christ*
licfaes, sofern sie auf die Anecd. zu beziehen sind^). Die deutlichste
Verweisung dieser Art ist Goth. IV, 25: in Ulpiana entstand eine
Volksbewegung über dogmatische Heinungsverschiedenheiten, über
die Fragen avitsQ evexa 6ipiaiv a'&zolq ot X^tattavol Sim-
(läxovTaif '^niff fux iv }.6Y0iq toig iitlQ tovretv y^-
<) AgBthias V, 15. Theophanes T. I, p. 361 f.
•) Anecd. c. 1 — 5.
■) Dahn, Frokop S. 464 f.
*) Kicht aber sie vollendete. Damit erledigen sieb die von F. Dahn
S. 365, A. erhobeaen Einwendungen. Uebrigens eutliält An. 18, p. 226 le.
(«S fiM (v tote fftnflooSt* Köyott yiyitaitxai) eine Verneisnng auf
Aed. II, T (p. 228 S.); sonaeh ist diese Slelle nach dem J. 658 ge-
■chrieben (Dahn S. 450 f.).
*} Denn Sau . . ttj^i Bev^o iwtivif9ii ftvia9at zu Anfang der
Anecd. (s. oben S. 211] hann nicht, wie Dahn, Prokop 8. 451 A. 2, «ich
vorstellt, beissen: bis zu diesem Punkte meiner ge schieb tlicben Dar-
stellung. Und dass die Anecdota „offenbar rasch hingewoifen" seien
wäre erst zu. beweisen; für das Gegentheil spricht der Sfanltehe Fall bei
Cicero (Hörn. Liter.-Qesab. 175, 5).
") Welches Letztere Dahn S, 52. 456 ff. bestreitet.
218 Der Geschichtschreiber Prokopius.
YQdi)&ßai, Scheint damit auf eine eigene Schrift hierüber hin-
gewiesen, so heisst es dagegen Anecd. 10, p. 70: wie Jusliuian die
62 verschiedenen christlichen Parteien gegen einander gehetzt habe,
keki^Btai not ov Ttokk^ vdrsQOVy und 11, p. 76: ta dfL(pl
totg XQi0tuzvots slgyaöfisva iv totg OTtiöd'iv fiov köyotg
kskil^erai^ ebenso 26, p. 145: rä dfig)l totg Ibqbvöiv ctvt^
nBXQaypiiva iv totg Sjua^sv koyoig kekdl^ßtat^), endlich
27, p. 151, Theodora sei in dogmatischer Beziehung von Justinian
abgewichen, Sg fiQv iv totg onv0^6v koyoig ei^ijösraL^).
Nach dem Sprachgebrauch überhaupt und dem des Procop ins-
besondere kann mit on, koy. nur auf einen späteren Theii des-
selben Werkes, also hier der Anecd., verwiesen sein, und damit
ist die Stelle Goth. IV, 25 insofern nicht unvereinbar als Procop
natürlich in dem für das grosse Publikum bestimmten Werke
die nähere BeschafTenbeit und den Inhalt der Schrift in welcher
er diess abhandeln wolle nicht genauer angeben konnte. Also
Procop wollte in einem besondern Theile der Anecd. auch Justinian's
Verhältniss zur christlichen Kirche näher erörtern ; diess wäre aller-
dings eine wesentliche und fast unerlässliche Ergänzung der Bücher
De bellis gewesen, und wir hätten daraus unerwartete Aufschlüsse
über das Ineinandergreifen der Ereignisse bekommen müssen.
Nun aber ist dieser Tbeil uns nicht erhalten; wie kommt diess?
Hat ihn die hierarchische Censur unterdrückt, wie so manche
andere Schrift aus dem Alterthura? Es ist nicht glaublich; denn
weder bei Suidas, der die Anecd. kannte, noch sonst ist eine Spur
dass etwas Derartiges von Procop jemals existiert habe. Es ist
daher wohl anzunehmen dass Procop niemals zur Ausführung
kam, dass er darüber starb oder sonst daran gehindert wurde«
Wären also die Anecdota unvollendet? Ja und Nein. Sie sind
vollendet, sofern sie — abgesehen von jenen Verweisungen —
ein in sich abgeschlossenes Ganzes bilden, in der Hindeutung
auf Justinian's Tod ein passendes Ende besitzen und vielleicht^)
') Die beiden letztem Verweisungen sieht Dahn 8. 458 als (durdi
c. 17 u. 27) erfüllt an, emähnt aber als nicht erfüllte die c. 17, p. 202 Is.
') Das handschriftliche stfffixcci festzuhalten und iv totg onta^Bv
loyoig zu streichen (Dahn, Prokop Q. 457 f.) ist unmöglich, da die Ver-
weisung auf c 10, wenigstens hinsichtlich der Wirren in Alezandria,
nicht zutrifft.
') Dean es ist gar nicht unmöglich nsgag Sotiov t^ Idya auch
in einem beschränkteren Sinne zu fassen: um die Erörterung dieses (spe-
ciellen) Gegenstandes, gleichsam um dieses Capitel abzuschliessen und
Anecdota. 219
in dem Schlüsse von c. 28 eine Hinweisuog auf diesen Abschluss.
Sie sind es aber aucb nicht» sorero jene Verweisungen einen
zweiten Theii erwarten lassen, mit besonderer Bestimmtheit die
letzte derselben , die in c. 27. Denn wenn hier auf eine spätere
Fortsetzung verwiesen wird, so wäre es doch gar zu vergesslich
wenn gleich im folgenden Capitel diess wieder eludiert wurde durch 63
Ankündigung des Abschlusses des Werkes. Auch i^t was gegen-
wärtig den Schluss bildet zwar für eine solche Stellung ganz
geeignet, aber doch nicht von der Art dass es die Hinzufugung
von Weiterem ausschlösse. Uebrigens ist nicht zu vergessen dass
unsere Textesconstitution der Anecd. auf einer sehr kleinen Anzahl
von Handschriften beruht*), dass auch diese von ungleicher Voll-
ständigkeit sind, dass namentlich der ältere der beiden vaticanischen
Codd., .welcher dem jüngeren als Quelle gedient hat, den ab-
gerundeten Schluss des jüngeren nicht hat, so dass ganz wohl
ursprünglich dieser Schluss entweder gar nicht oder wenigstens
noch nicht an dieser Stelle gestanden haben könnte^ dass endlich
Suidas zwei Stellen aus den Anecd. anfährt welche in unserem
Texte nicht zu ßnden sind ^). Nimmt man diess Alles zusammen,
so muss man die Möglichkeit offen lassen dass ein etwaiger späterer
Fund ^) uns noch überraschende Bereicherungen der Anecdota
und der Geschichte verschaffe.
lieber die Echtheit der Anecdota hätte, wenn man immer
der Gesetze der Kritik sich bewusst gewesen wäre , nicht leicht ein
Zweifel entstehen können. Wer anders als Procop selbst wäre
im Stande gewesen die Schrift so ins Einzelnste hinein dem grös-
seren Werke anzupassen, zu sagen: hier habe ich diess ausgelassen,
zu einem neuen überzugehen. Ja diese Erklärung wird beinahe zur
Nothwendigkeit durch das unmittelbar vorher gegebene Versprechen
einer Fortsetzung (c. 27, p. 151).
') Die beiden von Alemann benützten vaticanischen, ausserdem eine
des Kanzlers Seguier, und eine Mailänder, welche Maltretus verglichen hat.
^) Vgl. oben S. 210, A. 1. Sie gehören in den arg zerrütteten An-
fang der Anecd.
^) Man weiss noch von zwei Handschriften die bis vor wenigen
Jahrhunderten existiert haben, nun aber verschollen sind: 1) eine des
Joh. Lascaris, von Constantinopel an den mediceischen Hof gebracht,
von wo sie Katharina von Medicis nach Frankreich mitgenommen
haben soll; 2) eine des Johannes Vincentius Pinellus, die bei Neapel
im Schiffbruch verloren gegangen sein soll, nachdem bereits Petrus
Pithöus und Guido Pancirolus Einiges daraus ezcerpiert hatten. S. Ale-
mann's Praef.
220 Der Geschichtschreiber Prokopius.
dort war jenes anders, und dieses Ercigniss hatte diese Grunde?^)
Ausserdem ist in beiden Werken ganz dieselbe Weltanschauung,
derselbe religiös - fatalistische Pragmatismus, die nämliche Ver-
knüpfung von Schuld und Strafe^), derselbe Aberglauben^); sodann
ganz dieselbe Darstellung, die nämlichen Wendungen^), dieselbe
Jagd nach Gemeinplätzen^), dieselben Lieblingsausdrucke ^) , der-
selbe Stil, nui* etwas nachlässiger^). Zu dem hin haben wir das
64 ausdruckliche Zeugniss des Suidas, beziehungsweise seiner Quelle.
Nur unkritische, phantastische, ihre subjective Meinung oder
Neigung allen objectiven Zeugnissen entgegensetzende Kritiker,
wie Fr. Guyet, konnten daher die Echtheit bestreiten. Besonders
hartnäckig und eigensinnig zeigten sich auch hier die früheren
Juristen. Ihr theurer Justinian , der Vater des herrlichen Corpus
Juris und damit indirect auch so vieler herrlichen Gommentare und
Abhandlungen, musste Recht haben, und Procop war ein Lugner
und Verleumder. Den gründlichsten Beweisführungen Alemann's
zu Gunsten Procop*s setzte z. B. ein Rupert^) den Machtspruch
seines Juristen -Herzens entgegen: Procopii auctoritas apud me
.quidem prorsus eviluit, quidquid tandem moliatur eruditissimus
interpres^). Heutzutage aber wird die Echtheit kaum mehr einem
ernsthaften Zweifel unterliegen^^).
*) Vgl. Dahn, Prokop S. 344 ff.
2) Aus den Anecd. vgl. p. 29. 35 f. 42. 68 f. Eine Reflexion dieser Art
steht Anecd. 4 extr. fast mit denselben Worten wie Goth. IV, 12 extr.
«) Vgl. Anecd. c. 12. 19.
^) aXla Tccvta fi'^v äg nri iiiäarq) tpilov tccvviu doxf^TO, c. 4 extr.
c. 10, p. 69. Vgl. oben S. 205.
5) Z. B. c. 7.
^) wie OQQwdsiv, avccx^f'^^t^f'Vi nXovzov fiiycc XQVl'''^ ^' ^*
'') Vgl. die Nachweisungen von P. Dahn, Prokop S. 416 — 447.
^) Chr. Ad. Rupertus in observationibus ad Synopsin Besoldianam
cap. 15: quemadmodum aranea omnia vertit in venenum, so habe diese
Justiniana mastix alle Thaten Ju8t.'8 ins Schwarze gemalt; so z. B.
seien die fernsten Nationen nach Byzant gekommen, um Justinian zu
huldigen (nämlich das denkt sich der Jurist als Absicht), Procop aber
sage, sie seien gekommen um ihm Geld abzupressen.
^) Dagegen ist es gleichfalls ein Jurist, F. Dahn, welcher nach der
obenstehenden Abhandlung die Echtheit der Anecdota gründlich gerecht-
fertigt hat; 8. dessen Schrift über Prokop S. 52 ff. 253 ff. 448 ff.
^^) J. H. Reinkens, Anecdota sintne scripta a Procopio (Breslau 1858),
mäkelt zwar an den Gründen für die Echtheit, ohne aber für die
Unechtheit etwas Haltbares beibringen zu können. Vgl. H. Bckardt, de
Anecdotis Procopii, Königsberg 1861.
Anecdota. Weltanschauung. 221
Von besonderem Interesse ist es noch die Weltanschauung
Procop's genauer zu betrachten; denn als gebildeter Laie ist er
ein viel sicherer Höhemesser seiner Zeit, gibt ein treueres Bild
von dem geistigen Standpunkt derselben als die gelehrtesten zunft-
mässigen Theologen. Stelleii die uns darüber Aufschluss geben
finden sich allenthalben in seinen Werken, besonders merkwürdig
aber Ist Goth. I, 3, p. 17 f., wo er ein förmliches Glaubens-
bekenntniss ablegt. Er erzählt hier dass die Bischöfe Hypalius
und Demetrius an den römischen Bischof abgesandt worden seien
doJ^rjg €V€X€v^ ifv XQiötiavol iv 6q>i6iv avtotg dvxikiyovOiv
diiipiyvoovvrsg, xä äi dvtiXsyoiiBva iya i^STCiötdiisvog tag
TixtOta i7Ci(JLVi]0oiiai» dTtovoCag ydg (lavicidovg nvog tjyovfiai
Bivav SisQSVV&ad'ai f^v toi) d'sov (Christi) (pvötv onoia noxi
iöXLV. dv^QcinGi yaQ ovSl xd dv^Qcineia ig x6 dxQtßdg,
ol^m, xaxalr^nxd , iii] xoi yh diq xd ig d'sov q>v0iv {jxovTa.
(Die Anfrage bezog sich also auf die monophysitische Streitigkeit.)
ifiol iiiv ovv xavxa dxivSvvwg aeöiojti/jö&fx) fiovc) xä firj
dmöx'^öai xd xstiptriiiivcc, iyd ydg ovx äv ovSh akko nsgl
d'sov o XI äv sl^noLiii ij oxv dya^og xs navxdnaatv etifi xal
^ij^Tcavxa iv xy il^ovöla xy avxov ixsi. ksyixco äh cigTceg
yivciöxeiv sxaöxog vnsQ aihiSv otsrai xal [egavg xal ISicixt^g.
Alemann berichtet dass in einer der vaticanischen Handschriften ^5
ein Abschreiber zu der Stelle, anmerke: or^fieLCOöaL bI oQ^oSoi^og
iaxLV 6 6vyyQaq)€vg, und Eichel (c. 18) exciamiert zu der Stelle:
egregium Christianum! nihil, ait, ego de Christo, num Dens homo,
num neuter an uterque, num pro humano genere passus morle
sua satisfecerit et resurrexerit nobisque viam ad aeternam beati-
tudinem muniverit necne; quid ad me ista aegroti veteris somnia?
viderint de hac re Christian!, sufficit mihi credere, Deum esse
bonum et omnipotentem. Paganorum hanc esse religionem quis
non videt? nemo enim unquam veterum gentillum vel Roma-
norum vel Graecorum paulo prudentior negavit deum propter
bonitatem esse Optimum, propter potenliam maximum. Beide
haben in ihrer Weise nicht ganz Unrecht. Procop will dass man
sich damit begnüge dass er keinen positiven Unglauben gegen
das Dogma äussere. Warum diess? Weil er keinen positiven
Glauben daran hat, weil das Dogma für ihn wankend geworden
ist Diess verräth er dadurch dass er nicht einmal von den
menschlichen Dingen die Möglichkeit einer sichern Erkenntniss
zugeben will, geschweige denn von den göttlichen. Diess ist der
222 Der Geschichtedireiber Prokopius.
Schlüssel zu seiner Wellanschauung. Als Skepüker verhält er
sich erstens zur positiven Religion iadifferent. Er hassl, er ver-
achtet keine der bestehenden Religionen, aber er hängt auch
keiner an, denn jeder gegenüber hat er Zweifel. Es ist ihm nur
ein Slufenunterschied zwischen den verschiedenen Religionsfornien.
Die crasse Naturreligion, die Anbetung lebloser Dinge, wie Bauoie,
bezeichnet er Goth. IV, 3 als aus ßaQßaQp tivl dtpelsia hervor-
' gegangen; viel milder urteilt er Goth. II, 14 f. über diejenige
Form des tfolytheismus wonach ^€ovg xal daiiiovag xoliovg
cißovOLV ovQccvlovg TS xal äsgiovg^ iyyaCovg rs xal d'alatS"
öCovg^ xal &kV atra dccv(i6via iv vSaCL TttjyiSv xs xal no/tu-
fiav elvai kayöiievcc. Den Hellenismus vollends weiss er von
dem Christenthum nur der Zeit nach zu unterscheiden: dieses
ist der moderne Giaube, jener r) nakaia do^a, ijv ä^ — fügt
er vornehm liinzu, gleichsam mit der Bitte hieroit nicht seine,
des Philosophen, Ansicht zu verwechseln — xaloikfcv ilitiPixiiv
ol vvv av^gcMUH,^),- Zwar spricht er Pers. I, 25 von kofoi,
ov% oövoC xivBg x^g nakaiag Sol^rig^ aber so unbestimmt dass
keineswegs gewiss ist ob er sie als hellenisch und nicht vielmehr
wegen ihres Inhalts mit diesem überdiess milden negativen Aus-
druck bezeichnet; und wenn er Aedif. VI, 4 von der akkrivixii
xakovfiivTi d^sta spricht, so kann diess bei der eigenthümlichen
Haltung dieser Schrift, bei ihrer durchgängigen Rücksichtnahme
auf den Kaiser, für Procop's eigene Ansicht nichts beweisen. Nur
66 dass das Christenthum die humanere, civilisiertere, gebildetere
Religionsform , i>6 rfii^s^rsQOv sei (besonders wegen des Fehlens
der Opfer) pflegt er anzuerkennen (vgl. Goth. 11, 14. III, 3.
Aedif. III, 6), und in so fern ist ihm der Uebergang zu ihm auch
inl z6 €'äösßd0r£Qov ^stazl^ead'ai (Pers. I, 15. Aedif. V, 7).
Sonst denkt er vom Christenthum vollkommen deistisch. Bezeioli-
nend ist in dieser Beziehung ausser Goth. I, 3 besonders Pers.il,
12, p. 208: vjco zov xqövov ixstvov ^i]0ovg 6 rov ^ov
natg (er vermeidet den gebräuchlichen Ausdruck v[6g) iv omftMU
eSv Toig iv nakatetivy avd'Qcixotg (OfiikeL^ rc5 zs jiTjihv
zo nccgäxMv -a^agzalv xdxozaj dkkd xal zm laftff*
Xava i^aQydis^d'^ai 8iaq>avtog it^SLXVvfiavog ozi ö^ zov
d'€(yv natg t&g dkij^ag etri. Als solche Thaten führt ^er dann
auf: Todte erwcdtc^n. Heilen von Blindgebornen , von Aussatz,
<) Fers. I, 20. *6. II, LS, p. 211.
Weltanscliauung. 223
Lähmung, xal o6a akkix lazQotg stä^rj avCaxa civofiaöfidim
iiJtP). Nicblsdesloweniger schliesst er sich in ungenauer Rede an
die populäre Vorstellung an , wonach Christus und Gott geradezu
identificiert werden, Christus der charakteristische Gott des Ghri-
slenthums ist^), was die Consequenz des Begriffs der ^eotöxog
(Mutter Gottes) war. So sagt er Pers. il, 26 von Chosröes*
zweitem Zug gegen das unter ChrisU besonderem Schutz stehende
(ib. 12) Edessa: avtri 17 igßoltj . . ov ngog 'lovCttviapov
xsnoifjraiy ov fc^i/ ix^ aXkcsv dvd'Qdnmv ovädva, otv fti}
inl XQv d'sov ovTCSQ XQi0TLapol öißovtai ybovov^ nämlich
Christus; denn er betrachtet sich als n^og rov xäv XQi^riavdv
^eov ri06iiii€vogy sofern dieser der Proteclor von Edessa ist,
also von Christus. Ebenso heisst die Sophienkirche Vand. I, 6
g. E. ro [bqov rov (isydlov X^rov rov ^bov, und wird 67
Aedif. I, 2 f. der Forlschritt von den Kirchen o0a rtS Xqi6%&
uvi^xsv 'lotHSttvLavog (worunter die Sopliienkircbe) zu denen
t^^g d-BotoKOv Ma^Cag damit motiviert Suv^dri ix rov d'sov
inl xijfif avtov (iritsQa Itiov. Als Gegenstaiid des monophysi-
tiscben Streites wird me Golh. I, 3 so auch Aneod. 18, p. 110
^ tov d'eov q)v0vg angegeben, und Aedif. I, 3 von Cbiistus
gesagt: avd'^&Ttog rjxsQ ißovlsto ysyovdg 6 d'sog. Dieses
Anlehnen an den vulgären Sprachgebranch beruht vielleicht nicht
weniger auf innerer Gleichgültigkeit^) als die kühle, fremde,
^) Vgl. hiermit die wieder sich viel näher an das Positive anschlies-
sende Stelle De aedif. V, 7: iivivLa ^Ir^aovi 6 tov Q-^ov naig iv cm-
(ICC ti mv Toig x^Ss (in Samaria) av^Qfonoig cofi/X«», yiyovsv avt^ ^{fOQ
yvvatna xäv xtvcc inixo^Q^iov SttxXoyogy worin er ihr prophezeite dass
später anf dem Berge Qarizim avxbv ot aXrjd'ivol ngog'KvviijTccl n^og'KV-
vijsovoi., xovg Xgiaxictvoifg naQaSrjXtoßag. iysvtxo xs nQO'iovxog xov
Xifovov igyov ri nqoQq^qcig, ov yäq olov xs r^v (irj ovx) drftEvSeiv tov
ovxa Q-Bov.
*) Vgl. z. B. Evagr. IV, 10: Svo (pvßsig inl XQiatov xov &€jov
"^fiüiv, ib. 27 extr. in Bezug auf Chosroes* Versuch Edessa zu erdbern:
vjtoxoniiaag xov nQog r^fiav nQsaßsvofiivov d'BOv nsQiiasad'cci. ib. 36
heissen die Eeste des Abendmahls Syiat (isgiSsg xov A%^ttvtov coificc-
tog Xifiaxov xov &eov '^fitav. Evagrius ist gleichfalls Laie (Scholasticus) ;
aber auch in der officiellen Sprache der Sjnodalbeschlüsoe, z. B. der
fünften ökumenischen Synode: xov (isyäXov &sov xal aatt'^Qog ^(iwv
XiflÜtOV u. 8. f.
^) Am schroffsten spricht sich diese Indifferenz aus Anecd. 11 , p. 75.
Hier erzählt er die Wirkungen welche Jnstinian^s Befehl , alle Häretiker
sollen zur orthodoxen Kirche übertreten, an den verschiedenen Orten
224 Der Geschichtschreiber Prokopius,
objective Weise womit er sonst von allem specifisch Christlichen
spricht. So sägt er Pers. I».12: ovtog 6 Xedg XQtötiavoC xd
slöL xal tä voiiifia rijg dol^rig q)vXu06ov6L rccvttjgj nicht
'^fieriQag; ib. 18 (vgl. Vand. II, 14): £0^r^ ^ Ttaexalicc^ . •
fjv dl) cißovrai XQtCnavol icaisäv fLakiOta; ib. 25: IsQSvg
0V7CSQ nakelv ngsößvtSQOv vsvofiixapi; ib. II, 9: ro tsQov
o^€Q ixxXrjClav xalovöt; Vand. II, 21: ra XQiötittVfSv koyia
ansQ xaXstv svayydkia vsvoiiixaöLV^); Pers. I, 7: rtov Xqi-
Crvaväv of 0(O(pQOvi0taxoi^) ^ ovgjtBQ xalstv iiovaxovg vbvo-
(lixaöL; vgl. Vand. II, 26: avSgeg olg ta ig ro d;stov äxgtßcSg
ijCxriTat ^ovccxovg xakelv rovg dvd'QaTtovg dsl vsvoiiixaiisv,
Wen dachte sicli Procop als Leser wenn er solche Erklärungen
nöthig fand? „Barbaren'*? Oder glaubte er^ sein Geschichts-
werk werde die christliche Religion überleben? Nicht unmöglich
bei dem Skeptiker^).
68 Von den positiven Religionen weg zieht sich Procop auf eine
allgemeine, vage Religiosität, auf den Glauben an ein d'stov
(Pers. I, 7. Vand. II, 26. Goth. IV, 14), einen da^^av (z. B.
Anecd. 9, p. 63), ein äaiiiöviov (Goth. III, 35 und oft) zurück,
in dessen weitem Mantel auch viel Aberjg[l9uben Raum gefunden
hat. Je kleiner nämlich für den Skeptiker der Kreis dessen ist
was ihm gewiss ist (denn auch dass das Bestehende Recht habe
gehabt habe und Qagt: oaoi sv rs Kaiaagsia xfi ifiij ndv xctig aXXatg
noXBaiv (Samariens) coxovv nccgd g>avXov riyrjatxfisvoi Hccmondd^siccv xiva
vn\Q dvoTjTOv (psQSßd'cci doyiiaxog ovofia Xgiatucvoov rov etpiai
nagovtog (Sabbatianer n. dgl.) dvtaXXa^d^svoi tm ngoaxiiitau tovrat
tov in Tov v6[iov dnoGsiaaad'at nlvdvvov taxvaav.
^) Vgl. Goth. I, 24 g. £.: tcav SißvXXtjg Xoylanv xi^v didvoiav
i^evQSiv dvd'QfOTto} olfiai dSvvaxcc slvai. Ebenso gebraucht er Goth. II I,
20 von den Evangelien auch den Ausdruck td Xqidxov Xoyia, vgl.
Vand. II, 26 td d-sia Xoyicc, Den Koheleth nennt er Vand. II, 9 als
Theil von ^ toiv ^Eßgc^ioav ygatp^ und bezeichnet ib. 10 den Moses als
ao(p6g dvrJQ,
') Von diesen aa}q>QOviüTccxoi erzählt er dann weiter, wohl nicht
ohne einen Anflug von Spott: tovrovg iogrijv Ttvce äynv iviavaiov
Tfrvj^i^xey. ifcsi ts '^ vv^ insyivitOy axavtsg^ Sxs Ttonip (ilv noXXa did
rqv navijyvQiv ofiiXi^itccvxsg (so ist zu lesen statt a/u.£Xif<rttyr8ff) , (laXXov
dl TOV eld'iafiivov cixltav xs xcel noxov ig %6gov iX&ovxBgf Siivov tivd
jjSvv T£ xal ngaov ind^svd'ov,
^) F. Dahn S. 191, A. nimmt an dass Pr. dadurch nur mit einer
gewissen Vornehmheit sich über den herrschenden Religionsstil erhaben
zeigen wollte. Noch mehr ist es wohl die Abneigung des Rhetors gegen
technische Ausdrücke.
Weltanscliauuiig. 225
ist ihm nur zweifelhaft, nicht aber dass es Unrecht habe gewiss)^
desto grösser ist für ihn der des Möglichen ; ruht der Skepticismus
nicht auf einer festen, klaren und sichern positiven Grundan-
schauung, so irrt er in Bezug auf die Erkenntniss ohne Halt und
Anker umher in dem weiten Reiche der Möglichkeit, in dem
hodenlosen , nebeligen Räume in der Mitte zwischen A und non A ;
und je weniger genügend ihm die gewöhnliche Verknüpfung von
Ursache und Wirkung erscheint, um so zugänglicher ist er für
mystische , unfassbare und unsagbare Zusammenhänge. Wir dür-
fen uns daher nicht wundern bei unserem Skeptiker den aus-
gedehntesten Divinations- und Wunderglauben zu fmden; denn
seine Zeit und sein Geist war nicht so productiv dass er im Stande
gewesen wäre aus den Trümmern des Bestehenden sich eine
neue Welt zusammenzubauen; hatten sie ja doch auch nicht die
Kraft das Bestehende zu zertrümmern, sondern nur es anzu-
fressen oder zu meiden; es war eine Zeit- der blossen Velleität,
der Impotenz im Bejahen und im Verneinen. Von Wundern
treffen wir bei Procop eine reiche Auswahl: Hunnen die auf einen
Einsiedler zielen erstarren die Hände (Pers. 1,7), eine Reliquie,
der Querbalken von Christi Kreuz , wird von einem Heiligenschein
umgeben und bewirkt dass die Stadt Apamea mit einer Contri-
bution davon kommt, womit sich Chosroes nicht begnügt hätte
si itij ti d'stov avtov ix rov i^q)avovg äiBxcii^vOBV (ib. H , 11);
Edessa wird von Christus wunderbar beschützt: zweimal geht
Chosroes irre, bis er wirklich vor die Stadt kommt, und wie 69
er da ist bekommt er in Folge eines Rheumatismus einen ge-
schwollenen Backen, welches Wunderzeichen ihn bewegt alle Ge-
danken an Eroberung der Stadt aufzugeben (ib. 12); ebenso be-
schützt Petrus^) einen Tbeil der Mauer Roms (Goth. I, 23); bei
der Belagerung von Dara durch Chosroes elg ix rov Xoöqoov
CtQaxoniSov diifpl i^(idQav ^iöriv ay^iCtd nri rov nsQißoXov
[lovog dfpixsroj atxB ai/d'^conos fSv atxB xl ukko ävd'Qci-
nov XQBlOOoVj Solvay xb xotg 6q(S6l naQaCxBxo ort Sri '^^
ßiktj l^vkkdyoi, anBQ ix xov XBCxovg ^Pcoiiatot . . snl xovg
ivoxXovvxag ßaQßägovg dgy^xav (Pers. II, 13). Je weniger
in allen diesen Fällen zu einer Retirade ins Wunderbare irgend
ein Grund vorlag, um so mehr beweist das Anstellen derselben
1) tovtov rov dnoaroXov asßovtai ^Poftatot icciri tsd"i]naat navxfov
fiäliata, Goth. I, 23.
Tenffel, Stadien. 15
226 Der Geschiclitsclireiber Prokopius.
die grosse Hinneigung zu diesem Gedankengange. Von Prodigien,
Omina, Träumen wimmelt es bei Procop, vor der Wahrsagekunst
hat er allen möglichen Respect^), und Zauberkünsten erkennt er
Einfluss auf den Willen Anderer zu^). Zwar spricht er auch
manchmal Gleichgültigkeit gegen Zeichen und Wahrsagungen aus^)
und hegt Zweifel gegen solche Veranstaltungen^); oder ist geneigt
bei der naturlichen Erklärung der Erscheinungen stehen zu
bleiben^). Aber noch entschiedener spricht er sich gegen die-
jenigen aus welche Alles aus einer naturlichen Ursache erklären
wollen und die Miene annehmen als könnten sie es. So sagt er
von der Pest, man solle nur ihre Unbegreiflichkeit gestehen;
von ihr einen Erklärungsgrund anzugeben iirjx^vij rig ovSsiila
iütl nkr^v ys 8r^ oCa ig tov d'sov avatpigsc^ai (Pers. If, 22);
und ebenso ist er unschlüssig ob er die verschiedenen Erscheinungs-
weisen und Verläufe der Krankheit von der Verschiedenheit der
Constitutionen ableiten solle oder vom Willen des Urhebers der
Krankheit, nämlich Gottes (ib. p. 252)^). Alle die vielen Aus-
drücke wie ^Bog^ r.6 d'etov^ äaliicav, ro äaLiioviov, ij trvjrij,
17 nsTtQCDiidvriy mit welchen Procop zu wechseln pflegt, sind nichts
als positive Namen für den rein negativen Begriff der Unbegreif-
70 lichkeit. Auch Procop ist Fatalist, wie fast alle Historiker des
Alterthums, und zwar trägt er seinen Fatalismus mit einer Un-
ermudlichkeil zur Schau welche lästig wird. Aber so sehr er
auch in der Ausfuhrung desselben an Herodot sich anschllesst,
so ist doch Beider Fatalismus ein wesentlich verschiedener. Der
des Herodot ist ein gemütlicher, kindlicher, er ist des Kindes
bescheidene Resignation auf eigenes Wissen, weil es weiss dass
ein Höheres und Weiseres in der Welt ist, er ist sein scheues
Auftreten, seine ergebene Erwartung nachdem es so oft in seinen
^) Vgl. Goth. IV, 21: ngö fqg jcsigag asl Sv^Qentot tag jCQOQQijaHg
q>tXo'oai xXsva^siv, Ueber die sibyllinischen Bücher ib. I, 24: täv 2k-
ßvXXrig XoyCfov f^v diävoiav ngo tov ^gyov i^svQSiv av&QtoTeco olftcii
aSvvata slvaf aCziov dl' 17 ZCßvXXot ov% Sinavza s^ijs rä nffayficcta
Xiysi ovd^ agfioviav tiva noioviiivrj tov Xoyov u. s. w.
*) Vgl. Aneed. 1. 2. 3. 12. 22, p; 126 f.
8) S. Goth. III, 29 g. E.
*) Vgl. Goth. I, 9.
5) Goth. IV, 15 extr.
®) Vgl. Goth. IV, 33: inavatpigatv ovk av{$i h tov ^bov äieavxct,
SnsQ xtti 6 dXfiQ'rig Xoyog iyivsro.
WelianschaouDg. Fatalismus. 227
schönsten Preudea plötzlich gestört, seiner liebsten Schatze unver-
sehens beraubt worden ist; er ist das schweigende Händefalten dem
Walten einer böliern Macht gegenüber. Bei Proeop dagegen ist
er nnr eine Formel welche eine Lwke im Verstehen und Begreifen
des Verfassers oder auoh nur eine Trägheit seines Denkens, eine
Fejgiieit seines Willens bez^hnet. Je gegliederter aber sein
Fatalismus, je mehr er zu einem eigentlichen System au^ebildet
ist, desto mehr verdient derselbe unsere Aufmerksamkeit^).
Ueber das Wesen des Fatums und sein Vei^altniss zu «Gott
finden sich bei Procop zwei Darstellungen. Nach der einen sind
beide Begriffe verschieden, nach der andern identiscJi. Goth. iU,
14. hebt er an den* Slaven als eine Merkwürdigkeit, als einen
auffallenden Mangel hervor dass sie nur Einen Gott haben, stfut^-
fiivf^ di ovts tiSaöiv ovze Skkcag ofiokoyoikSLv iv y$ av^g^onoig
^onriv tiva ^XBiv^ scmdern durch Gelübde auf den Willen Gottes
Einfluss üben zu können meinen. Hienach dachte sicli also Procop
das Fatum als eine Macht neben Gott, unabhängig von ihm und
seine Wirksamkeit beschränkend, sofern er z. 6. auf Gelübde
nur so weit Rücksicht nehmen kann als dem Willen des Fatums
gemäss ist, also ohnehin geschehen würde. Eine ähnliche An-
schauung scheint zu Grunde zu liegen der Stelle Vand. I, 18:
ifiol td xs d'sta xal tä ävd'Q4)Stt£ia . . in^i%'S ^av(Mi0€ci
oiCG^ 6 ftk^ d'aog xoQQoyd^sv 6(kdi/ rä ic6yLBva pmyyQaq>si
&r«^ sroT^ avt(p zä ^ayyiata äoxsi äaoßi^^eöd'aL , ot il &v-
%f^noi fi 0tpakK6iuvot ri tu diomu ßovXsvofievoc ovx töaciv
Ott latTai^av tt . , '^ o^cSg iÖQaöecv, %va y^v^tat rg Tv^y
zQl^g^ ^B^vCa xdvzfx^g iid ta %q6tb^v Ssäoyfbivu. Hier
ist die Tv%Qii offenbar identisch mit der stfiaQiLdvri der vorigen
Stelle*^); ihren Rathschlüssen kommt Unabänderliobkeit zu, Gott
aber hat in Bezug auf den Gang des Schicksals nicht die Vor^
ausbestimmung, sondern nur die Voraussicht, und auoh diese
nicht untiHiglich {So9C€t); von dieser Voraussicht aus sueht er die 71
Menschen durch Winke aller Art (Omina, Prodigien u. s. w.)
über das Verhältniss zu belehren in welchem ihr Tfaun zu dem
Schlüsse des Schicksals stehe, ob es dazu passe oder nidit; aber
1) Vgl. zum Folge»aen F. Dahn, Prokop S. 217 fiF. 459 ff.
?) Ebenso Vand. I, 21. Goth. I, 24. II, 8. 26. III, 19. IV, 32.
Anecd. 10, p. 68. Als Wechselbegriff von nsnQostfiivri: Vand. 11, 7: ovTt
UV avTitsivoifii f^ ^VX^ ovSl TCQog xiiv nsiCQoitftivrjv ^vyofiMxoCriv.
15*
228 Der Geschichtschreiber Prokopius.
vergebens: die Menschen verstehen seine Winke nicht und trotz
denselben geht des Schicksals Schluss in Erfüllung. Gott ist also
hier in der Lage zum Besten der Mensehen gegen den Schicksals-
schluss anzukämpfen, aber sein Bemuhen iät umsonst; also ent-
schiedener Dualismus zwischen Tvxfi {stiia^itivrjD und d'sog. In
vielen andern Stellen dagegen ist 6 d'sog ganz in demselben Sinne
gebraucht wie 1} Tvxn ; vgl. Pers. 1 , 25. II , 10. Vand. l, 2. 19.
Goth. II, 9. IV, 30. 33, und Goth. III, 13 sind beide sogar neben
einander zur Abwechslung gebraucht. Dieser Widerspruch wird
einigermassen gelöst in der Stelle Goth. IV, 12 extr. (wiederholt
Anecd. 4 extr.), wo Procop sagt: ovtog aga oix yxsQ rotg
ävd'Qcin:oig äoxst^ dXXä tyixtovdaov^ony XQVtavsvataL
tä avd'Qcinsia, S äfj Tv%riv slcid^aai xaXstvot&vd'QCDTtoi,
ovx siSozeg orov di) svexa tavty n^osi^i tä l^viLßaivovta
yneQ avrotg ivSifika yCvsxai, täyäg nuQaXoyGj äoxovvti
elvai. g)LX€t to tilg ^'^XVS ngoHxGiQBlv ovo(ia^).
Also weil und wo der Mensch den Grund nicht erkennen
kann warum Gott so und nicht anders handelt (und dass er nach
einem Grunde handelt ist gewiss, avrcS yccQ ov d'd^ig atnatv
yLTl oijijL anavxa xard koyov asl yiyvsöd'ai, Pers. II, 10),
spricht er von Tvxv^ von einem blinden, grundlosen, zufälligen
Walten. Ssog und Tvx^i sind demnach eins in dem Begriffe
der at^QiLBVifi , denn jene beiden haben das mit einander gemein
dass das was von ihnen ausgeht mit Nothwendigkeit geschieht,
beide aber sind darin von einander verschieden dass mit Tvx^l
diese Nothwendigkeit als eine grund- und planlos wirkende be-
zeichnet wird, mit ®a6g als nach einem Plane und mit gutem
Grunde verfahrende. Dass aber zwischen beiden unterschieden
wird^) hat seinen Grund in der Mangelhaftigkeit der mensch-
lichen Erkenntniss; objectiv betrachtet r^ ix xov d'sov ^ony
jtQvravsvstai tu dvdQcinsia^ aber der endliche Verstand er-
kennt den waltenden loyog nicht und spricht da wo in Wahrheit
^) Vgl. Goth. IV, 32 von der Tv%7ii to naQaXoyov to avt^Q
täiov xal TO tov ßovXiifiaTos anqotpaaiazov inididsinitcti,
') Vgl. Pers. II, 23, p. 258, wo es von der Pest heisst sie habe
shs tv%ri strs nQOvoiqt gerade die Schlechtesten in Byzantion verschont.
Im Sinne eines reinen Zafalls im Gegensatz zu (menschlicher) Wahl nnd
Berechnung steht es auch Goth. I, 5 extr.: Belisar zog gerade am letzten
Tage seines Consulates in Syrakus ein — ovn iisnirridsg fiivtoi avx£
nsnoirjTO rovto, dXXd rig rä avd'ffdnco ^vvißri tvxrj.
Fatalismus. 229
Weisheit [Ttgovoia) ist von einem nagciloyov und von Tv^i]^)' 72
In dieser Fassung ist der Begriff der Tvxv ^^he daran mit der
ciiristlichen Vorsehung auch formell zusammenzufallen, was auch
in dem Spruche : Wo die Noth am grössten , da ist Gottes Hülfe
am nächsten, wie ihn Procop Vand. I, 2, p. 318 parapbrasiert^),
hervortritt. Aber im Allgemeinen hat Procop die hellenische
Vorstellungsweise vom Schicksal mit solcher Vorliebe und solcher
Lebhaftigkeit ausgeführt dass der christliche Abschreiber der
vaticanischen Handschrift nicht übel gewittert hat, wenn er Vand.
H einmal die naiv zurechtweisende Bemerkung für Procop bei-
schrieb: ovx ogd'iSg naQ€iaq)^Q£Lg tij tav XgiCxiaväv niötsi
äaiiiovLOv xal Tiixtiv xal slpMQiievriv (Alemann , in der Praef.).
Man konnte sogar irre werden an der Aufrichtigkeit seiner An-
lehnung an das Christliche (in Goth. IV, 12), wenn man in der
Schrift worin er seine Ansichten am rückhaltlosesten aussprach,
in den Anecd. 10, p. 68, ganz dieselben Ausdrücke von der Tvxi]
gebraucht sieht die er in der öffentlichen Schrift ausschliesslich
auf Gott bezogen haben wollte, nämlich: (r^g '^vx^g iniäu^LV
f^g Swäfiscog Ttsnoirjiidvrjg) ^ dij anavtu Ttgvtavsvovöy
tä avd'QciiCBia dg ^xcCta ^lbXbv etc. Doch kann man den
Grund dieser Abweichung ebenso gut darin finden dass der Natur
der Sache nach der Unterschied zwischen einem solchen Gottes«
begriff und der Tvxri ein so fliessender ist dass man ihn bei
Mangel an ausdrücklicher Aufmerksamkeit leicht aus den Augen
verliert, — als in etwaigem Mangel an Ernst und Wahrhaftigkeit.
Wir dürfen überhaupt nicht vergessen dass wir es hier nicht mit
einem Philosophen von Fach zu thun haben, der sein System
mit bewusster Absicht und Consequenz durchführt, sondern mit
einem Dilettanten, der seine Reflexionen, wie sie gerade durch
die Ereignisse hervorgerufen sind, an die Erzählung dieser anreiht
und der im Stande ist die stärkste Stelle über die unbeschränkte
^) Unbestimmt in der Mitte zwischen beiden Begriffen, doch näher
bei ^fOff, stehen die Ausdrücke ro Saiiiovtov (Pers. II, 30. Vand. I, 11.
II, 14. Goth. II, 29) und 6 dat'ficav (Anecd. 9, p. 63). Mit stiiaQfiivri
ist identisch 17 n€nQ(0(iiv7j ^ Pers. I, 24 und in der häufigen Redensart
vriv nsngtofiivrjv ivinXrias (vom Tode), vgl. Vand. 1,7. II, 4. Qoth. 1, 13.
II, 21. IV, 20. [Nähere Ausführungen über diese Begriffe jetzt bei
Dahn, Prokop S. 248 ff. vgl. S. 283 ff.]
') ffiXsi 6 9s6g xoig ovts ayx^'''OtS ovts tt oH%o^bv nrjxaväa&ai
ototg TS oiaiv riv firi novriQol sUv äitogoviiivotg tä ia%axa ijHHOvgsiv
230 Der Gesohichtschreiber Prokopius.
Macht und absolute Wiltkurlichkeit der Tvxrj mit dem gedanken-
losen Refrain zu schliessen: dlXa tavra iilv ony t^ d's^
fpikov ravtji exitcD ts xal keyiff^G), So ihut er z. B. eben
Anecd. 10, p. 6D, wo es weller heisst: (zy Tvxjf) dg ijxiöta
[leket ovre oxag av xa ngccrroiieva sixota Btri ovrs onrng
73 tavra xatä Xoyov (vgl. Goth. IV, 12) xotg dv&Qcinois ysysv^ö^ai
doky. inaiQBi yovv tiva a^antvaiag dXoyiarp tivl il^ovöia
ig v^og ^fya^ pneg ivavtt€i(iara [liv leokkd ^viiitsxXexd'aL
doxst^ dvtiötatet 8h nagd tt, igyov tcSv navtav ovdhv, dX^
ayatav ^f^X^'^O ^doy ony xota avty ötaxiraxtai^ anavtav
aroi^cDg iivötaiiavcav xa xal vnoxfOQOvvxcov XQol'ovity xy Tvxy-
dkld xavxa u. s. f. Ebenso entscbieden behauptet er die un-
bedingte Rücksichtslosigkeit und Ungebundenheit der Tvx^ im
Fassen und Ausführen ihrer Beschlüsse Pers. II, 9: ßovko^dvi]
xivd ^eyav dal noialv ij Tv%ifi n^docau xoig xad^rjxov0i ^pdi/ot^
xd do^avxa ovSavog xfj ^vfiy xijg ßovktjaaag dvxi0xaxovvxog,
ovxa x6 xov dvSgdg äiaöxoTtov^avri d^va^^y ovxa oncag iiy
yavrixai xi xdiv ov daovxtov koyi^oiiavri , ovdi oxi ßkaUfprukY^Oov-
0VV ig avxriv Sid xavxa 7tol?,obj — ovdh fiAAo xcSv ndvxmv
ovSav iv i/p Ttotovfievri , rjv xd So^av avxy xagaivovxo (lovov.
dlkd xavxa filv ony x(p ^aä q>ikov ixixa. In dieser Stelle
ist die Tv^i? vollständig personiGciert, indem ihr nicht nur Willen
beigelegt wird*) sondern auch Verstand (dtaöxojtoviiBini , koyt-
^oiiavri, iv vfp ytoioviiivti). Dass dies aber mehr als Figur sei
wird dadurch wieder zweifelhaft dass als luhalt ihres Willens
und Verstandes das absolut Grundlose, Unvernünflige, Unberechen-
bare {x6 xov ßovXijiiaxog ditQOtpdeioxov , Goth. IV, 32) gesetzt
wird^ Und doch sagt derselbe Verfasser auf der unmittelbar
folgenden Seite (Pers. II, 10): iyio Ikiyyiä %d%og xooovxo
(Zerstörung von Antlochia) yQdg>iov . . xal ovx ixca alSivai xi
Ttoxe aga ßovXoiiav€f^ x^ ^B^ Bttj TtQayybaxa ^hv dvägog ^
X(OQiov xov ig vtl^og inalgaiv , av^vg 81 ^Ctcxbiv xb avxd xal
dfpavi^Biv'^) i% ovSayuag iq(itv q>aivo(iivrig aixCag, avx&
ydg ov d^i^iig bItcbIv fiij ovxl ditavxa xaxd Xoyov
dal yiyvB0&ai, Andrerseits wird die PersoniQcation so weit
geführt dass Affecte als den Willen und das Tbuu der Tvxv
^) ßovXoiiivri — ßovliiasmgf vgl. Vand. II, 13: onfj Sv 9 fiovlo^ivf/
'^i ^^ZV9 ebenso Goth. III, 19. Oft to So^av^ td didoyfiiva u. dgl.,
z. B. Vand. I, 18.
«)Vgl. Anecd. 10, p. 69. «
Fatalismus. 231
bestimmend gedacht werden; namentlich ist ihr Gotfa. 11^ 8 ge-
radezu Neid zugeschrieben: r^g Tv^flS o g)d'6vog ädivsv iqSri
ini ^Pcjfiaiovg, iicsl tä TtQayiiata sv xe xal xalcSg 0q)C0iv
i7cCnQO0^Bv nQOlovra iaiga. Als neidisch pflegt s^e in den
Becher des Glucks und der Freude immer ein gut Theil Schmerz
zu mischen ^) , oder macht sie dass der Mensch im Vollbesitz des
Glucks übermütig wird und frevelt und die Rache auf sein Haupt
ladet; sie kokettiert mit den Menschen, und wenn diese dann 74
vertraulich werden, so schlägt sie sie ins Gesicht^). Unersättlich .
ist sie in ihrem Grimme^), aber nicht unversöhnlich, nur ist ihre
Gunst so wenig beständig und zuverlässig wie ihr Zürnen^). Sie
hat ihre Freude daran mit den Menschen zu spielen, sie zu
necken und zum Besten zu haben ^), indem sie immer das ihut
was die Menschen am wenigsten erwarten. Auf ihr Thun kann
der Mensch nur insofern einwirken als er durch Verschuldung
sie gegen sich aufreizt, dass sie als Vergeltung und Rache über
*) Goth. II, 8: xaxcj Hsgavvvvcci zivl tavxa id-iXovaa. Pers. II, 9:
naXccLog Xoyog (vgl. Herodot), ort dri ovn aKQtxiq>v^ ta aya^ä 6 d^sog,
alXor TtSQCcvvvcav avzd xotg %aKoCg slta xoig ccv>anoig nagixBtai.
*) Pers. II, aOextr. : tpiXst xo dcctfioviov ^ onsg ig rovg av^'ganovg
(ogai^sad'ai nitpvKSV (vgl. Tvxrj (ogai^oiisvrj Vand. 1, 21. Goth. IV, 32),
ano (isti6v(ov tb xal vtIfriXotsgotv iXniSmv ngefidv otg drj ovx inl ctsg-
gag q>vas(og trjv didtvoiav ^atävai ^viißaivst. Neben dieser abergläu-
bischen Form findet sich dieselbe psychologische Bemerkung bei Procop
auch in der rationeilen Fassung: ot avd'goanoi svrj(isgiag Ix toh nciga-
Xoyov iniXaßofiEvoi oi dvvavtcci, ttjv Sidvoiav ivtavd'a tatcivai, alXä
TiagaSonovai tcc ngoam xal xaCg iXniatv iningoad'sv ael xoagovaiVy Bmg
nal xfjg ov diov vnag^dcöjig avxoig hidaifLOvlag cxsgriaovxcci, Goth.
in, 31.
3) Vand. II, 14: ägnsg ovx t'Kavd xavxoc x<ß Saifiov^eo Siccipd'sCgaL
xd ^PoDiiaioav ngdyfiaxa iv anovS^ ?x^^'^'"
*) Goth. I, 24: ov ydg ttnoLvta XQ^^"*^ maxsvHv rj Tvxu y iytsl ov8£
oiLoLmg ig ndvxa xbv XQ^^ov tpigtad'cci niq>viisv,
^) Goth. IV, 32: ij Tvxriy digai^^ofiivrj xe diaq)avsg *al äiaavgovaß
xd dv^gmnsia, ib. 33, p. 631: ivxavd'd (loi, xov Xoyov ivvoioc, yiyovsv
ovxiva 71 Tvxri SiaxXsvd^si xd dvd'gdTtsia xgonovj o^ dsl %axd xavxd
nagd xovg dv^gdmovg lovaa, ovd\ tooig avxovg ofpd'aXfioig ßXiwovCfx^
dlXd ^v(i(i8xccßaXXo[iEvri XQ^^^ ^"^^ xonm, xal nai^ei ig avxovg n€ti,didv
xtvttf nagd xov yiaigov rj xov xo^Q^^ V ^^^ tgonov diaXXdaoovaa t^v
xmv xaXamoigoav d^Cav. dXXd xavxa filv yiyovi xs xo i| dgxijg xal dsl
iaxai eoag iq avxij xvxv dvd'günQig j. Vgl. das horazische Fortuna . .
ludum insolentem ludere pertinaz Od. 1(1, 29, 50.
232 Der Geschichtschreiber Prokopius.
ihn kommt ^). Im Uebrigen ist sie von seinem Willen und seinem
Thun vollkommen unabhängig: olg ixLn:v€t i^ ovgiccg to xvsviicc
t^g tvxTjg xal xä xeCgKSta ßovkevofisvoig ovShv vTcavtia-
75 0SL dvOxolov, dvrcnsQLCcyovtog avtct xov daiyiOvCov ig npLV
^v^fpoQOV dvögl dhj olfiai^j xaxoxv%ovvxt svßovkia avdsiila
naQECxi , TcaQaiQov^ivov avxov iitiGxriyLriv xs xal dlrid^ dol^icv
xov XQW^'' Jtad^etv ^v de xi xal ßovkevOTjxai noxa x^v dsovxfoVj
äkld xvsovCa xp ßovkavCavxu «ä' ivavxtag e'ddvg ij Tiixv
* &vxi0XQiq)ev avx^ xfjv svßovXiav inl xd novriQOxaxa xäv
dTtoßdösmv. dXkd xaOxa [liv etxs xavxrj she ixBivi] ixsv ovx
fX^ slnslv^). Wenn dem Menschen Glück bestimmt ist, so
wird es ihm zu Theil, er mag so ungeschickt handeln wie er
will; ist ihm aber vom Schicksal Unglück zugedacht, so trifft
ihn dieses, auch wenn er gut und weise handelt, und es verkehrt
sich für ihn auch das was scheinbar Glück ist in Unglück^).
Ja das Schicksal übt auch positiven EinOuss auf den Geist des
Menschen: damit seine Schlüsse in Erfüllung gehen, bestimmt
es den Willen des Menschen , es treibt ihn an auf eine bestimmte
Weise zu handeln, es mag diess nun zum Besten desselben dienen
oder zu seinem Verderben^); auch hält es ihn ab z. B. einen
^) Pers. I, 26, p. 135: 6 ^€09, oliiai, ovx TjveynBv ig tovto xriv
tiaiv 'ladvv^ dnoHBHQia9ai , inl fisya te avtai rriv %6Xaaiv i^riQtvBto,
Ib. p. 136: ido-ati 17 tov 9bov diUTi ^oivdg avtov t^$ olnov^ivfis iangazto-
(iivrj, Gotb. IV, 30: ngbg tov d'BOv diciQQTJdriv inl tag notvag tmv
nBnolit6V(ABvtov ayofiBvoi, Vand. 1,7: avtri BacLllanov tmv nBnolitBv-
fiivmv naTßiaßs xiüig, Gotb. III, 1 extr.: avtri tCaig*IkSlßaSov nBQiril&B
xov (povov, ib. IV, 33: tio Ovllfpap ^vvsßri ttg tCaig in tov d'BOv
driXovott ininBCovaa^ iv taittp (läXiata disfpd'dQd'ai ta xtßQtp tva Srj
avtog tov Kvngiavov diBXQijoato, Vgl. Anecd. 3 g. £.
») Gotb. III, 13.
^) Gotb. IV, 34 in. : anaaiv olgnBQ iSBi yBvicd'at Ttanöig xal tä
BvtvxTjfiata donovvta Blvai ig oXb9'qov änoHinQttat^ natu vovv rc
analXd^ccvtBg tamg t^ toiavtjf BvrjfiBQiqi ^vv9tafp9BlQovtcii,. Vgl. Menand.
Prot. p. 435: 6 d'Bog 'qvina av ov ivvBniXafißavritai xal tci donovvta
Bv ßsßovXBvad'at nBQidyBtai ig tovvctvtCov»
*) Pers. I, 24: 17 nBnQ<o(isvrj riyBV. Gotb. IV, 30: ngog tov d^Bov
SiagQi^driv inl tag notvag . . ayofisvoi, Vand. I, Id: t^ ''vxtl '^Q^ßog
(pigovaa ndvttog inl Ta SBdoyy^iva, Gotb. II, 29, p. 270: ifiol iwoid
tig iyivBtOy . . slvai ri daifioviovy onsg ttov dvd'Qoinfov afl atgitpov
tag Siavolag Ivtav&a aysi ov dri TtaXvfiri totg nBQaioviiBvoig ovSB^la
^aiai. Hieber gebort auch die sehr häufige Wendung: er that oder er
onterliess diess — Sdsi yag (oder ovx i^Bt oder XQV^ Y^Q ^^^f ov% tjv
Fatalisinus. 233
Gedanken zu seiner Rettung zu fassen, wenn sein Untergang
beschlossen isl^). Und zwar ist dieser Einfluss ein absoluter^):
vergebens ist alle Anstrengung das Entgegengesetzte zu tbun,
vergeblich alles Widerstreben^), und einem tauben Ohre predigt
wer den dem Schicksal Verfallenen durch Wort und Wink zu
warnen versucht^). Auch sein Verstand ist in der Gewalt des 76
Schicksals: er darf nur so weit sehen als das Fatum ihm ge-
stattet, dieses schlägt seinen Sinn mit Blindheit oder gaukelt
seinem geistigen Auge Trugbilder vor, die ihn irre führen^).
Die natürliche Folge dieser völligen Unterjochung des mensch-
lichen Verstandes und Willens ist die Unzurechnungsfähigkeit des
Individuums: Verdienst^) und Schuld^) kommt auf Rechnung
des Schicksals. Für die Vollziehung seiner Schlüsse wählt das
Schicksal zu Werkzeugen nicht blos Menschen^) sondern auch
yccQ ovx) avrm yeviad'cci ncciicog (oder dgl.), vgl. Pers. I, 24, p. 125. 134.
II, 8. 13, p. 213. 17. 20. Vand. I, 6. II, 4. Goth. I, 4, p. 22. I, 9 extr.
II, 8, p. 179. 181. II, 9 g. £. III, 13. Anecd. 9, p. 65.
1) Vgl. Pers. II, 8.
') Vand. I, 21: naQrjv Idsiv mgai^OfLivriv triv Tvxrjv xal noiovfte-
vrjv iniSsi^tv <og Snavtu vb avtijg si^rj ical ovShv avd'gdnia iSiov
yivoiTO.
3) Goth. II, 9 extr.: ot ßdgßaQOt ^yvmaav mg o &s6g ova imri.ctptov
ira ßovXcvnaTOC 6dm livai xorl di' avto ovit av nors ij nolig ctpfatv
aldiaifiog &t7j. Vgl. Pers. II, 13. Vand. II, 7.
*) Auch göttliche Warnungen durch Prodigien sind fruchtlos, vgl«
Pers. II, 10.
*) Vand. I, 19: ovx ix^ slneiv o xi noxB nad'mv rsUpisQ iv tatg
XiQolv ixmv x6 tov noXsfiov agdtog id'sXovatog avzo zotg noXepkiotg
(iBd'fj%€f nXfjv sl firi ig tov d'sov hocI vcc tijg dßovXiag ivcttpigsiv ifstj-
asi (dementiae auctorem facere deum) , og rivl%a ti dvQ'Qoina ^vfißrjvai
ßovXsxai q)XccvQov tmv Xoyiafimv difxifLSVog ngmtov ovn ia td ^vvoi-
aovta ig ßovXrjv ^gx^cQ-ai. Vgl. Goth. III, 13: xal fiot iSo^ev ^ B^Xt-
adgiov iXia^ai xd x^^9^ i^^^ iXQV^ "^oxb 'Pmficcioig ysviad'ai xaxebg,
fj ßsßovXe'Sad'oti filv avxbv xd ßsXx^atf ifinoSiov Sh xal äg tov d!s6v
ysyovivcti . . xal dn avxov xav ßovXsvfidxmv xd ßiXxiaxa ig n&v
xoivavxCov BeXiaagim dnoHSKQiad'ai,.
^) Qoth. II, 29, p. 270: ifiol . . ivvoid xig iyivsxo, dv^goinav (thv
fj avdgsiqi ^ nXi^d'et Jj x^ SXXtj dgsxjf mg ^maxa nsgaivsa^'cci xd ngaa^
dOfLsvay Blvai Sb xi dcenioviov u. s. w.
') Goth. II, 26: oaa fiBiS^ ij Ttaxd dv&gmnov dvvccftiv iaxi xorl
(auch) xoCg inxaiHoai x6 dvBynXijxoig bIvcci, z^f^^i^^^^xc , xrjg TvxriQ ifp'
iavxrjv ijtianmfLBVJig ubI xä xmv nBitQccypLBvmv iyxliffiftT«. •
8) Goth. II, 8.
234 Der Geschichtsclireiber Prokopius.
Dämonen^), ebenso Thiere^), und auch leblose Gegenstände ver-
wendet es für seine Zwecke^). Urkunden worin der Wille des
77 Schicksals in Bezug auf das Künftige niedergelegt ist sind die
sibyllinischen Bücher^); nur ruht unglücklicherweise auf ihnen
der Fluch dass man sie erst dann versteht wenn es zu spät, dass
man die Identität des geweissagten und des eingetretenen Er-
eignisses erst dann erkennt wenn das Ereigniss vollendet ist^).
Der Fatalismus ist ein Versuch die wichtigsten Fragen des
Lebens zu lösen, dte Fragen nach dem Grund und dem Zu-
sammenhang der Ereignisse, das Räthsel der Vertheilung von
Glück und Unglück. Aber der Fatalismus löst diesen Knoten mit
dem Schwerte, oder auch er löst ihn gar nicht, sondern knüpft
ihn fesler, indem er alles Wirkliche geradezu als nothwendig
und unabänderlich setzt, und zwar nicht als logisch nothwendig,
so dass es dem Geiste möglich wäre dieser Nothwendigkeit nach-
zugehen , sie in sich nachzucrzeugen , sondern als materiell noth-
wendig, als von einer übermächtigen Gewalt entweder ganz grund-
los, völlig willkürlich, oder wenigstens aus Gründen die für den
menschlichen Verstand nicht erkennbar sind, so wie es ist ge-
ordnet. Diese Lebensanschauung ist in ihrem Principe und in
ihren Consequenzen unsittlich: in ihrem Principe, sofern sie alles
Denken aufhebt, es in stumpfes Brüten und Resignieren ver-
wandelt; in ihren Consequenzen, sofern sie den Nerv des Handelns
zerstört, die Freiheit vernichtet, für Alles eine Entschuldigung
bereit hält. Wir könnten daher nicht begreifen wie ein Mann
von Procop's klarem Geiste und ernstem Streben bei einer solchen
Ansicht sich sollte haben beruhigen können, wenn es uns nicht
^) Goth. III, 19^ p. 358: insl ovx ^v tavta ßovXofisvjj xij Tvxjif
t03v Tivog qf&opBQmv daniovcav fiiJZ^^^ yiyovsv 17 ta 'PooftatW ngay-
(lata itp^HQBv.
') Von der Hirschkuh welche die Hannen über den Don zu den
Gothen lockte heisst es Goth. IV, 5: 8o%Bi fioi d>g ov9s ällov tov
SV81IICC ivtavd'a itpävTi oti firj tov ysvsad'ai xaxeug xoCg r^Ss ^ttrifiivoig
ßagßdQOig,
3) Goth, JV, 32 wird Totilas durch einen Pfeil tödtlich verwundet
ovx £x nQOVoiag tov nipLipavtog , . . aXXa trjg Tvxrig tavta ansvtoQOv-
(isvTjg tivog xal Id-vvccarig inl to tov avd'Qoijfov (Tot.) amiia tov
atguHtov.
^) Goth. I9 24, daher hier auch in Bezug auf das von ihnen Voraus-
gesagte das fatalistische ;(^^r<xt gebraucht ist.
5) ibid.
Fatalismus. 235
die Zeit in der er lebte etwas erklärlicher machte. Das Fatom
ist der transseendent vorgestellte despotische Kaiser, seine Fort-
setzung im Jenseits^). VYie der Fragcr sich zufrieden geben
musste wenn sein Warum? zur Antwort erhielt: der Kaiser hat
es befohlen, so gewöhnte sich das Gemüt und der Verstand bei
den Fragen des Lebens sich damit zu begnügen dass das Schicksal
es so wollte. Wie des Kaisers Wille nicht weiter zu ergründen
war und gegen seine Macht Keiner aufkam, so ist des Schicksals
Schluss ebenso unergründlich als unwiderstehlich. Alles ist und
fiihlt sich absolut abhängig vom Kaiser und vom Schicksal. Und
je eifersuchtiger gerade Justinian alle Regierungsthätigkeit in sich
concentrierte, je eigenwilliger er dareinfuhr, je unheimlicher er
wühlte, je ängstigender er lauerte, um so gewisser musste sich
der geisligen Atmosphäre der Zeit eine dumpfe Stille und Er-
gebenheit mittheilen, die Procop zwar in Bezug auf das dies-
seitige Fatum, den Kaiser, zu überwinden suchte, die aber zu
tiefe Wurzeln geschlagen hatte im Geiste der Zeit als dass er
sich von ihr auch in Bezug auf das jenseitige Fatum ganz hätte 78
losreissen können. Zwar schwankt er oft ob er wirklich über die
natürliche Ursache hinaus zu einer magischen weiter gehen solle ^);
'aber wie tief diese Betrachtungsweise mit dem Bewusstsein ver-
wachsen ist zeigt sich darin dass Procop, nachdem er ein Er-
eignlss aus immanenten Ursachen vollständig erklärt hat, doch
nach transscendenten greift. So führt er Vand. I, 18 eine lange
Reihe von Umständen auf, ohne welche der Krieg mit den Van-
dalen ein anderes Ende genommen hätte, vergisst aber dass nun,
da einmal diese Umstände eingetreten sind, dieses Ende ganz <
natürlich und innerlich nothwendig war, und erkennt statt dessen
in dem Gang der Ereignisse das Walten der Tyche. Ebenso
verwundert er sich Goth. II, 29 p. 270 höchlichst darüber dass
Witligis, obgleich der Stärkere, sich an Belisar ergeben habe.
') Andererseits bemerkt Dahn, Prokop S. 237 A. 2, dass das Fatum
auch die Flacht vor einer despotischen Persönlichkeit sei: ,,mau will
nicht die Willkür und Grausamkeit des irdischen Herrschers im himm-
lischen wiederfinden; lieber unterwirft man sich einem unpersönlichen
Gesetz, wenn man sich im einzelnen Falle nicht mit der unerforsch-
lichen Weisheit Gottes trösten kann.** Vgl. ebd. S. 493.
') Vgl. Vand. II, 14. 20. Goth. IV, 6. 14, wo überall gesagt ist: sie
thaten es aus psychologischen, subjectiven Gründen xort rt d'svov avtoug
SisHoilvasVf 7j Mal xi aixov d'siov inivrjaBv, ^ %ai rt avtovg Saifiovtov
yiaii^vccyKttaEV u. s. f. Aehnlich Goth. IV, 21.
236 Der Geschichtschreiber Prokopius.
und sieht darin einen Beweis dass der Mensch für sich nichts
ausrichte, sondern Alles von dem Schicksal herrühre, das die
Herzen seinen Zwecken gemäss bearbeite. Und doch hatte Procop
unmittelbar zuvor, ausser der Ilungersnoth an der die Gothen
litten, angeführt dass die Golhen sich deswegen an Belisar er-
geben haben weil dieser auf ihr Anerbieten ein weströmisches
Kaiserthum für sich einzurichten scheinbar eingegangen war.
Man kann sich des Verdachts nicht erwehren dass Procop dieses
Motiv absichtlich in Schatten gestellt und dagegen die Thätigkeit
des Schicksals in den Vordergrund gedrängt habe, weil er trotz
der lauten Billigung von Belisars Verfahren doch ein stilles Ge-
fühl hat von dessen Treulosigkeit. Goth. III, 13 ist er unschlüssig
ob Beltöar, vom Schicksal geblendet, eine falsche Massregel er-
grlÜTen habe , oder ob sein Verfahren an sich zwar weise gewesen»
vom Schicksal aber zum Schiimmen gewendet worden sei, wahrend
er doch kaum zuvor gesagt hatte, Belisar habe selbst eingesehen
dass er einen Fehler gemacht habe. Ein anderer Fall ist folgen-
der (aus Goth. IV, 12). Justinian hatte den alten watschelnden,
eben von den Gothen besiegten Bessas zum Anfuhrer gegen die
Perser gemacht, worüber Jedermann höhnte. Aber unerwarteter
Weise siegte er hier. Statt nun zu bemerken dass Bessas eben
um seine frühere Schande vergessen zu machen sich besonders
angestrengt habe, oder dass dem Anfuhrer selbst nur zum Tbeil
der Sieg zu verdanken gewesen sei und dass also Justinian's
Wahl jedenfalls doch ein Missgrififwar und blieb, — stellt Procop
die allgemeine Betrachtung an, dass es eben nicht nach der
79 Meinung des Menschen, sondern allein nach Gottes oder des
Schicksals Willen zu gehen pflege. So ist das Schicksal der
bequeme Sundenbock für einen Historiker welchem der Druck
der Zeit nicht gestattet seinen Pragmalismus mit Olfenheit und
Consequenz durchzuführen^).
^) Dahn S. 218 f. hebt hervor dass Prokop, als ein spätgeborner
Sohn der Antike, als ganz durchdrangen von der Anschauungsweise
und Bildung der versinkenden griechisch-römischen Welt, die mit dieser
wesentlich zusammenhängende Schicksalsidee sich nothwendig mit habe
aneignen müssen, und dass seine Schriften deutliche Spuren zeigen von
seinem fortwährenden Bemühen diesen Fatalismus mit seinem Theismus
zu vermitteln.
IX.
Agathias aus Myrine^).
^Aya%'Cctq SxokuCtiTtog ^ACiavbg MvQivatog, wie ihn die
Ueberscbrift in der Anthol. Pal. IV, 3 nennt, gibt *über seine
Persönlichkeit nach Sitte der Gesclüchtschreiber selbst an^): i^oi
^Aya^Cag yilv oi/ofta, MvQiva dl naxQlq, Msiivoviog Si naxiiQ^
xi^VTi 8h tä ^PcDiiaifDV vofii^ xal ol t(Sv Sixccöttiqlcjv ay(Sv6g,
MvQLvav dd g)rjiiL . . tiJv iv ty ^Aaia. Seine Mutter verlor er als
dreijähriger Knabe: sie starb und wurde begraben in Byzantion^);
sein Vater war also kurz zuvor dabin gezogen, um hier als Lehrer
der Beredtsamkeit^) zu prakticieren. Agathias hatte einen Bruder^)
und eine Schwester Namens Eugenia^), die aber vor ihm starb ^).
Seine allgemeine Vorbildung erhielt er zu Alexandria, wo er im
Jahre 554 B%vy%avB äuctQißcov naiSsiag ivexa ttjg tcqo täv
v6ii(DV^), aber bald nach dem Erdbeben in diesem Jahre nach
') Aus Schneide win* 8 Philologus I. S. 495 — 511.
') Prooem. p. 8 f. der Bonner Aasgabe, nach welcher wir immer
eitleren: drjXmtiov TtQOtsgov ogtig rs sl(ii mal od'sVj tovto djj to roig
^vyyQaq>Evatv si^iofiivov (sofern Thuk jdides z. B. beginnt Qovxvdidrjg
*Ad'fjvaVog ^wiyQaips tov nolsfiov tmv nsXonovvr}<ii<ov xal *AQ'qva{(ov\
woranf das oben Angeführte folgt.
^) Epigr. 43 lässt Agathias seine todte Matter gefragt werden : nmg
di as Boanogirj %axixsi> %6vig (nämlich da du doch i^*AaCrig bist)? and:
nottda X£iteg7 woraaf die Antwort: XQiitrjqov,
4) Ebendas. heisst es sie sei yvvii . . avSQog igCatov^ ('qtogog
i^ 'AaiTig ovvoiicc Msfkvoviov.
B) Vgl. das Epigramm von Michael (In Niebahr*s Ausg. des Agath.
p. xzi), wonach die Myrlnäer ausser Agathias auch Mfiivoviov rox^a
Ttaaiyvrjtov xs mit einer Bildsäule ehrten.
«) Vgl. Agath. Epigr. 53 f.
0 Hist. II, 15.
8) Hist. II, 16, p. 99.
#
238 Agathias.
Byzantion zurückkehrte^). Seine Geburt mag daher ins J. 536
fallen. In Byzantion vollendete er, da Berytos gerade um diese Zeit
durch ein Erdbeben zerstört worden war, ohne Zweifel den fünf-
jährigen juristischen Cursus^); wenigstens l>efand er sich im
J. 558 während eines Erdbebens in dieser Stadt (s. Hist. V, 3).
Nach Beendigung dieser Studien wurde er daselbst Advokat;
daher sein Beiname ZxoXaCtvxog, Diess war er wenigstens in
der Zeit da er seine Geschichte verfasste (vgl. III; 1, p. 138);
aber es ist wahrscheinlich dass zwischen dem Studium und der
Advokatur noch andere praktische Wirksamkeit in der Mitte lag.
Auch fällt in diese Zeit der erste Theil seiner lilerarisclien Thätig-
keit. Er sagt in dieser Beziehung selbst von sich^): itvyxccvov
ix aeccidiov t^ i^po>f9 ^v&iiä uvsifLdvog Kcci [i^s iJQSöxsv xä
ifiv^^ttt xäv rijg TtoLi^ttK'^g xoitilfsvfiatcüv, xal zolvw
nsxolriftaC iiol iv i^afihQOLg ßgccxda axxa noir^iiaxa & d^
^atpviaxä in(»v6fiaffxai, iivd'ovgxvöl %Bicoixtki»,iva igcytixotg
xal xäv xotovvmv dvänXecc yorjxsviuixcDv. ido^s äi (loc Ttgö-
xsQOv xdxstvo H^Uxaivov xl alvai xal ovx axaQt Bfys xiSv
intyQa^(iäxc9v xa aQxiysv^ xal vscixega öiakav^-
vovxa ixi xal x^^^^ oirtcuöl Ttaq^ ivioig vxoi^idvQiißiisva
dysiQaiitl xa dg olov ra alg xavxov xal avaygi'^aifui
^xaöxa iv xciS^co dxoxaxQiiiava, xal ovv d^ xal xo&a
ILOi axxaxaXaöxai axaQÜ xa TtoXka dyavla^axa tov
li,lv dvayxalov X'^Q^'^ ^^ p^dka acanoLr^iiiva , ciXlog dh t6mg
XQogayc^yd xal ^akxxijQuc. Und Suidas s. v. 'Jya&iag sagt:
. . 6 ygail^ag xrjv ^axd Tlgoxomov UsxoQtav . . . ovx<ig Owaxa^a
xal axagä ßißkia ifi^axgd xa xal xaxaXoyddrjv, xd xa
xakovfiava da(pviaxa xal xov xvxXov^) xcSv vdov iTCiygaii-
(idxcov av aöxdg aw^^av ix xäv xaxd xacQov noir^xcSv,
Agathias hat demnach, ehe er an sein Geschichtswerk gieog,
folgende Schriften verfasst: 1) Jaipviaxd, hexametrisch in neun
Büchern (vgl. Epigr. 36: jdaq)viaxcSv ßißkav ^Aya%%ov ivvadg
al^t); 2) eine Sammlung von Epigrammen seiner Zeitgenossen;
3) viele andere (kleinere) Gedichte, auch Prosaisches. Dieses
alles ist noch unter Justinian's Regierung, also im zweiten und
^) Im vierten Jnhre seines Studiiuns bekränzte er mit drei Com-
militonen ein Bild des Erzengels Afichael und verfasste Epigr. 4 n. 23.
') Hist. prooem. p. 6.
^) lieber den Titel sagt Schol. Anthol. Pal.: 'Aiga^iov . . ov cti-
q>avog dXXa avvaymyri vi<ov intyQuiifidtav.
Leben und Schriften. 239
dritten Decennium von Agathias' Leben, vollendet; denn erst nach
d«ssen Tode Hess er sich bewegen , damit nicht sein ganzes Leben
mit nutzlosen Beschäftigungen verloren gebe, sich geschichtlichen
Studien «nd Arbeiten zuzuwenden ^). Je weniger aber sein ganzer
bisheriger Studiengang auf Historisches angelegt war, je weniger
er von Anfang darauf ausgegangen war durch Beobachtung der
Ereignisse und handelnden Personen sich auf den Beruf eines
Geschichtschreibers vorzubereiten , um so natürlicher ist dass jetzt,
nachdem er sich für dieses neue Feld entschlossen, die Vor-
arbeiten geraume Zeit in Anspruch nahmen ehe von wirklicher
Ausführung die Bede sein konnte. Und dass es Agalhias mit
diesen Vorarbeiten ernsthaft nahm beweist der Umstand dass er
die persischen Chronisten sorgfältig studierte^), beweist auch
seine Klage ^) dass es ihm unmöglich sei die für Form und Inhalt
seines Geschichtswerks wünschenswerthen Vorstudien mit Müsse
und gehöriger Vollständigkeit zu betreiben; er müsse von Mor-
gens früh bis Abends über Acten sitzen und doch noch froh sein
wenn er recht viel zu thun bekomme, weil davon sein Lebens-
unterhalt abhänge. Er konnte diesen Studien und Arbeiten nur
seine Mussestunden widmen, so dass es sicher mehrere Jahre
lang sich hinzog. Wir werden daher den Anfang des Nieder-
schreibens erst in das achte Jahrzehnt (J. 570 IT.) setzen dürfen.
Bis auf fünf Bücher brachte er sein Werk, dann schnitt der Tod
die Forlsetzung ab. Diess erhellt daraus dass Meuander (Pro-
tector) den Entschluss zu seiner Geschichte erst nach Agathias'
') Prooem. p. 11: y;,!} Ttgotfgov ig ro fvyypaqpetv TtQoijYiiai i] (lovov
i^ otov ^lovattvog 6 viog tyjv avTOHQoitOQa (istrjX^sv igxrjv 'lovanvtavov
xs^vij%6tog,
*) Hißt. II, 29.
') Hist. III, 1: 17 avyyQaq>fj , . odov ts mctl ßiov naQBQyov Ifioi
yiyvstai xal ovx ivBOxC fiOL mg ijdiata i(ißid»aai toig 7to9'oviiivoig.
Siov yuQ tovg ndlai, aoq>ovg axoXaitsgov oivaXiysa&at (iiiiija£(og eyiaxi
inccvtä TS ra i%a<itaxov ^v(iq>SQ6fisva yvtofiazBvsiv ig to dnQißhg^ xat
dvccnvv9ccv€ad'aL dvsifiivov xs d(iq>l xavxa ixsiv xov vovv %otl ilsv-
Q'BQOVy — dXX' iymys ijfi8vog iv x^ ßaciXsim axoa ßißXldt,a noXXd dmmv
dvdnXsa nal ngayfiaxcav i£ iooQ'tvov pi'ixQt k<^^ h fjXtov JnaxaSvvxa
iniieXsxm xal dvsXixxm xat X£av fihv äx^ofiat xoCg ivoxXovai4f ^ dvioificti
dl av^'i^g il (iri ivoxXotsv , mg ovx oUv xi fiot ov xmv dvct,y%aC(ov dno-
XQfivxmg i^minXccad'aL avsv novov xol dvgnctd's£ag. Vgl. Menand. Prot,
p. 439 Bonn.: ov (lot ^vfLTiQsg rjv iv x^ ßaaiXBCm axoqi 9afii^Hv xal
ftnvoxfjxi Xoymv xdg xmv ivxvyxotvovxmv olnsiovad'cii tpQOvxidag.
24D Agathias.
Tod gefasst zu haben versichert^), nachdem er unmittelbar vor-
her^) gesagt dass er erst nach Mauricius' Thronbesteigung (August
582) sich zu dem Werke entschlossen habe. Beide Data fallen
also der Zeit nach beinahe zusammen : Agathias starb im J. 582.
Dazu stimmen auch alle sonstigen Andeutungen. Das späteste
Ereigniss das beiläufig von Agathias erwähnt wird ist der Tod
des Chosroes (IV, 29). Nun starb Chosroes nach 48jähriger
Regierung, nachdem er im fünften Regierungsjahre Justinians
(531) den Thron bestiegen hatte ^), also im J. 579. Auch heisst
es IV, 29, p. 272 von dem nachmaligen Kaiser Mauricius: Mav-
QixLOs 6 IlavXov vno Tißsgtov K&vötavTlvov rov ^Pcofiaitov
avtoxQccroQog agxBiv täv xatä tr^v aco taypLdtcav JCQogzetay-
lidvog. Der Beisatz vno Tiß. Kcovav. wurde desswegen gemacht
weil der eigentliche Lauf der Erzählung noch lange nicht mit
Justinians Regierung zu Ende ist, daher die Erwähnung von
etwas unter Tiberius Geschehenem ein Vorgreifen ist; dass aber
Mauricius nicht als späterer Kaiser prädiciert wird beweist dass
das Werk noch unter Tiberius geschrieben ist, zu einer Zeit
wo Mauricius noch nicht Kaiser war, also vor dem J. 582.
Agathias ist demnach im besten Alter, etwa 46 Jahre alt, ge-
storben. Dieser Berechnung scheint zu widersprechen die Stelle
des Evagrius V, 23: tä ixofisvcc tovrco (Procop.) ^Aya%C(p rp
QTJTOQL xaVicodvvy i^ä ta noXity xal avyysvst xad*' iCgfidv
tatogritai ^ixQi i^ijs Xocypdov tov vsov TtQÖg 'PtDpiaiovg tpvy^g
xal rrlg sig rriv ai}roi; ßaöUsiav anoxataötdöscog , MavQixiov
. . vnoSe^apiivov . . ßaöiXixßg xal . . xatayayövtog , h xal
liij n& hvxov ixSsSoxorsg. Denn da Evagrius sein Werk im
J. 593 schrieb (s. Fabricius bibl. gr. VII. p. 432. not. mm. ed.
Ilarl.), so scheint nach dieser Stelle Agathias sein Werk noch
nicht herausgegeben gehabt zu haben zu einer Zeit wo er nach
unserer Rechnung längst nicht mehr lebte. Niebuhr sucht die
Schwierigkeit auf dem W^ege der Interpretation zu lösen. Er sagt^):
^) Er sagt (bei Suidas s. v. MivavdQog): opftij^i^y l%l ti^vSs avy-
ygatp^p aQ^aa^ai fisra rrjv dnoßimaiv tov 'Ayad'iov xal tijg lexoqCag
noirlßac^ai x-qv aq%r^v, (Menand. Prot. p. 439 Bonn.)
*) ib.: ifCBl Mavqimog xo ßaaiXsiov 9isdi^aaxo HQcixos , , iv xiß
xoxs iymye . . avaXoyiiofisvog '^v <ig ova ^v XQsmv avovrjxä fis «cpi-
voaxstv. mg oiv av iirj dia navtog Ttsvsfißaxolrjv ^ mQfii^d'riv inl xifvÖB
xriv ovyyQUtpriv xrJl.
8) Vgl. IV, 29, p. 271. -
*) Vita Agathiae, p. xy, not. 22.
Herausgabe seines Geschichtswerks. 241
verba sl xal fi, it. ixS. ad scriptores quos nominaverat referri
nou possunt; quae si Evagrii mens esset, ratione iubenle scri-
psisset Tvyx^'^ovöLV, sunt illa omnino mendosa et nescio qua de
re interpretanda quae Mauricii animum movere potuerit ut
supplici regi auxiiium denegaret. Das heisst: ich kann die Stelle
nach ihrer wörtlichen Erklärung nicht gebrauchen und weiss doch
auch keine andere; daher die abgegriffene Ausflucht eine Tex-
tescorruption anzunehmen. Denn dass ixv%ov vom Standpunkt des
Lesers aus gesagt ist, wie in Briefen (in dem Augenblicke da ich
dieses schrieb war die Herausgabe noch nicht erfolgt), liegt am
Tage^). Xü Wahrheit ist nichts Corruptes an der Stelle, nur der
Ausdruck ist ungenau. Die Nichtherausgabe ist nur bei Johannes
wörtlich zu nehmen , dessen Werk aber Evagrius vermöge seiner
persönlichen Verbindung mit ihm im Manuscript kannte; die Heraus-
gabe von Agathias' Werk war durch den Tod des Verfassers ver-
zögert worden oder hatte es wenigstens Evagrius noch nicht
erhalten. Diess sagt er deutlicher IV, 24: nanQuxt at äh xal
€t€Qa Tc5 NaQ0y . . Stcsq ^Aya%'C(f^ybhv yiyQaTCxav t^ qtjtoql,
ovTtco Sh ig ^(lag dtptxtai. Statt dass Evagrius von dem
einen Werk gesagt hätte: es ist noch nicht erschienen, von dem
andern: sein Verf. hat es noch nicht herausgegeben, warf er
beides zusammen in einen Ausdruck. Dasselbe hat er auch bei
den Worten a%Qv u. s. f. gethan , die grösstentheils ausschliesslich
von Johannes gelten, da Agathias nur sieben Jahre des Justinian
beschrieben hat und alles Weitere von da an^) Johannes. Wer
noch zweifelte an der Möglichkeit und Richtigkeit dieser Erklärung,
die für uns nicht zweifelhaft ist^ der musste zu der Annahme
seine Zuflucht nehmen , Agathias habe ums J. 580 die fünf Bucher
herausgegeben, darauf noch lange weiter gelebt, aber, trotz seines
rüstigen Alters und seiner wiederholt ausgesprochenen Absicht
der Fortsetzung, sein Werk noch im J. 593 nicht herausgegeben
gehabt und es auch nie gethan, so dass es ganz verloren gieng
und Menander an die fünf ersten Bücher anknüpfen musste, —
eine Annahme welche von Unwahrscheinlichkeiten wimmeln würde.
^) Vgl. z. B, Evagr. IV, 29: ort zavzGL (Gegenwärtiges) ^^a-
q)Ov xtI.
*) Vgl. Fragm. Johannis Epiph.: rä (ihv oaoc *Pani>aioC %b %al
M^dot noXsfiovvTsg dXXijXots ^na&ov xb Korl ^ÖQUCav . . y^ygoentat
'Jyad'ia kxX.
Teuf fei, Studien. 16
242 Agatkias.
Agathias' Werk schliesst sich unmittelbar an das von Procop
De bellis an. Agatbias erklärt in dieser Beziehung selbst^): rd
TcXstöta t(ov xard tovs ^Iov0xiviavov %q6vov^ ysysvriiiav(ov
BTceiSii IlQoxonC^ x^ ^toql Katöagsiad'sv ig rd dxQißhg dvayi-
yQajtzatj naQitiov ixstva iyboiye uxb Siq anoxQcivxcag slQtifLiva,
xd öh [isx^ ixBtvov (og olöv xs dul^ixiov. Und so übergeht
er auch im Laufe seines Werks alles was schon Procop beschrieben
oder erzählt hat, vgl. z. B. II, 19: & Sri lycyys itaQiTHic dito-
XQdfvxcag yaQ nov IlQOXOTtCfp xip qtjxoqi xd (lixQt xävSs dvayi-
ygaitxaL, oder IV, 15 über Rhodopolis: xavxa ÖTtotov xiva
xaxslgyaoxo xqotcov ov ^ot slgrjösxaL^ {og ö'^ ÜQOxoitvp x^
^TJxoQi aaiffDg dvaysyQaiifisva. Er beginnt daher mit Justinian's
26 Stern Regierungsjahre und fuhrt die Geschichte bis in dessen
32stes, so dass seine fünf Bucher die sieben Jahre 552 — 558
umfassen. Dass die Weiterföhrung in der Absicht des Agatbias
lag erhellt ausser vielen anderen Verweisungen auf später zu
Erzählendes besonders aus dem letzten Capitel (V, 25), wo es
heisst: dkXd (xavxa) v0xbqov (als J. 558) l^vvrjvdx&ri xaC pLoi
aiQfjöBxai Bxa0xa TCQogrixovxcag aQ^io^o^iivp ag olov xs xfi
x(Sv XQOVCDV bybokoyla. Aber nicht nur hierin hat er sich an
Procop angeschlossen sondern auch in der Darstellung, zwar
nicht ganz in der Anordnung (denn Agatbias hat mehr eine syn-
chronistische Anlage), aber z. B. in dem episodenreichen Gange
und in vielen eigenthumlichen Wendungen, wie dem häufigen SSol^i
liov ovx ano rpojrov bIvul, in der pathetisch und gewählt sein
sollenden Umschreibung des verbum finitum durch Zeitwörter
wie Syvcj , in der nachhinkenden Phrase : xovxodv ^ihv ovv Tcigi
Sg Tttj Bxdcxip q>CXov xyÖB oIb0%'(d, Agatbias spricht von Procop
mit grosser Achtung; im Vergleich mit ihm nennt er sich^ iXd-
XLiSxa Bidoxa, BtyB aga diq xal ikdxioxa^ und tritt, wo er mit
ibm nicht unbedingt übereinstimmt, bescheiden auf; aber höher
als Procop gelten ihm doch die eigentlichen Quellen, vgl. IV, 30:
Bi xal TlQOXonlco xä qtjxoql ivia xäv ivcl Kaßddy dg)fiyfj^svxa)v
BxiQcag ditr^yyaXxai^ dXV '^gitv dxoXovd^ixdov xotg IlBQCixotg
XQOvoyQdq)OLg xal xc5v iv avxotg (pBQO^avov dg dXrj&söxdQCDV
dvxtXfjJCXBOv. Und wirklich kann sich Agatbias mit Procop entfernt
^) Prooem. p 11, vgl. p. 14: iym ig rd i%öpLEVct tavtcav (das von
Procop Erzählte) stiii,
*) IV, 26.
Charakter seines Creschichtswerkes. 243
nicht messen^). Ihm fehlt Procop's klare Anschauung, sein staats-
niniiuischer Blick, sein genaues Abgrenzen der Verhältnisse, seine
Detailkenntniss. Zwar hat auch Agathias anschauliche Schilde-
rungen: so ist V, 3 die Wirkung des Erdbebens in Byzantion
lebendig, und IV, 18 ein nächtlicher Ueberfall ganz malerisch
und spannend dargestellt; die Römer schleichen in der Dunkel-
heit sich leise heran und sehen von der Wache sieben Mann um
ein Feuer herum schlafend liegen, der Achte Macht noch auf
den Ellenbogen gestutzt, aber wackelt dem Einschlafen nahe mit
dem Kopfe; da gleitet ein Römer aus und fällt zu Boden, —
vom Geräusch erweckt fährt die Wache auf und starrt hinaus in
die Finsterniss, regungslos stehen die Römer, wie angewachsen
' an den Boden. Aber Stellen dieser Art sind sehr selten bei
Agathias, desto häufiger dagegen solche die es zu fühlen geben
dass der Verfasser nicht selbst Augenzeuge war und von der
Localität keine genauere Kenntniss besitzt. So setzt er I, 8 Cumä
nach Etrurien und sagt II, 1: ysöav . . iv ösl^tä fihv i%ovxeq
ttt TvQörivixa xekayri^ ixl ^dxBQa Sh avrotg TcaQSxizavro oC
xov ^loviov TcoXnov ^tjy^tvsg. Dagegen macht sich im Materiellen
wie im Formellen der Dichter auf eine unerwünschte Weise geltend.
Im Materiellen , sofern er mit seiner Phantasie die Darstellung des
Wirklichen trübt ^) und die klaren Umrisse verwischt und ver-
wäscht. So stellt es Ag. I, 1 dar als ob nach Besiegung des
Wittigis die Gothen ganz gemütlich hingegangen wären wohin
es jedem beliebte^), während nach Procop. Goth. IV, 35 eine
ausdrückliche Ciausel des Vertrags sie aus dem eigentlichen Italien
wegwies und auf Oberitalien beschränkte, eine Bestimmung welche
freilich nicht streng eingehalten worden zu sein scheint, indem
wir bald darauf z. B. in Cumä Gothen finden^}. Da wir indessen
wenig Gelegenheit haben Agathias' Angaben mit denen von andern
Schriftstellern zu vergleichen, so bemerken wir diese Eigen-
thümlichkeit weniger deutlich als beim Formellen , in seiner ganzen
') Niebuhfi Vit. Ag. p. xvn: quem si Procopio cum ingenio tum
civili militarique prudentia longo inferiorem esse Gibbono facile con-
cesseris, fatebere tarnen eadem ratione super ceteros omnes qui con-
secuti sunt eminere, virum autem multo meliorem esse Procopio.
«) Agath. I, 8.
^) Vgl. z. B. seine Schilderung des (letzten) Siegs von Belisar über
die Hunnen mit der nüchternen des Theophanes I. p. 361 f. Bonn«
*) ig Tovaniav xal Aiyovglav xal o ri iHccazm d'viirJQsg ts r^v xal
sl&iöiiivov ixtoQOvv.
16*
244 Agathias.
Behandlungs- und Darstellungsweise. Dahin gehört schon sein
Vorsatz nach Kräften ratg Mov0aiq tag XaQttag xara^Lyvii-
vat^), dem er auch in seiner Weise treulich nachkommt, sein
sentimentales Verweilen ' bei idyllisch anlilingenden Zuständen ^),
sein häufiges Einstreuen poetischer Blumen und Bilder^), sein
Anbringen von Citaten aus Dichtern^), seine Vorliebe für gesuchte,
poetische Ausdrücke^). Ueberhaupt ist sein Griechisch so als
wäre es nicht seine Muttersprache, sondern hätte er es aus Buchern
gelernt, aus dem Lexicon ungeschickt zusammengekehrt, so ge-
spickt ist es mit M^orten und Wendungen aus Homer, Herodot,
Pindar u. a. Je mehr aber unter den Schriftstellern dieser
Geschmack und dieser Stil einriss, um so grösser musste die Kluft
zwischen der Schrift- und der Volkssprache werden. Neben dieser
Geschraubtheit geht aber zugleich eine affectierte Nachlässigkeit
des Stiles her: Anakoluthien finden sich in Masse bei Agathias®},
wofern wir in dieser Erscheinung nicht vielmehr ein Absterben
des grammatischen Sinnes und Verständnisses, des feineren
sprachlichen Tactes zu erkennen haben. Ebenso kommt das
Wiederauffassen der Construction nach dem kleinsten Zwischen-
satze'') so oft dass es lästig wird; die Darstellung erhält dadurch
i) III, 1.
*) Wie 'I, 2 bei dem friedlichen Vernehmen der Franken unter
einander, wo er dann mit der höchst originellen und tiefen Bemerkung
schliesst: Smaioavvrj %al qnXorrjg otg &v ivrQuq)6^rj svdocifiovct r^&rjai
noXixBCav %al [loviiiov.
3) Vgl. I, 15 von dem zum Anführer einer Abtheilung ernannten Ful-
karis: ov XCav ocncavaro t^g tifi'^g, dXXd ßQocxv ti svrifieQ'qaag ägnsQ
iv ovsiQatog svqiQOövvrj xaxB^av ^<s%b }ioc'üaatQoq>'qv x^g zs ocQX^^
xcifl tov ߣov.
^) Wie aus Pindar ukqov ämtov II, 30 und Ttdorjg daxoXiag vitig-
TSQOV III, 1.
*) Z. B. düTSittp^g xal ddovtitog, x'^tog (Mangel), dovsCv (=^ %tveCv),
niavvog, ^xari, xiiiccXqtrig (= Ttfiiog), ßovnaig, dnayXat^oD^ SiaiCQvaiov,
OQ&QOv j|;a^(X(r<ro/i'£i'Ov , dq)Qoavv7ig ^^ ^^^ ddmCag i^vqitaza %xX. Eine
verhältnissmässig grosse Zahl von Wörtern kommt nur bei ihm vor;
Niebuhr hat sie im Index graecus besonders bezeichnet.
^) II, 3: TOT£ dl) Ol ^Qayyoi dcBXvSTO fisv ccitOLg ^ naQccta^ig , nard
6q>ag 81 ysvofiEvov diByCvtoo%ov mtl.
') Z. B. JI, 22: Tovg lUgaocg -^ — dXXd tovrovg ys tovg IleQattg
%xX, III, 18: Bdßag 6 atgatriyog Sg dr] röov iv x^ Kolxt^t ZfOQOi tS^v-
[livoav iiinXslaxov^Pci}fioi£(ov '^yBtxo, dXX' ovxog ys 6 Bdßag %xX. ib. 21:
ttt ((DfiocXnal Svo XQioinovxOQOi ag 9rj ^imgood'BV iq)7}V yLBvdg dv8q&v
vno xoov nsgaav dtpr^grfa&ai , avrai Sri ovv a£ xqi€C%6vtoqol hxX,
Charakter seines GescHichtswerkes. 245
etwas Gedehntes , Geschwätziges und zugleich etwas Präten-
tiöses und Gelecktes, wie wenn sich Jemand nach der kleinsten
Verrichtung die Hände wüsche. In derselben wichtigthuerischen
Manier ist die Gewohnheit des Schriftstellers das ihm im Sinne
liegende Positive durch Vorausschicken des negativen Ausdruckes
zu heben, z. B.: 171/ 01; t(Sv €QQad'V(ii]fiiv(ov 6 UaXXädLog^
äXXä 0tQat$vfiarog iiyetto ^(Qfiatxov^) u. dgl. Natürlich lässt
er auch nicht gern eine Gelegenheit Reden einzuflechten un-
benutzt; z. ß. lässt er I, 16 den Narses eine ausfuhrliche kunst-
gerechte Rede . halten , nachdem er unmittelbar zuvor gesagt dass
Narses sich auf solche Dinge gar nicht verstanden habe, — womit
der eitle Schriftsteller andeuten will dass die Rede sein eigen
Werk, seine freie Schöpfung sei. IV, 3 — 10 ergreift er die Ge-
legenheit des Processes über die Mörder des lazischen Königs
Gubazes um wortreiche Gerichtsreden, der Ankläger und der
Angeklagten, anzubringen. So hat er auch die verkehrte An-
sicht, die Zuthat seiner Reflexionen für etwas Wesentliches und
Nothwendiges zu halten. Er erklärt I, 7: iiioiys xal Xiav agdöxsi
aitavta ig (ii0ov ayeiv tä €yv(o0(idva, xal rä fihv %QriCxa
täv stQay(idtcav iv iitaivfp novBt0%'aiy xäv Se ov%l xoiävSs
xcctrjyoQstv avaq)av8ov xal tb ä*5v(i(poQov ÖLBkiyxsiv; denn
bestände die Geschichte in nackter Erzählung der Thatsachen,
wodurch wurde sie sich von den Märchen unterscheiden die man
zur Spindel erzählt? Er betrachtet demnach die Geschicht-
schreibung als eine Veranlassung seine verschiedenerlei Kennt-
nisse und Gedanken oder Einfalle an den Mann zu bringen. Die
Kritik der Ereignisse, welche er zugleich in der Stelle verspricht,
hält sich sehr im Zahmen: die Innern Verhältnisse des Staats
berührt er fast nicht, und das was nach aussen geschah verstand
er nicht in dem Grade dass er ein solides Urteil hätte darüber fallen
können. So beschränkt sich diese ganze Kritik darauf, aus dem
religiös -humanen Gesichtspunkt Auffallendes, wie Grausamkeiten,
zu rügen'-'), über Anderes seine Bewunderung auszusprechen^).
^) I, 9, vgl. ib. 15: avS^a ov xmv aatjfKav Kai Xavd'o^vovtmv iXX'
dvdenotcctov, ebenso II, 7.
«) Vgl. IV, 19 extr.
3) I, 2: ccyapkaL avtovg (die Franken) ig tä fidXiata iyoays tmv ts
aXXatv iv ixovaiv dyad'mv xal t^g ig dXXijXovg dtTiaioavvrig ts nal
Ofiovoictg. Durch ein solches ungesalzenes äyafiai avtovg Syooys x'^g
svTioafLiag verdirbt er sich IV, 18 seine gelungenste Schilderung.
246 Agathias.
Der Verfasser von Liebesgedichten , der Sammler der literarischen
Kleinigkeiten seiner hochgestellten ZeHgenossen (z. B. des Silen-
tiarius Paulus) war auch am wenigsten der Mann das strenge
Gericht der Geschichte zu üben. Indessen fehlt es ihm keines-
wegs an gesundem Urteil, wenigstens ist ganz klug die Bemer-
kung^), Procop habe den Schritt des Arcadius, seinen unmündigen
Sohn dem Perserkönig Isdigerd anzuvertrauen, nur ex eventu
gelobt; es sei Zufall dass es gut abgelaufen sei, ein ungünstiger
Erfolg sei wahrscheinlicher und daher Arcadius' Verfahren jeden-
falls ein thörichtes gewesen. Auch von den eingestreuten Reflexionen
sind manche nicht ohne Wahrheit und Werth^), noch mehrere
aber trival und langweilig^). Unter den Episoden, die er gleich-
falls für ein wesentliches Erforderniss und einen Schmuck seiner
Darstellung hält^), zeichnet sich aus die auf (freilich indirecten)
Quellenstudien beruhende Uebersicht der persischen Geschichte
IV, 24 — 29, auf die er sich auch nicht wenig zu Gute thut
und an deren Schlüsse er die naive Verwunderung ausspricht
wie ihm dieser Excurs so ausfuhrlich gerathen sei; aber er sei
eben von der Sache fortgerissen worden. Von sich selbst spricht
unser Verfasser besonders gern, er drängt seine Persönlichkeit
auf eine Wehe vor die gegen Procops stolzbescheidene Haltung
unangenehm absticht. So hebt er gleich im Anfange seiner Ge-
schichte (Prooem. p. 9) lärmend hervor wie er es ganz anders an-
greifen vverde als alle Historiker seiner Zeit, die immer parteiisch
und einseitig seien ; er dagegen wolle unter allen Umständen die
Wahrheit zu seinem Grundsatze machen ^) ; aber es geht ihm dabei
wie mit der Vollständigkeit, die er ebenfalls verspricht®), — der
1) IV, 26, p. 265.
2) Vgl. II, 23 über die Relativität der sittlichen Begriffe; IV, 16
über ein Heer ohne Anführer; V, 5 über die Besserung ans Angst:
nuloito öl av 71 toiavtTj OQpLiq ov dmaiocvvrj ag äXrid'cog ovSl 'svasßBia
— , ttlXä iiri%avri ziq ärantog xal olov if/,noQitt atpaXsQoatdtrj i<p* ä xo
nagov d^&sv iyKpvystv nccl nagaHQOvsad'oct.
3) Vgl. z. B. n, 1 oder IV, 28 f. über das breitgetretene Thema von
der Veränderlichkeit des Glücks.
-•) in, 1.
^) Prooem. p. 10: i(iol xo dXrjd'i^sad'ai. nsgl nXsicrov Butiov ig o
^) ibid.: fi^Sfivriaofiai xmv oaa nagd xs ^Pafioiiotg %ctl xmv ßagfidgcav
xotg nXBlcxoig ig xods xov Ttocigov ingdx&ri aliaqpifyi^Tof ov fiovov vno
dvdgoov ixi ßtovvxcop xv%ov , {laXXov pihv ovv %al xmv rjdrj dnoixofidvtDV,
xocl ovSevoxt nagjjom xmv Xoyov d^imv.
Charakter seines Geschichtswerkes. 247
Wille ist gut, aber die Tbat bleibt hinter dem Willen und dem
Worte zurück. Er hat zwar gewiss nie wissentlich der Wahrheit
zuwider gesprochen, aber ebenso wenig hat er die ganze Wahr-
heit gesagt. Er hält sich in Bezug auf Justinian einfach an das
Officielle und schiebt die Gewaltthätigkeiten und Verbrechen die
er berühren muss ganz denen in die Schuhe die blos Werkzeuge
waren *). So rechtfertigt er in allen Beziehungen das Urteil
Gibbon's, der ihn im Unterschiede von Procop, dem statesman
und soldier, als poet and rhetorician charakterisiert. Glaubte
er doch selbst, es sei zwischen Poesie und Geschichtscbreibung
nur etwa ein Unterschied wie zwischen dem blauen Zimmer und
dem rothen Zimmer, und alles Unterscheidende bestehe nur in
dem Metrum; es fiel ihm daher nicht ein die Kräfte und Eigen-
schaften die er bei seiner Versfabrikation hatte spielen lassen
bei der Geschichtschreibung zu* dämpfen oder zurückzudrängen,
sondern denselben Apparat den er bei seinem Dichten angewendet
hatte nahm er auch zur Geschichtschreibung mit sich.
Das in den fünf Büchern Erzählte fällt in eine Zeit in
welcher Agathias noch zu jung war und noch zu sehr mit den
Studien beschäftigt als dass er von dem was ausserhalb Byzantion
vorgieng hätte Kunde haben können. Und da er auch später
Byzantion wenig verlassen zu haben scheint^), so kann er nur
für das Erdbeben in Alexandria (U, 15)^ auf Kos (II, 16) und
in Byzantion (V, 3) als Augenzeuge 'gelten. Für den grössten
Theil des Erzählten scheint er daher sich an die mündlichen
Berichte von Augenzeugen gehalten zu haben; vgl. III, 4: ovro
[ilv ovv xbv Fovßä^fiv xal iid rotgds (bis de caussisj dvy-
Q'^öd'aL fpaöiv oC rä dxQtßsiStata yiyvdöxetv 7CEiti0xsvii,ivoi^
— woraus hervorzugeben scheint dass ihm keine amtlichen Quel-
len zu Gebot standen. Ebenso sagt er II, 10: iiioC ttg tc5v
i7CLX(xiQC(Xiv (von Italien) iXsystov xl äg)tj yByQdq)%'ai; und zwar
war dieser Italiener in Byzantion , nicht aber Agathias in Italien,
wie daraus hervorgeht dass er im sogleich Folgenden die Unge-
•9,
wissheit äussert ob die fraglichen Distichen wirklich eine Inschrift
gewesen oder nicht vielmehr überhaupt nur gedichtet worden
seien. Für die in die Vergangenheit zurückgreifenden Einleitungen
und die gelegentlichen Bemerkungen und Excurse benützte Agathias
*) Vgl. V, 3 über Anatolius.
'] Von einem Aufenthalt in Trailers (etwa bei Gelegenheit einer Keise in
seine Heimat) II, 17: tovniygaf/b^a onsQ iytoyB iiiBiae iXd'cov dvsle^dfiTjv.
248 Agathias.
geschriebene Quellen. Als solche macht er namhaft: Asinius
Quadratus^), Diodor^), Herodot und Xenophon^)» Berosus, Athe-
nokles und Symmachiis ^] , Dio, Alexander Polyhistor und Ktesias^).
Besonders aber benutzte er persische Chroniken. Die Perser
hatten nämlich, wie Agathias ausfuhrlich erzählt^), seinem Freunde,
dem Dolmetscher Sergius, mit grosser Bereitwilligkeit alle Ur-
kunden verabfolgt um die er sie auf Antrieb des Agathias ersuchte;
daraus machte Sergius Auszüge und übersetzte sie für Agathias
ins Griechische. Hievon spricht dieser mit seiner gewöhnlichen
Eitelkeit folgendermassen: i(iol ro dxgtßhg xal zovrov nsQi
dvaXaXixtai, ix t(Sv nagd aq>iaiv (den Persern) iyys-
ygaiiiidvcDv (II, 27), und: ol^aC Sh kCav dlrid^ ravtM xad^s-
6tdvai ig ro dxQißhg €XJCS7Covri[iBvcc j wg Stj ix täv RsgCixäv
ßißXwv fistttlri^pd'evta. Aber die vermittelte Weise auf welche
die Nachrichten in Agathias' Work kamen schützte keineswegs
vor Irrthümern und Missverständnissen, an denen es auch in dem
hierauf Gebauten nicht fehlt, auch abgesehen von dem was jene
Quellen selbst in orientalischer Weise übertrieben haben '^).
Agathias' Weltansicht verdient schon um des Eigenthüm-
lichen willen was sie gegenüber von Procop bietet eine nähere
Betrachtung. Er theilt zwar dessen skeptische^) Grundrichtung,
oder richtiger, er theilt die geistige Stimmung jener ganzen Zeit,
diese Stimmung der Müdigkeit, Abgelebtheit und Resignation, von
weicher der Skepticismus nur der kräftigste Ausdruck, die con-
sequenteste und bewussteste Darstellung ist. Agathias macht diese
Stimmung geltend sowohl gegenüber von der Erkenntniss der
Natur als in theologischen Dingen. In ersterer Beziehung sagt
er II, 15, p. 98, nach Erwähnung der arisloteiischen Ansicht
vom Erdbeben: n(og av tig ig ro dxgtßig xd dtpav^ xal
*) I, 6, p. 27.
') 11, 17: rovTO dioömgog xi tpriciv 6 SiHsXtmtrjg mal aXloi mg
nXsiatoi täv naXaidiv tatOQLoygdqjoDv. Vgl. II, 25.
3) II , 31 in Betreff d«r Parasangen.
*) n, 24.
») II, 25.
6) IV, 30.
7) Z. B. IV, 25, p. 259 über die Zahl der von Sapor Getödteten.
^) Agathias beweist specielle Kenntuiss des Skepticismus. Er sagt
II, 29, p. 129 von Uranios : i]ßovXsto xriv itpSKZiKrjv naXovfiivrjv ^rjXovv
ifinsigiav nazd ts IIvQQmva xttl £e^tov tdg dno%Qiaug noieiad'ai xal
TsXog ^%Btv xriv dxagci^iav xa firidlv oxtovv oÜscd'ai Xjjnxov nad'eaxdvai.
Quellen. Weltanschauung. 249
vTCSQtSQcc ÖLayvoLfi; axöxQ'ri d} ^^fv efys toöovto fiovov
elSsifjiisv (og d'atp vä xal ßovX"^ xqblxxovi anavta diathaxtat.
{pv06ag dh aQxctg ocal mvfjöstg xal tag ixdörov täv ytvo-
lievcov ahücg 0xox€tv*filv reo loyo) xal öisQsvvav ov nav-
rskäg &XQfj(ftO'^j töcag ovSh a%aQV vo(ii0rdov^ to ys fi'^v ots-
0^al xs xal neTtoi^ivaL wg ive0tvv iq>ixi0^ai roi; ovrog fii]7tot€
dka^ovsla strj to XQfJiia xal dyba%'i0teQOv tilg SiTtk'^g ixslvrig
dyvoCag. Man solle also immerhin forschen, aber nur nicht
glauben jemals die Wahrheit erreichen zu können, eine Ansicht
welche jedes tüchtige Streben entmutigen, die Denkfaulheit aber
nähren muss. Ebenso spricht er sich V, 10 über die Ursache
der Pest aus, und V, 8 meint er, A sei zwar möglich, aber
non A doch auch nicht unmöglich. Noch viel mehr verzichtet
er natürlich in Bezug auf die göttlichen Dinge auf jede sichere
Erkenntniss. Er sagt II, 29: ot TtXetötoi . . q^ölov tt i^yovv-
' tai . . ^soXoylag iq>d7ttE6^ai^ JCQayfiatog ovtm fiaxaQiov
XB xal dvstpixxov xal fisi^ovog rj xax^ dvd'QciTtovg xal iiovc)
xä dyvoste^ai d'aviia^oiidvov , und V, 5 äussert er über die-
jenigen welche bei dem Erdbeben in Byzantion im J. 557 den
Weltuntergang prophezeiten: ixQ^'^9 olfiai, xal dosßalag (psv-
yeiv ygatpriv xovg xd xoidds ovsLQOJCoXovvxag xal firidhv
oxiovv nkiov yvciös&g itiQi x(p XQcixxovt xaxaXiiiTtdvovxag^
welche also den specißschen Unterschied des Göttlichen und Mensch-
lichen aufheben wollen. Schon aus diesen Stellen erhellt wie
Agathias' Skepticismus einen andern Verlauf nimmt als der von
Procopius; jener schliesst sich näher an die Beligion an, er hat
die dem Wirklichen abgesprochene Erkenntniss doch einem Ideellen
aufbewahrt, das aus dem Diesseits Gestrichene ins Jenseits ge-
rettet, indem er seinem Gotte vovg und ßovXii und vollkommene
yv(Dötg beilegt, während Procop's Gott blind ist und launisch
und willkürlich. Indessen für die positive Religion zeigt Agathias
trotzdem nicht mehr Interesse als Procop. Zwar finden sich bei
Jenem keine so directen Aussprüche wie bei diesem; aber das
(paal in III, 5 hat von jeher für verrätherisch gegolten^), sofern
') Ztsq>dvov rov d'sansaiov isqov — — , ov ^i} ngmtov ndlai
(paülv vnkq xmv Xg^öziecvotg agieta donovvtcov i&sXovTrjv diamv-
dvvBvcavzct imo x&v ivavttmv iiataXevad'rivcci. Bemerkenswerth sind
hier auch die ganz objectiv gehaltenen Ausdrücke £q. Soü. und ivuvz.
Vgl. Voss, de bist. gr. p. 324 ed. Westermann: gentilem fuisse praeter
alia ostendit illad (paalv quo libro III utitur cum sermo sit de martyrio
250 Agathias.
es wenn auch nicht wissenschaftliche Ueberzeugung von der Un-
geschichtltchkeit der Erzählung, so doch Gleichgültigkeit und
Fremdheit gegen die christliche Tradition beweist, was durch
die Kenntniss des neutestamentlichen ^rifiiovcd'at r^i/ ^i;%i}i/^)
keineswegs widerlegt wird, indem er diese durchaus nicht noth-
wendig aus der Quelle selbst geschöpft haben musste, und auch
wenn sie es wäre hieraus auf seine Orthodoxie noch nicht
geschlossen werden könnte. Au(ih die in jungen Jahren (als
Student) von Agathias vollzogene Bekränzung des Bildes des Erz-
engels Michael^) beweist nichts; denn wir wissen nicht ob es
nicht blos ein ästhetischer Act war , und jedenfalls wärde hieraus
nichts für die Ueberzeugung seiner reiferen Jahre folgen. Ein
nicht triftigerer Beweis wäre die Identification von Gott und
Christus, die sich im Anschluss an die Vorstellung und Ausdrucks-
weise des Volkes auch bei Agathias findet'). Hellenist war er
aber darum noch keineswegs^); im Gegentheil schämt er sich der
b. Stephani. Hanke de scr. Byz. p. 176 sagt daher geradezu: christianis
sacris addictus non fuit, während Balth. Bonifacius de rom. bist. scr.
c. 24 es wenigstens für wahrscheinlicher erklärt dass er ethnicns ge-
wesen sei.
^) III, 12, p. 165: t£ S\ %fQ8avovfi8v Sna<sccv x'qv Uagoida nQOS-
Xccfißdvovtsg , tag dl iffvxoig i^rjfjLitDiiivoi,; vgl. Ev. Matth. 16, 26: t£ yag
<oq>slsttaL avd'Qtonog idv zov tioofiov olov TtSQ^jjaji, f^v ds Tpvxv'''
avtov f i?it*tfl>'9'5 5
«) Ag. Epigr. 4.
3) So änsserlich fasst noch Niebuhr die Frage auf, als wäre damals
plattweg nnr Christen thnm und Heidenthum sich gegenüber gestanden.
Er sagt Vit. Ag. p. XVIII: mitem animum in reprehendendis alienis
sacris nisi improba sint atque immania, et indulgentiam quae errori in
huiusmodi rebus utpote non voluntario veniam tribuit, inter saevos
illius aevi furorcs vix alibi exspectares quam apud eos qui dominantium
crudelitate et saevitia vexarentur ipsi. (Wir denken zu gut von der
menschlichen Natur als dass wir meinten, in einer unmenschlichen Zeit
müsse jeder ein Unmensch sein; auch konnte das Verfolgtsein nicht
gerade mild stimmen.) Itaque(??) probabile est. gentili patre procreatum
graecauicisque studiis innutritnm et delectatum, ne legum poenis homi-
numque violentiae obnoxius esset, non opinionis vi adductum, Christianis
se adiunxisse.
^) V, 9 wird die Sophienkirche 6 iisyiatog rov &80v vsmg genannt
und II, 29 heisst es: td Bld'iapksva Qrjiidtia xov Tigsicöovog (womit
Agath. das Göttliche zu bezeichnen pflegt, vgl. z. B. II, 30. III, 22. IV, 22.
V, 5) niQL . . onotov dj] ti avxm (nicht avto£g, wie Niebuhr hat) fj
T£ qtvaig iatl ytal 17 ovala xal x6 na&TjTov xal t6 d^vyxvtov. Bekannt-
lich bezogen sich diese Fragen auf die Person Christi.
Weltanschauung. 251
althellenischen Mythen als einer svild'sta^), und spricht von der
dfiotfig und xaxodaifiovia der Opfer, wiewohl er es für schwer,
wo nicht unihffgiich erklärt hievon zu überzeugen ^). Sehr unklar
fährt er dann fort: iya (ihv yctQ 'qyovfiac iiriSiv tt elvat rd
'^do^Bvov ßofiotg aifiati ^iiaivo^ivQvg xal ^ciayi/ olid'Qp ßiccto-
täzfp * bI 8i ys uqu xal OTtovi; tä xotAds 7tQogie0%ai nitpvTtev^
äyccd'ov fihv ovx av stri ovSh ij^iegov^ aygtov di xi t6mg xal
fiavt&dsg^ Sjcotov rov ^etfiov dvanXärtovöt fiätriv of jcovrixal
xal xov 06ßov ^Evvci xi xiva xaV'Axrjv xafEQiv. Das heisst:
Opfer sind unstatthaft, weil es kein göttliches Wesen gibt welches
Gefallen hätte an dem Blute unschuldiger Thiere; gäbe es aber
ein solches, so musste das ein unfreundliches, bösartiges sein in
der Weise des Phobos der Dichter u. s. w. Scheint es hiefiach
nicht dass Agathias die Möglichkeit eines solchen Wesens, somit
der Zweckmässigkeit der Opfer, zugibt? Sein Skepticismus ist
ihm, wie es scheint, hier zur unrechten Stunde beigefallen; er
hätte wenigstens hinzufügen sollen dass ein bösartiges göttliches
Wesen undenkbar, ein innerer Widerspruch sei. Indessen fallt
er über solche Religionsformen das tolerante Urteil: iXsetiSd'aL
fiäXXov rj %aXBnalvBiS%'av dlxatoi äv bIbv xal 7tXBi0xtig fisxa-
Xay%dvBvv övyyvcifirjg S0OL drj xov dXrid'ovg dia(iaQxävov6iv^).
Es scheint überhaupt als ob die dogmatische Intoleranz schon in
dieser Zeit ausser den beim Kirchenregiment unmittelbar' ße-
theiligten nur den unteren Schichten der Gebildeten eigen ge-
wesen sei^), während die eigentlich philosophisch Gebildeten mit
^) IV, 23 sagt er, Marsyas sei mit Recht von Apollon geschunden
worden ars d-^&BVy st (itj Xiccv svtid'Bg slnetv, olmsim d's^ dvzavXiiaag.
Folgt dann eine prosaische Kritik dieses Mythus.
') I, 7: Ti)y tmv d-vaimv lOftoTijTa xal xaxo^aiftov^af' oiix olda si
olov xs loya UTiiüccad'aiy shs aXösaiv iniTsXoivto, SgitBQ diiiXsi nagd
ßaQßdgoig, stra xoig ndXcci vsvofiiüfiivoig d-soig, onotttal zmv
'EXXrjvoav id'iXovciv dyiatBtat,
3) Ibid. vgl. Julian. Ep. 52, p. 102 Heyler: iXBBiv XQ'H f^&^^ov ij
fiiüBiv tovg inl rotg (iBylctoig ngdztov-cag tianmg,
*) Vgl. II, 29 von dem philosophischen Abenteurer Uranios: noXXd-
%ig Imv UQO z^g ßaaiXBiov azoag (wo sich Processierende herumtrieben) ital
iv zoig zmv ßißXlmv i^fiBvog nmXrjzrjQioig SisnXrjtiziiEzo xofl ipkByctXrjyOQBi
ngog zovg ccvzo^i dyBigofiivovg Ttccl zavza Sri "^d Bid'iüfisva (i^fidzia
zov KQBiüCovog Tiigi dva%v%Xovvzotg * zovzoov of nXBtczoi o'dSl ig
yga(ji^fiazi.azov , olfiai , q)ott'iqaavzBg ovSl ff^v ßltp dgCazm indBSi'gzrifiBvoi
insiza (d9i6v zi ^yovvzai . . ^BoXoyiag itpanzsad^cci u. s. f. (Die ganze
folgende Schilderung dieser theologischen Disputanten gehört hierher.)
252 Agaihias.
dem orthodoxen Lehrbegrifl' entweder auf einem gespannten Fasse
standen^) oder ihn sich möglichst vom Leibe hielten (wie Procop
und Agathias). Statt dessen hat Agathias sich ein System all-
gemeiner Religiosität eingerichtet, so ziemlich in der Manier der
drei Begriffe Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Den Begriff
Gottes fasst er als den eines freundlichen, milden Wesens^), das
alle Dinge geordnet hat^) und noch jetzt lenkt ^), dessen Sein
und Thun aber für den endlichen Verstand nicht weiter als im
Allgemeinen erkennbar ist^). Das Jenseits ist ihm der Ort wo
die Scheidung der Guten und Bösen vorgenommen wird, der
Schauplatz der Vergeltung^). Die Freiheit endlich sucht er zu
wahren gegen den Fatalismus. Diess führt er gleich zu Anfang
seiner Geschichte aus. Ein ewiger Friede sei (sagt er I, 1)
unmöglich: attiov Sl olfiat roiJt(ov ovx otcsq oC ;roAAo/(?)
(paCiv a6xiQ(QV xe icoQslag xal td (ispiaQiiivov (= eCuaQfiivri)
Kai tLvccg JCaQakoyovg dväyxag. aL yctQ td Ttjg ^eytQcaiistn^g
iv nMiv vtxcitj, dq)aLQBd'€irj dh r(DV dvd'gdxcav td tcqo-
aiQBtov xal ixovöLOv^ TCaQaivitiBig ^hv aicdcag xal tsp/ag
xal ötSa^xaXCag xsvd xal axQrj0ta vofiLOvpLsv, oixi]0ovtaL dh
q)QOvdoL xal axaQitoi aC täv aQiCta ßcovvtcav ikjcidsg. Mit
anerkennenswerther Klarheit überschaut hier Agathias die prak-
tischen Consequenzen des Fatalismus: es sei damit die Willens-
freiheit und durch diese die Sittlichkeit für das Bewusstsein auf-
0 Vgl. II, 30: (ot ngmtoi) tmv iv x<ü nad"' '^iiag XQOvo) q)iXoöoq)7J-
advtcov y inuSr^ ctvxovg ^ nagd ^Pafiaioig HQOCtovoct inl tm ngeirtovi
do^a ovn rjgsauev, äovzo xb xiqv IIsgöiKrtV nolixsiav woXlA slvat dfiei-
vova (und wanderten nach Persien aus).
*) I, 7 (s. S. 251, A. 2) und I, 1 p. 15.: ov9\ xo Q-Hov atxtov, äg
ys ifil ytyvmatisiv, tpovmv xb xal cviinloncov •qyBieQ'txi ngogi^uBi, x6
yag dya&ov i%Btvo xal dls^itiaTiov tpoviov xb xal tpiXonoXBiiov ovx* iv
iyooyB ^jjffatfti ovxb sinovxi TCiaxsvaaifii,
») II, 15 vgl. oben S. 248 f. '
^) Vgl. in, 22: fiLHQOv yB anavxBg avxov StBtpd'dgriaocv , bI [iij xig
avxovg ixsga Siiamas yvoifiri in xov ngBtzxovog iniggmad'BLacc. Ib. 24:
noXsfiogf . . ngctyfia . . ddrjXoxtxxov . ., (idXiOxa Sb ndvzmv d'siag xivog
xal vnsgxsgag dvdyv,rig dnrjgxrjfisvov.
^) II, 29, s. S. 251, A. 4. Daher er auch allgemeine Bezeichnungen,
wie x6 ^Btov, x6 %gBic<50Vf vorzugsweise anwendet.
^) V, 4, p. 287: xr^v dXfi&Baxdxriv ßdaavov xe xal dvxiäoaiv xmv
ivxavd'a ßsßKOfiBvcov ijxig noxi iaxiv inBiüB iXd'ovxsg BlaoiiBd'ct,
Weltanschauung. 253
gehoben^). Freilich ist diese Widerlegung nur theilweise eine
Widerlegung; denn gegen den Fatalismus einwenden dass er die
Freiheit aufhebe heisst über lion A sich beklagen dass es A
negiere. Aber allerdings wird der Fatalismus durch das Leben
widerlegt; denn wir sehen dass TcaQuivicsis und dtdaöxaUat^
rechtzeitig angewandt, wirklich bestimmend oder umstimmend
wirken. Jedoch was setzt Agathias in seiner Weltanschauung an
die Stelle des Fatalismus? Auch von Gott leugnet er dass er das
Bestimmende (zum Bösen) sei, vielmehr ig nlsove^iav xb ocal
ddiTiCav al raiv dvd'Qcijccav '^v%al av^alQsxa xatolt^d'ccL-
vovCai nokificav xb xul xaQa%^v aitavxa i(i(poQov6Lv ^ ivd'dvde
XB okBd'QOi l^Vfißttivov0L TCokXol xal yivri dvd'QcSncDV avaQ-
utaöxa ylyvBXccv xal (ivq^ul akkai todCvovxai x'^QBg. Av^al-
Qsxov xaxoki6%^alvBvv ist eine contradictio in adiecto, charak-
terisiert aber die Unsicherheit dieser Freiheitslehre, die sich doch
wieder gern an eine Nothwendigkeit anlehnen möchte. So kann
Ag. auch seinen Gottesbegriif nicht rein erhallen von fatalistischen
Zuthaten; er fasst den Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe
nicht, wie er consequenterweise sollte, als von Gott nach Ge-
rechtigkeit gesetzt, sondern weil sein Gott keine feste Gestalt
gewinnt, so wird von dessen Einfluss dabei nur auf unbestimmte
und unklare Weise gesprochen und als das eigentlich^ Thätige
die Nothwendigkeit genannt, aber nicht die innere sachliche,
wodurch die Strafe mit der Schuld wesentlich verbunden ist,
sondern eine äussere, transscendente, eine vTtsgxBQa dvdyxrj'^).
Unglück veranlasst zu einem Rückschlüsse auf vergangene Ver-
schuldung, zwar nicht immer mit Grund , wie Agathias selbst in
einer sehr verständigen Stelle^) beweist, aber nichtsdestoweniger
fast regelmässig diese Folgerung zieht, so dass es bei ihm zu
*) Vgl. Menand. Prot. p. 436: ij tmv ngogSoTiTi&ivziov avaynij tov
ngogöOKcivTCC gad'VfiOTSQOv diaxC%'riaLv.
*) II, 9. III, 24. ßhetorisch verdeckt II, 14: nXi^trstai Tiaigiav
— . 7t mg yccQ ovn rjiislXsv adi^ov tl xofl dyivvlg eyi^^QW^ dgäoag;
') Er widerlegt V, 4 die Yolksmeinung als sei Anatolius wegen
seiner Yergehungen vor allen Andern vom Erdbeben erschlagen worden;
da wäre, bemerkt er treffend, das Erdbeben nichts Uebles, wenn es
zwischen Schuldigen und Unschuldigen zu unterscheiden wüsste; aber
es seien damals viele noch Schuldigere in Byzantion gewesen, die
nnerschlagen geblieben-seien. Uebrigens erkennt er an dass diese Yolks-
meinung geeignet sei Yerbrechern einen heilsamen Schrecken einzu-
flössen.
254 Agathias.
einem formlichen religiösen Pragmatismus wird. So ist bei den
Franken und Allemannen die a(>%i} rs xal ävdyxri der Seuchen
und anderes Unglücks ij adixia xal ro nsQi^vßQiöd'ac JCQog
avtäv td' t6 d'sta äq)SLS<Ss xal ävd'Qoi^sta vopufia^); jenes
sind d^eijXatoL Tcotvalj und ebenso ist eine unglückliche Schlacht
eine zCctg cSv itvy%avov i^0ۧrix6rig^). Ja Ag. behauptet sogar
dass die Strafe von der Schuld mit so mechanischer Nothwendig-
keit nach sich gezogen werde dass kein dazwischenliegendes Ver-
dienst ihren Lauf hemme und die Verschuldung vergessen mache ^)»
eine Vorstellung welche an die vom blinden und unversöhnlichen
Fatum sehr nahe anstreift und den Beweis liefert wie tiefe
Wurzeln der Fatalismus im Geiste der Zeit geschlagen hatte.
i) II, 3, vgl. 1.
') II , 6. Andere Beispiele sind: II, 9: xmg ovx av tPri dgidrjXov
mg noiväs vniaxov tmv dSitiTjitdtaiv xal vnsQxiqct tig ccvtovg (lEt^Xd'ev
dvccynrj; III, 8: nmg ov Xlav dgCSriXov mg d^siov ti (ii^vtita tov dvoaiov
atnatog %%axi %d 'Ptofiaimv iaqfrjXs nXi^d"/!; IV, 19 extr. (vgl. V, 25):
ovüovv avTOig ovdh dnoivl tovto i^iidgiritai,
') IV, 22: TjiisXXs ZQOvq) vatSQOv noivdg fisydXag '^XUag dnottv-
vvvai, . . . ovölv 1} xov HQsizTOvog i^tonsvsro Sinrj , ovdl ro-vzoig (durch
seine späteren Verdienste) insiva (seine Verschaldnng) insTiaXvnTSto,
iusvs dlj olfiai, iQifSfiovvt« %al iqtvXdtrSTO (lovtiia xttl dvdyQanva
(liXQi xov %aiQOv vov %oiQ''qiiovxog,
X.
Zu Plautus.
1.*)
Den Ampbitruo hat man lange darum besonders in Ehren
gehalten weil man an ihm den einzigen Ueberrest einer fabula
Rhinthonica zu haben glaubte. Diese Auffassung desselben hat
unter Anderen Ladewig (über den Kanon des Volc. Sed. S. 23 ff.)
bestritten , wir glauben nicht mit zureichenden Gründen.**) Rhin-
thon's Eigenthümlichkeit bezeichnet bekanntlich Stephanus von
Byzanz und Eustathius durch tu rQayixd (letaQQvd'fA^^cDv sig
yakolov. Wäre das nun ausschliesslich vom Parodieren von Trag-
ödien zu verstehen , so hätte Ladewig gewonnen Spiel ; denn Paro-
dien von literarischen Erscheinungen sind nur da am Platze
wo das Publikum mit den letzteren völlig vertraut ist; hätte
daher Rhinthon griechische Tragödien parodiert, so hätte seine
Manier in Rom gewiss sehr wenig Anklang gefunden, wie auch
die einzige directe Anspielung dieser Art bei Plautus (Rud. 1, 4)
sicherlich völlig kalt Hess. Nun aber führen die Grammatiker
unter den Arten der lateinischen Komödie die Rhinthonica aus-
drücklich auf (s. Neukirch Fab. tog. p. 48), wir müssen also
doch wohl annehmen dass sie einmal in Rom eine Rolle gespielt
hat. Und das konnte sie ganz wohl, wenn sie vielmehr in einer
Parodie tragischer Stoffe bestand, d. h. darin dass grosse Persön-
lichkeiten, wie Götter und Heroen, in kleinen Verhältnissen er-
schienen und in die oft komischen Verwicklungen des Lebens
mitverflochten wurden. Diese Auffassung liegt auch dem Aus-
drucke xa tQayixcc näher als die Beziehung auf Tragödien. Das
■►) Aus dem Rhein. Mus. N. F. VIII. S. 26—34.
**) Mit besseren J. Vahlen, Rhein. Mus. XVI. S. 472 ff.
25C Plautus.
Wort tragicocomoedia (prol. 59. 63) ist übrigens woiil nur eine
(vielleicht witzig sein sollende) Erfindung des Proiogschreibers,
der tkaQOXQayfpSCa des Rhintbon nachgebildet und Ton Lutatius
zu Stal. Theb. V, 160 in gutem Glauben als Termeintlich plau-
tinische Wortbildung oder gar Kunstausdruck hingenommen und
nachgesprochen.
2.
lieber die Prologe Tor den meisten plautinischen Stucken
hat Rilschl Parerga I. S. 236 ein ebenso gerechtes als scharfes
Urteil gefällt: geschwätzige Breite, frostige Witzhascherei, Ein-
gehen in trivialen Reflexionen sind ihre hervorstechenden Eigen-
schaften. Nur den zum Trinummus hat Ritschi von seinem Ver-
dammungsurteil ausgenommen; wir möchten auch für den zur
Aulularia und zum Rudens Fürsprache einlegen. Diese drei haben
zudem die positive Eigenthumlichkeit mit einander gemein dass
sie alle einem göttlichen Wesen in den Mund gelegt werden:
beim Trinummus der Luxuria und Inopia, beim Rudens dem
Arcturus, und in dem der Aulularia dem Lar familiaris. Diese
drei Fictionen sind alle ganz passend, da sie mit dem Inhalte
des Stückes in leichtverständlichem Zusammenhange stehen. Die
beiden letztgenannten Prologe haben vor dem zum Trinummus über-
dies den Vorzug dass gegen sie keinerlei directe Verdachtsgründe
vorliegen, wie bei diesem die Nennung des Plautus und der Um-
stand dass dem Trinummus neben den Enthüllungen in I, 2 ein
Prolog völlig entbehrlich ist.
3.
Dass dieBacchides contaminiert seien haben Ladewig und
Fritzsche behauptet, ohne den Beweis dafür anzutreten. Wahr-
scheinlich wollen sie die Rolle des Lydus als aus einem anderen
Stücke entnommen darstellen, was um so weniger schwer fallen
kann da der Grundgedanke derselben ja auch in den Wolken des
Aristophanes vorkommt, während doch sonst keine Spur auf Be-
nützung der alten Komödie durch Plautus führt. Ritschi ist auf
diese Frage nicht eingegangen, so allseitig er auch das Stück
besprochen hat; er mochte sie durch den Beweis der künst-
lerischen Einheit des Stücks als von selbst erledigt betrachten.
Ueberhaupt scheint es mir als ob die Bedeutung des Contami-
nierens manchfach sehr überschätzt worden wäre> namentlich
durch Ladewig, der in seinem — übrigens höchst gediegenen —
Prolocre. Confamination. Casina. 257
'O
Artikel Plaotas io der Real-Eocyclopädie Ton Pauly (Bd. V.
S. 1728 — 1739) die plautinischen Stücke in contaminierte und
nichtcontaminierle scheidet, was schon bei der grossen UnroU-
standigkeit der Urkunden auf die sich ein derartiges Urteil
gründen muss nnzalässig erscheint, ich kann dieser ganzen Frage
nur In so weit Erhebh'chkeit beimessen als sie mit der nach den
Quellen des Plautus zusammenfallt, und ich glaube dass der
Schluss aus der Aehnlichkeit einzelner Stellen auf die Einflech-
tung der Handlung des betreffenden Stücks ein viel zu rascher
Ist, zumal da die bekannte Stelle Ton Terenz Andr. prol. 15 ff.
gar nicht berechtigt das Contaminieren als eine von den römi-
schen Dramalikern häufig befolgte Sitte zu betrachten. Und
wenn Ladewig so weit geht den Grundsatz aufzustellen (über den
Kanon etc. S. 28): „da wir wissen dass Plautus zu contaminieren
pflegte, so ist ein Stück das contaminiert sein kann wahrschein-
lich auch wirklich contaminiert'', so kann diess nur zu boden-
losen VermuttSngen führen, da schlechterdings unerweislich ist
dass das Contaminieren eine Gewohnheit des Plautus gewesen
sei. Am allerwenigsten aber, kann ich begreifen wie man das
Contaminieren als Beweis und Massstab der Selbständigkeit des
Dichters auffassen kann; denn je mehr derselbe aus fremden
Quellen geschöpft hat, desto weniger bleibt doch für ihn selbst
übrig. Ich halte es daher für unrichtig wenn Ladewig (a. a. 0.
S. 27) sagt: „die contaminierten Dramen erforderten natürlich
schon eine freiere Behandlung als die nicht contaminierten", stimme
dagegen demselben vollkommen bei wenn er (in dem Art. Teren-
tius in der Real- Encyclopädie) darin dass Terenz meistens con-
taminierte einen Beweis Ton Mangel an ErGndungsgabe erkennt,
da „Plautus durch eigene Zuthaten die Zuschauer zu ergötzen"
und dadurch den Wegfall von vielem specifisch Griechischen in
seinen Vorbildern zu ersetzen verstand.
4.
Von der Brautnachtscene In der Casina hat Ladewig im
Rhein. Museum IIL S. 186 ff. mit Recht bemerkt dass sie atellanen-
artig sei und nicht von Dipbilus herrühren könne, sondern Er-
findung des Plautus sein werde. Obscönitäten von dieser Massivität
und in dieser Ausdehnung sind in der mitUeren und neuen attischen
Komödie unerhört, überhaupt mehr Im römischen als im grie-
chischen Geschmacke. Nur aber hatte Ladewig Unrecht diese Scene
Ten f fei, Studien. 17
258 PlautuB.
für den Schluss der Casina zu halten und hierauf alle möglichen
Verniutungen über die Zusammensetzung des Stucks und das
Verhalten des Piautus zu seinem diphileischen Vorbilde zu bauen.
Dass sie nicht die ursprungliche Schlussscene ist schliesse ich schon
daraus dass alsdann die eigentliche Frage, wem Casina fortan
gehören solle, unbeantwortet bliebe; ferner aus dem Prologe und
dem Epiloge. Aus dem Prologe, sofern dieser Angaben enthält
welche über den Inhalt des Stückes, wie es jetzt uns vorliegt,
bedeutend hinausgreifen, aber zugleich das Gepräge der Wahrheit
an sich tragen, wie die von der Aussetzung der Casina und ihrer
Erkennung als Tochter der Murrliina. Ladewig meint nun zwar,
der Prologschreiber habe diese Nachrichten aus dem entsprechen-
den Stücke des Diphilus entnommen. Aber um zu einem Stücke
des Piautus einen Prolog zu schreiben der eigentlich zu einem
„in Anlage und Durchführung gänzlich verschiedenen" (Ladewig
S. 191) Stücke des Diphilus gehört, dazu wäre doch ein Mass
von Gedankenlosigkeit erforderlich wie man es ohneHriftige Gründe
von einem gewöhnlichen Menschen nicht wohl voraussetzen darf.
Ferner aus dem Epiloge; denn wenn Piautus selbst, statt die
Geschichte zu Ende zu führen, den geschürzten Knoten zu lösen,
sich begnügt hätte den weitem Verlauf in zwei Versen zu berich-
ten, so hätte er sich damit ein künstlerisches Armutszeugniss
ausgestellt. Vielmehr war der Verlauf und Schluss des Stücks
wohl ursprünglich dem in den Klerumenoi des Diphilus ähnlich.
Der Inhalt von diesen war wohl folgender. Vater und Sohn hatten
sich in dasselbe Mädchen verliebt, das in ihrem Hause — als
Sklavin — auferzogen und jetzt zur Jungfrau herangereift war.
Um nun freie ßirsch zu bekommen, schob jeder von beiden einen
ergebenen Sklaven vor, der das Mädchen heiraten sollte (das
muss aus dem Stücke des Diphilus sein, denn auf den Gedanken
von serviles nuptiae wäre Piautus von selbst nicht gekommen,
s. den Prolog v. 67 fT.j. Die Frau des Hauses nimmt entschieden *
Partei für den Sohn und dessen Candidaten, weil sie die geheime
Absicht ihres Gatten merkt (denn so unverhüllt wie bei Piautus
wird er hei dem altischen Dichter seine innersten Gedanken nicht
ausgesprochen haben). Die streitenden Theile vereinigen sich dahin,
das Loos entscheiden zu lassen (auch dieser Zug ist für Diphilus
wesentlich, wie der Titel seines Stücks beweist). Es entscheidet
für den Valer und dessen Strohmann. Der Sohn ist untröstlich,
der Alte triumphiert, die Frau sinnt auf Ränke, um die Sache
Casina. 259
dennoch zu hintertreiben. Sie theilt sich einer Nachbarin mit,
und hei näherer Erkundigung stellt sich heraus dass das fragliche
Mädchen (die ausgesetzte Tochter der Nachbarin und daher) gar
keine Sklavin ist, somit weder einer der beiden Sklaven noch
der vermählte Stalino sie zur Frau bekommen kann, sondern
einzig der Sohn, dem sie denn auch zu Theil wird. Dieses Stück
des Diphilus bearbeitete Plautus, aber im römischen Geschmacke
und für ein römisches Publikum. Er fügte die burleske Ver-
mählungsscene ein, liess jedoch dann das Stück schliesscn wie
Diphilus, nämlich mit der Verlobung von Casina und Euthynikus,
den er zu diesem Behuf am Schlüsse eintreten liess, wenn über-
haupt schon Plautus den Letzteren im Stücke selbst beseitigt hat.
Nun scheint aber bei den Aufführungen zur Zeit des Plautus der
Schlussact weniger Theilnahme bei dem Publikum gefunden zu
haben, weil ihm derselbe nach dem Hautgout der Braulnachtposse
etwas fad und matt vorkommen mochte. Als daher zu Anfang des
siebenten Jahrhunderts der Stadt das Stück wieder auf die Bühne
gebracht wurde (denn dass der Prolog für eine Aufführung in
dieser Zeit verfassl wurde ist durch Ritschi, Parerga S. 180 ff.
festgestellt) gerieth derjenige welcher dasselbe neu in Scene setzte
auf den Gedanken dass mit jener pikanten Scene da^ Stück wohl
viel effeclvoller schlösse. Es wurde demgemäss das dieser Nach-
folgende weggelassen und im Epilog zu einem ganz kurzen Be-
richte zusammengefasst, auch im Vorhergehenden alles mit der
ursprünglichen Schlussscene Zusammenhängende entfernt. Jetzt
erst wird die Rolle des Sohnes, als nunmehr entbehrlich, ge-
strichen worden sein , trotzdem dass der Prolog diess schon durch
Plautus geschehen lässt: denn die Motivierung v. 66: pontem in-
terrupit etc. klingt wie ein schlechter Witz, um schnell über eine
bedenkliche Sache hinwegzuschlüpfen. Dagegen mussten, um einen
einigermassen befriedigenden Schluss herbeizuführen, aus dem
ursprünglichen Schlüsse eine Anzahl Verse herübergenommen
werden; namentlich die Versöhnung des Stalino mit seiner Frau,
die jetzt, unmittelbar nach dem fatalen Streich den diese ihm
gespielt, unnatürlich erscheint, wird au ihrer ursprünglichen
Stelle, in der wirklichen Schlussscene, ihre zureichende Begrün-
dung gehabt haben. Da indessen hiebei der Willkür und dem
Geschmacke des Arrangierenden ein ziemlich weiter Spielraum blieb
und der eine mitaufnahm was der andere wegliess, so kam in
diese Schlussscenen Verv^irrung, deren Folge die Lückenhaftig-
260 Plautus.
keit ist in der sie auf uns gekommen sind. Aus einem Versehen
oder dem Zufalle muss man es dabei erklären dass V, 2, 47
stehen blieb: hanc ex longa longiorem ne faciamus fabulam
(vgl. Merc. V, 4, 47 ff. Pseud. I, 3, 134), was^ auf das Stuck
in seiner jetzigen Gestalt gar nicht passt, wohl aber von dem
ursprünglichen wahr sein musste, da in diesem das von Diphilus
Gebotene noch durch viele eigene Zuthaten vermehrt war. Im
Ganzen konnte der Gedanke, mit dem komischen Beilager zu
schliessen, bei den Theaterunternehmern nur Beifall Ißnden, und
so kam nur diese spätere Buhnenbearbeitung auf uns, während
der Prologschreiber das vollständige Stück noch kannte und zur
Erläuterung des abgekürzten benutzte.
0.
In der Ciste Ilaria kann es keinem Zweifel unterliegen dass
Windischmann und Ritschi (Parerg. S. 237. Anm.) Recht haben I, 2,
6 — 13 als unecht und aus 1, 3, 42 ff. wörtlich entlehnt aus-
zuwerfen. Denn in der Recapitulation I, 3, 3 f. vgl. v. 22. wird
als Inhalt der Rede der Lena einzig die Unterschiebung des Kindes
angegeben , dieselbe hatte sich also auf ihren eigenen Antheil an
den früheren Vorgängen beschränkt. Auch in sich sind die Worte
unhaltbar. Das Motiv der Trunkenheit (v. 8) war schon v. 2 f.
da, ebenso die Worte quae hinc flens abiit (v. 13) in v. 4, und
der Entschluss Alles herzhaft herauszusagen (v. 9) passt gar nicht
zu y. 11 — 13, sondern einzig zu dem Geständniss dass sie zu
dem Betrug mitgeholfen habe. Auf Anderes hat Ritschi a. a. 0.
hingewiesen. Für die Ursprüinglichkeit von I, 3, des durch das
Auxilium gesprochenen Prologs, ist es übrigens kein günstiges
Zeichen dass v. 49 ff. Doubletten sind, nämlich die Worte haec
res sie gesta est mit I, 2, 28, und valele et vincite virtute vera,
quod fecislis antidhac mit Gas. prol. 87 f., ferner dass v. 52
augete auxilia vostris iustis legibus gesetzt ist^ ohne Beziehung
darauf dass dem Auxilium die Worte in den Mund gelegt sind,
endlich überhaupt die Breite und Unbeholfenhoit der Erzählung
und die Fiction des Auxilium, welche mit dem Inhalt des Stückes
und des Prologes keinen Zusammenhang hat und völlig unmotiviert
dasteht. Mir kommt es vor als wäre dieselbe aus dem Kopfe
eines späteren Prologschreibers hervorgegangen, der die Nach-
hülfe welche der Prolog dem Versländniss der Zuschauer bietet
personificierte und sich dabei gewiss einbildete die Art des Plautus
Cistellaria. 261
Prologe einzuführen (durch die Luxuria, den Lar familiaris und
den Arcturus) sehr geistreich nachgeahmt zu haben. Ich denke
mir die Entstehung von I, 2 und I, 3 folgendermassen. Ursprung-
lich plautinisch ist I, 2, 1 — 5. 14 — 28, so viel als für das Ver-
ständniss des Folgenden, namentlich der Nachforschung des Sklaven
in II, 2 wünschenswerth ist. Für eine nachfolgende Aufführung,
nach dem Tode des Plautus, wurde I, 3 hinzugedichtet, und noch
später schliesslich I, 2 aus I, 3 ergänzt durch v. 6 — 13. Mit
dem Epilog scheint es sich ebenso zu verhalten wie mit dem zur
Casina: statt die wenig unterhaltende Verhandlung wie Alcesi-
marchus statt der jüngeren ihm verlobten Tochter des Demiphon
die ältere, mit Phanostrata erzeugte, zur Frau nimmt vor dem
Publikum vorzunehmen, ist dieser Theil des plautinischen Stücks
weggelassen und durch den kurzen Bericht ersetzt, omnes intus
conficient negotium. Also auch von diesem Stücke hätten wir
— wenigstens hinsichtlich des Schlusses — das Jheaterexemplar,
nicht die ursprüngliche plautinische Bearbeitung. Von den übrigen
Theilen des Stücks ist wenig zu sa^en, als dass sie höchst lücken-
haft sind. Was wir bis jetzt besitzen kann nicht die Hälfte des
Ganzen sein , nach der Verszahl der übrigen plautinischen Stücke
zu schliessen, auch hat Ritschi Parerg. S. 238 Anm. die Lücke auf
ungefähr 600 Verse berechnet. Merkwürdig ist in dem Stücke
namentlich das Missverhältniss zwischen der Zahl der darin auf-
tretenden weiblichen Personen und der Männer, wiewohl auch
jene nur eingeführt, nicht aber durchgeführt werden. Die eigent-
liche Braut des AIcesimarchus schwebt wie ein Schatten an uns
vorüber; vielleicht hat Ladewig Recht mit seiner Vermutung dass
das Verhältniss im Stücke aufgelöst wurde noch vor Auffindung
von Silenium. Was aus Gymnasium wird lässt sich nicht ahnen;
ein innigeres Verhältniss hat sie nickt (I, 1, 44 ff.), und so wird
sie vielleicht mit der Anerkennung abgespeist welche der Vater
des AIcesimarchus in den Mai'schen Fragmenten ihren Reizen zu
Theil werden lässt, wofern sie nicht etwa einem der schliesslich
freigelassenen Sklaven zufällt. Das männliche Personal wird schon
durch Mai's Veröffentlichung um den Vater des AIcesimarchus
sammt seinem Sklaven vermehrt; auch AIcesimarchus gewinnt
durch diese Bruchstücke an Leibhaftigkeit ein klein wenig; im
Allgemeinen aber ist auf dieser Seite das Meiste untergegangen,
namentlich über die frühere Geschichte des Demipho — wie sie
im Prologe (I, 3) dargestellt wird — Alles. Ehe jedoch Ritschi
262 PlautuB.
(las Ergebniss seiner Vergieicliung des ambrosianischen Palim-
psestes bekannt gemacht hat ist eine speciellere Beurteilung un-
möglich und vergeblich. Die vielfache Aehnlichkeit welche dfe
Handlung der Cist. mit der des Epidicus liat (Heiraten einer alten
Liebschaft, Auffindung und nachträgliche Legitimierung der ausser-
ehlich erzeugten Tochter) macht wahrscheinlich dass zwischen der
Abfassung beider einige Jahre in der Mitte liegen. Da nun der
Epid. nachweislich um 560 d. St. verfasst ist, so musste die Cist.
etwa 555 oder 565 geschrieben sein (nach dem Abstand zu schliessen
in welchem das schon im Epidicus angewendete Motiv des Doppel-
betruges in den ßacchides wiederholt ist); das Letztere ist aber
darum das minder Wahrscheinliche weil die Cist. nicht unter den
von Piautus im Aller verfassten Stücken genannt wird. Entschei-
det man sich daher für die frühere Entstehung, so hat man
vielleicht hierin einen neuen Erklärungsgrund der Beschaffenheit
unseres Textes. .
6.
Für die Datierung des Curculio hat man einen Anhalts-
punkt an der Erwähnung des aurum Philippeum (HI, 70), das
ajis chronologischen Gründen kein Dichter der neuen Komödie
kennen konnte und das den Römern selbst in grösserer Menge
erst seit dem Triumphe des Quintius Flamininus im J. 560 d. St.
(Varr.) bekannt wurde. Indessen so sicher ist dieses Anzeichen
nicht dass eine anderweitige Bestätigung jenes Ergebnisses nicht
höchst erwünscht wäre. Eine solche haben wir aber an Cure.
IV, 2, 23 ff. Hier heisst es von 'den Wucherern: rogationes
plurimas propter vos populus scivit, quas vos rogatas rumpitis,
aliquam reperitis rimam. Diess erhält eine überraschende Er-
läuterung durch die Worte des Livius (XXXV, 7): civitas fenore
laborabat, et cum multis fenebribus legibus constricta avaritia
esset, via fraudis inita erat ut in socios, qui non tenerentur iis
legibus, nomina transscriberent. . . postquam professionibus detecta
est magnitudo aeris alieni per hanc fraudem conlracti, M. Sem-
pronius trib. pl. ex auctoritate patrum plebem rogavit plebesque
scivit: ut cum sociis ac nomine latino pecuniae creditae ins idem
quod cum civibus romanis esset. Die Verstopfung dieser rima
fallt ins J. 561 d. St. (Varr.), und in dieses wird also die erste
Aufführung des Curculio zu setzen sein.
Curculio. Menaechmi. 263
7.
In Betreff des griechischen Vorbildes der Menaechmi hat
Ladewig in Schneidewin's Phiiologus I. S. 288 eine scharfsinnige
Vermutung aufgestellt. Da nämlich Athen. XIV. p. 658 F. berich-
tet dass ein dovlog (idysiQog in keiner Komödie als bei Posi-
dippus vorkomme, und doch Men. I, 3, 35. I, 4. II, 2 der Koch
Cylindrus als Haussklave der Erotion erscheint, so hat Ladewig
gefolgert dass demnach den Menächmen ein Stück des Posidippus
zu Grunde liege, das wohl den Titel jdidvfiot führte. Indessen
da ein solches nirgends genannt wird hat die Annahme wenig
Sicherheit. Auch sieht man mit Widerstreben aus einem so unter-
geordneten Umstand einen Schluss auf den Ursprung des ganzen
Stücks gezogen. Dazu kommt noch dass die Stellung des coquus
in den Menächmen sehr leicht auf Einmischung römischer Sitte
beruhen kann; denn wenngleich auch bei den Römern bis nach
dem Kriege mit Perseus die Kanstköche für ausserordentliche
Fälle auf dem macellum gemiethet wurden (Plin. N. H. XVIII, 11,
28), so war doch ein coquus von jeher im Hause, nur dass sein
Geschäft ein einfaches, ursprünglich das Brodbacken, war (Plin.
1. 1. vgl. auch Liv. XXXIX, 6 g. E.: tum coquus, vilissimum
antiquis mancipium et aestimatione et usu, in pretio esse). Und
da in den Menächmen die Zahl der Gäste nur zwei ist, und auch
diese keine Fremden sind , so begnügte sich Erotion ihren coquos
auf den Markt zu schicken, um das Nöthige einzukaufen.
8.*)
Der Prolog zu den Menaechmi ist eine Vereinigung sämmtlicher
schlechten Witze die bei den verschiedenen Auffuhrungen des
Stückes ton den verschiedenen Theaterdirectoren oder Prolog-
schreibern gemacht worden sind. Von v. 1 — 6 hat schon Brix
(S. 6 seiner Ausgabe) erkannt dass sie nicht zu derselben Redac-
tion gehören können wie v. 7 — 16; von v. 41 — 44 glaube ich
Jahrb. 1866 S.' 704 ebenso nachgewiesen zu haben dass sie aus
einer andern Fassung sind als ihre Umgebung **) , und Aehnlicbes
♦) Aus Flcckeisen's Jahrbüchern f. class. Philol. 1867, S. 32—34.
♦♦) „Die Namensändernng darch den avos ist drei- bis vier Mal be-
richtet (Inmutat nomen huic avos gemino alteri; illias nomen indit; idemst
ambobus nomen; Menaechmo nomen facit) und für dieselbe zweierlei
einander ausschliessende Motivierungen gegeben: zuerat die Liebe (dile-
2M Plautus.
wird vich wohl auch von v. 51 — 56 glaublich machen lasseo.
IHe Worte lauten dort so:
nunc in Epidamnum p^dibus redeundumst mihi,
ut häno rem vobis i^xamussim dfsputem. 50
aiqui0 quid vottrum Epidämni carari sibi
velit, audacter fmperato et dicito;
aed Ita iit det unde cürari id possit sibi.
nam nisi qai argentum d^derit nugas egerit;
qui dt^derit magis maidres nugas Egerit. 55
verum illuo redeo unde dbii, atque uno adsto in loco.
Kpidämnienais ille quem dudom dfzeram u. s. w.
Zu Anfang spricht also der Verfasser seine Absicht aus von der
vorhergehenden Abschweifung auf Epidamnus zurückzukommen
(nach E. zurückzukehren) und die Handlung des Stückes haar-
klein zu berichten, thut diess aber doch nicht, sondern macht
eine neue Abschweifung und kehrt erst von dieser zur Erzählung
der Handlung zurück, und zwar mit der gleichen Wendung
(redeundumst, redeo) und mit dem gleichen Witze (pedibus, uno
adsto in loco). Streichen wir die sechs Verse siquis quid bis
adsto in loco, d. h. theilen wir sie dem Prolog einer andern
Aufführung zu als die sie umgebenden Verse, so bekommen wir
erst einen vernünftigen Zusammenhang: nunc in Epidamnum pedibus
redeundumst mihi, ut hanc rem vobis examussim disputem. Epi-
damniensis ille quem u. s. w. So kehrt er wirklich zu Epidamnus
zurück. Die dazwischen liegenden sechs Verse sind Witzreisse-
reien, veranlasst durch die Art wie das Zurückkommen auf Epi-
xlt) zu dem verlorenen Enkel (Kamens.Menaecbmus), sodann der Um-
stand dass der avos selber Menaecbmus hiess (and seinen Namen in seinem
Ge schlechte nicht wollte verloren gehen lassen). Und während inmutat
und indit, sowie nachher nomen facit, den Standpunkt des avos fest-
halten, so hat das in der Mitle liegende idemst ambobus nomen eine
unpersönliche, sachliche Formulierung. Dazu kommt Kleineres, wieder
Tempuswechsel zwischen inmutat und dilexit, das unmittelbare Auf-
einanderfolgen von alteri und alterum an der gleichen Versstelle. Kurz,
wir haben hier zweierlei Red&ctionen für verschiedene Aufführungen
der Menächmen. Der einen gehören die Verse an: inmutat nomen
huic avos gemino alteri. Menaechmo idem quod alteri nomen facit, wo
das unbestimmte inmutat seine naturgemässe nähere Bestimmung er-
hält und die beiden Praesentia sich auf einander beziehen; aus einer
andern Fassung aber sind die dazwischen liegenden vier Verse , 41 — 44,
falls man diese nicht selbst wieder in zwei Redactionen auseinander-
legen will."
Menaechmi (Prolog). 265
damnus ausgedruckt war ^ eine Variation darüber, eine Ausführung
und ein Breiltreten dieses Witzes. Nachdem dasselbe als ein
körperliches Geben nach Epidamnus bezeichnet war, wurde daran
von einem andern Verfasser der Witz angereiht: wer mir daher
eine Commission dorthin mitgeben will thue es immerhin; nur
aber heisst es dort: „point d'argent, point de Suisses." Wer
mir daher kein Geld mitgibt ist ein Narr; wer mir aber Geld
mitgibt ist ein noch grösserer Narr, denn er bekommt es nie
wieder zu sehen (huius argenti dam n um faciet). Dass dieser
Witz dem ursprünglichen Zusammenhange fremd ist wird auch
aus seiner Wiederkehr im Prolog des Poenulus (v. 79 fif.) wahr-
scheinlich: er konnte jedesmal angebracht werden so oft von.
einem redire, revorti in Zusammenhang mit einem Ortsnamen
die Rede war, und wurde denn auch von seinem Urheber wieder-
holt angebracht, im Prolog zum Poenulus wenigstens ohne Störung
des Zusammenhangs, in dem zu den Menächmen aber am ungeeig-
neten Orte. So ist noch ein anderer Witz von ähnlicher Sorte,
die Berufung auf einen Augenzeugen, im Prolog des Poenulus
(v. 62 f.) mit dem Zusammenhange fest verwachsen, in dem der
Menächmen (v. 22 f.) ohne alle Störung wegzulassen, so dass
auch die letzteren beiden Verse voa dem Witzfabrikanten her-
zuröhren scheinen der den Poenulusprolog verfasste und der für
eine von ihm geleitete Aufführung der Menächmen den vorge-
fundenen älteren (aber gleichfalls nachplautinischen) Prolog mit
seinen Erfindungen bereichern zu müssen glaubte. Aus derselben
Fabrik stammt wohl auch v. 72 — 7$ des Menächmenprologs;
wenigstens haben die Verse ganz den gleichen excurrierenden
Charakter und dieselbe Nuance von \^tz. Durch diese Verse
ist wohl der ältere Schluss verdrängt Verden, in welchem die
Handlung des Stuckes weiter erzählt war, mtsprechend den Versen
8 — 10 des akrostichischen Argumentum, tämlich die fortwähren-
den Verwechslungen welche die Ankunft des Zwillingsbruders
herbeiführt und deren schliessliche Lösung. Der Verfasser dieses
älteren, die Handlung kurz (v. 6) aber vollständig darlegenden
Prologs hat gewiss nicht für nöthig gefunden nach allem Erzähl-
ten noch ausdrücklich zu sagen dass die Uadt die man sehe
Epidamnus sei. Diese Bemerkung rührt von demjenigen Prolog-
schreiber her welchem es darum zu thun wa\ den Witz quando
alia agetur, aliud fiet oppidum u. s, w. anzubringen.
266 Plautiu.
9.*)
Die Verse Meo. 152—157 sieben in deo Handschriflen durchaus
in der richtigen Ordnung, und es bedarf weder der Umstellung von
Ritschi noch der von Brix. welche letzlere geradezu unTerständlicli
ist, trotz der ausführlichen Erklärung. Wohl aber ist vor 152 ein
Vers ausgefallen. Der Parasit hat sieb geweigert dem Henächmus
weitere Coropliroente zu machen, bis er wisse wozu und wofür;
zumal da derselbe Händel mit seinfr Frau habe (und in Folge
dessen auswärts esse, so dass für den Parasiten nichts zu hoffen
ist). Darauf halte nun Menächmus .den Parasiten in dem aus-
gefallenen Verse beruhigt: „oh, was diess betrifft brauchst du
dir keine Sorgen zu machen: ick werde schon ein Plätzchen
finden,
dam üzorem abi sepdlcram habeamas, bdnc conburamus diem
(ganz nach Bb, nur unter Streickung von atque vor hunc, mit
Brix): wo wir hinter dem Bücken meiner Frau, wenn der Tag
todt (todtgeschlagen «» zu Ende) ist, ihm einen Leichenschmaus
halten können." Das leuchtet dem Parasiten ein, und er treibt
nun zur Eile:
dge sane igittur, qaindo aeqium oras, qadm mox incendö rogum?
dies qaidem iam ad ümbilicanst dimidiatns m6rtnos.
„das ist ein Vorschlag zur Güte, das lässt sich hören: wann
machen wir aber damit dei Anfang? Es ist höchste Zeit dafür
Vorkehrung zu treffen , da es schon Mittag ist" Darauf Henäch-
mus: „am Aufschub bist air du selbst Schuld mit deinem Drein-
reden":
t^ morar«, mfhi qaom obloqnere.
Der Parasit beeilt sich nun hoch und theuer zu versichern dass
es ihm gewiss entfernt licht einfalle dem Menächmus dreinreden
zu wollen:
öculum ecfodito s^moram
mihi, Menaechme, ii üllam yerbum fdxo, nisi quod iüsseria. -
So hängt alles ganz vohl zusammen.
10.*)
In der zweiten Scene des dritten Acts tritt Menächmus II
aus dem Hause derErotium, während der Parasit Peniculus von
•) Aus Fleckeiien'8 Jabrbb. 1867, S. 33 f.
♦♦) Aus Flecke&cn's Jahrbb. 1867, S. 273 f.
Menaechmi (v. 152 ff. 478 flP.)- 267
ihm ungesehen auf der Buhne ist. Die ersten drei Verse spricht
Menächmus noch ins Haus hinein, laut Erotium darüber beruhigend
dass sie die palla bald wieder, unkenntlich gemacht, zurücker-
halten solle ; nachher dankt er in gedämpftem Tone dem Himmel
dass er ihm solche Beute in die Hände jage. Peniculus sagt
während dieser leiseren Aeusserungen nach B (v. 478 f.):
neqaeö quae loquitur ^xaudire clänciilum.
satür nano loqnitnr dd me et de partä mea.
Dass im letzten Verse gleichgültig ist ob man mit BDcF parte
schreibt oder mit CDaZ parli, hat Bücheier lat. DccI. S. 50 be-
merkt. Dieser zweilc Vers fehlt aber in A; und da er ohnehin
zu dem vorhergehenden sachlich nicht passt, so ist es um so
wahrscheinlicher dass er hierher nicht gehört und nur wegen
seiner Aehnlichkeit hieher gerathen ist. Darum aber seine Echt-
heit zu bezweifeln, wie Ritschi thut, scheint mir ein zu rascher
Schluss. Ich halte es vielmehr für einen glücklichen Gedanken
von Brix, dass derselbe nach den drei Anfangsversen dieser Scene
zu setzen sei. Nur darf man weder satur in satis verwandeln
noch den Vers so erklären wie Drix thut. Ich verbinde satur
de me et de parte mea. Der erste Gedanke des Parasiten , wie
er den Menächmus von Essen und Trinken geröthet aus dem Hause
treten sieht und hineinsprechen hör\, ist dass der welcher da
spreche sich auf seine Kosten, vo| seinem Antheile satt ge-
gessen habe. Erst nachdem er seineln Aerger darüber Luft ge-
macht geht er auf den Inhalt des Ges|rochenen ein^ aber nicht
ohne nochmals auf jenen Cardinalpuncl zurückzukommen:
pallam dd phrygionem fert coniecto prdndio
vin6qae expoto, pdrasito ezcluä^ foras
und blutige Rache schwörend:
non, h^rcle, is sam qui siim, ni Wnc iniiiriam
meqne ültus palcre fdero. observa qiifd dabo.
Die letzten drei Worte hat Brix gut gerecUfertigt. Darauf folgt
des Menächmus leise gesprochener Preis ^ines Glückes, z. B.
scortum accubui, wovon Brix eine ErkläruA^ gibt die wohl nur
auf pädagogische Richtigkeit Anspruch machi^ da das Glück ein
scortum „zur Tischnachbarin'' zu haben docil nicht gross genug
ist und Catull 61, 1.67 auf eine andere Auffas)|ing führt; sodann
der Vers nequeo quae loquitur exaudire clan^ulum. Seine Be-
deutung in diesem Zusammenhange hat Brix ncht erkannt; der
Parasit darf die vorhergehende und nachfolgeniß Darlegung des
\
268 Plauius.
Meoachmus nichl hören, da er soo$t zu früh die Verwechsluog
enldeckeo wurde. Clanculum bedeutet „in meinem Verstecke,
von dem Redenden entfernt und ungesehen wie ich bin." Aehn-
lieh Asin. V, 2, 31: aucupemus ex insidiis chinculum quam rem
gerant. Wenn Ritschi das Wort mit den folgenden Worten des
Henächmus verbindet: clanculum ait hanc dedisse me sibi, so
kann diess nichl richtig sein, da er den Shawl zwar seiner Frau
clanculum surrupuit (vgl. 531 f. 56Q|, nicht aber der Erotium
clanculum gegeben hat, sondern offen vor ihrem Hause und vor
den Augen des Parasiten: s. v. 202.
V. 656 liest man bei Brix wie. bei Ritschi:
Mbn. p^r lovem deosqne 6miii8 adiaro» Axor — satin* hoc ^st tibi? —
n6n dedisse. Pa. immo h^rcle vero, nös non falsam dicere.
Dazu gibt Brix die richtige Erklärung: nos adiuramus nos non
falsum dicere. Nur musste dana auch interpungiert werden:
immo hercle vero nos, non falsum dicere. Denn der Gegensatz
liegt in den Personen: adiuro. Irnmo hercle vero nos adiuramus.
Bei der andern Interpunctionsweise wäre zu erwarten: immo vero
(adiura)/ nos non verum dicere.
11.*)
Menaechmi 590 ff. ist eine in sachlicher Beziehung sehr
merkwürdige und. schwierige Stelle. Es ist darin von den Aedilen
kurzweg als von einer richerlichen Behörde die Rede, von der
sponsio und dem praedem dare. Sie ist daher auch schon manch-
fach besprochen worden. Nur haben die welche die sachliche
Seite besprachen oft genig über die kritische Beschaffenheit der
Stelle verworrene Vorstel\ingen gehabt, und die welche den Text
festzustellen unternabmei waren nicht selten über die einschlagigen
SachverbäUnisse nicht fienügend unterrichtet oder giengen in Be-
zug auf letztere von wilkürlichen unbegründeten Voraussetzungen
aus. Solche Voraussetzmgen der Textgestaltung zu Grunde zu legen
ist im vorliegenden Frfle um so weniger gerechtfertigt und um so.
gefahrlicher, je dunUer die betreffenden Sachverhältnisse selbst
sind. Wenigstens Dir haben die eingehendsten Besprechungen
mit den scharfsinngsten und kenntnissreicbsten Romanisten als
allersicherstes Ergemiss das festgestellt dass nur so lange man
die Stelle aus sie) selbst erklärt man festen Boden unter den
*) Aas den) Rhin. Mus. XXH. S. 461— 4&6.
Menaechmi (v. 590 ff.)- 269
Füssen hat. Ich kann es daher schon nicht billigen dass Ritschi
das überlieferte aediles abgeändert hat in aedilem'*'), noch weniger
aber dass er in seiner (kleinern) Textausgabe den Vorschlag
Bothe*s ut ne sponsio aufgenommen und dadurch die Worte in
ihr Gegentheil verwandelt hat, trotzdem dassVahlen, Rhein. Mus.
XVI. S. 633 f. diese Aenderung als eine sichere behandelt. Dass
sie hiervon das Gegentheil ist erhellt aus ddn Worten condiciones
tetuli tortas, confragosas. Denn diese condiciones bilden eben
den Inhalt der sponsio; diese hatte die Form: si (hoc est, factum
est oder non est, non factum est) spondesne? sie bestand also
ganz wesentlich aus einer condicio oder mehreren, und wenn
Menächmus condiciones telulit, so hat er unzweifelhaft eine sponsio
beantragt, nicht aber eine solche verhindern wollen. Aber suchen
wir zuerst den Wortlaut festzustellen.
lieber 590 und 591 kann kein Zweifel sein dass die Octonare
so lauten:
äput aediles pro ^ias factis pliirnmisqne p^ssnmisque
dizi caassam: condiciones ti^tnli tortas, confragosas.
Denn dass A vielmehr detuli hat kommt nicht in Betracht. Die
Schwierigkeiten liegen erst in den zwei nächsten Versen. Hier
bieten die Hdss. Folgendes:
aat plus aut minus quam opus iiierat (so A, die andern erat)
mnlto (Ritschi nach Spuren des .4^ vielmehr dicto) dizeram, con-
troversiam \
ut sponsio fieret. ille qui praeden^ (so deutlich A, die andern
praedam) dedit. \
Um mit dem letztern anzufangen, so Var die Emendation quid
ille? quid? praedem dedit ganz befriedend. Da aber die lex
Thoria vom J. 643 d. St. noch die voll^e Form praevides zeigt,
so ist mehr als wahrscheinlich dass auqi Plautus sie noch ge-
kannt und angewendet hat, und ßächelei\hat daher gewiss mit
Recht quid ille? praevidem dedit gescbriefipn. Nachdem diess in
die spätere Form praedem verwandelt woi^len war, wurde zur
Ausfüllung ein zweites quid hineingesetzt, ind dieses hatte den
Ausfall des ersten in den Hss. zur Folge, i^ ersten Vers ergibt
\
*) Diess ohne Zweifel wegen apud aedilem v^587, das dort zwar
nicht unbedingt zu verwerfen ist (weil dann dr€ Arten von Fällen
unterschieden werden, criminelle, civilistische und poizeiliche), aber doch
an der Variante iudicem eine gefährliche Concuri^nz hat: vor dem
populns, einem magistratus, einem iudex. ^
\
\
\
270 PlautuB.
das was die Hss. bieten um zwei Silben zu viel; Ritsclil hat
daher die beiden aut gestrichen:
plus miniiB quam opas foerat dicto dixeram etc.
Aber da Men5chmus Eile halte um zu dem bestellten Essen zu
kommen, so wird er sich in seiner Rede gewiss nur auf das
Nolhwendige beschränkt und genau nur so viel gesprochen haben
als die Sache unumgänglich verlangte, nicht mehr, aber — ge-
mäss seiner Pflicht als palronus — auch nicht weniger. Diess
heisst haut plus, haut minus, und diess ist offenbar das was die Hss.
mit ihren zwei aut meinen, plus minus würde heissen: mehr
oder weniger, wie Capl. V, 3, 18;
^heu, cnr ego plus minusque fSdci quam me aeqa6m fuit!
Warum hab' ich nicht einfach das gelhan was meine Pflicht er-
heischte , warum hab' ich mich von der Linie der Pflicht entfernt,
darunter und darüber! Dass er sich in beiden Richtungen in
seiner Rede von demjenigen entfernt habe quod opus fuerat will
Menächmus gewiss nicht sagen. Ich streiche daher lieber dicto,
zumal da es, wie auch die Verschreibung multo glaublich macht,
einer Glosse seine Entstehung verdanken kann und noch sehr
^zweifelhaft ist ob es wirklich am A eine Stütze hat. Also:
baut plus, haut minos qndm opus fuerat dfxeram.
Folgt dann im A: CONTCOüERSIAMüT || SPONSIOFIERET.
Die deutliche und auch dirch alle andern Hss. bestätigte Accu-
sativform zeigt dass der Fehler in fieret steckt, statt dessen ein
transitiver Verbalbegrifl' nölhig ist, entweder das von Ritschi in
seiner grössern Ausgabe gesetzte finiret oder Vahlen's diferret.
Dann fehlt nur noch ean, das nach ut leicht ausfallen konnte,
wenn es, wie im A, an Schlüsse der Zeile stand. Somit ergäbe
sich diese Fassung:
baut plus, baut minue quam opus fuerat dfxeram, controvörsiam
üt eam sponsiö finiret (oder diferret). quid ille? praevid^m dedit.
Ritschis Umstellung dbr mittleren Worte (in seiner grösseren Aus-
gabe) in: ut eam spoisio || controversiam flniret, gibt zwar einen
unzweifelhaft gefällij[eren Vers, lässt jedoch die Entstehung der '
handschriftlichen llsberiieferung unerklärt. Nun ist aber noch
zwischen finiret urd diferret eine Entscheidung zu treflen. Diese
hängt von der Frige ab ob das Eingehen einer sponsio eine Ver-
tagung des Procoses ist oder ein Abschluss desselben. An sich
und sachlich geviss das Erslere, sofern durch das Eingehen der
Wette der Proces nur eine andere Form erhält und auf ein an-
Menaechmi (690 ff.). 271
deres Gebiet hinubergespielt wird. Aber Menächmus hat Eile,
er möchte vom Forum fort, er möchte schlechterdings der Ver-
handlung wenigstens für heute ein Ende gemacht sehen, damit
er zu seinem Rendez -vous sich begeben kann; Alles in ihm ruft
nach Schluss; und so ist gewiss finiret das seiner Stimmung ent-
sprechende Wort, weit mehr als diferret, das die Fortsetzung
der heutigen Verhandlung in unerfreulicher Perspective zeigt.
Durch die sponsio erfolgte aber auch wirklich ein finire eam con-
troversiam, wenigstens ein vorläufiges und für die bisherige Form
der Verhandlung; es musste nun erst über das Zutreffen der den
Inhalt der sponsio bildenden Bedingungen cognosciert werden,
und damit hatte es gute Weile*). Neben dem aber dass sein eigen-
stes Interesse dem finis controversiae zudrängte durfte Menächmus
glauben mit der sponsio auch noch dem Interesse seines dienten
gerecht geworden zu sein, da er der Sponsionsformei eine solche
Fassung gegeben hatte dass sie für die Gegenpartei Fussangeln
enthielt und dieser der Beweis sehr erschwert wurde. Der Client
hätte also, nach der Meinung des Menächmus, mit beiden Händen
nach der vorgeschlagenen sponsio greifen sollen. Was that er aber
statt dessen? Praevidem dedit! Wfis heisst diess? ßrix erklärt
es: „er drang hartköpfig auf ein Hrenges Processverfahren , in
welchem er bei der Menge der ihn |)elastenden und durch drei
Zeugen erhärteten Thatsachen nothweni^ig verurteilt werden musste,
und erklärte dazu einen Bürgen stelUn zu wollen." Dieser Er-
klärung fehlt es nicht an der Autoritär bedeutender Kenner des
römischen Rechts, und ich habe sie selbst auch längere Zeit
getheilt; sie scheint mir aber nicht zustimmen zu dem folgen-
den nee:
n^c magis manuf^stam ego hominem dm^jiam ullum ten^ri vidi;
6mnibu8 male fäctis testes tr^s aderant a^rrumi.
Bei Brix' Erklärung stände zu praevidem dedit das Weitere in
einem Adversativverhältniss; und doch konnte bei einem strengen
Processverfahren lediglich kein gunstiges Er^bniss für ihn heraus-
kommen. Diess heisst aber nee nicht, soii^ern vielmehr: und
*) Dass finire technisch ist für die Erledigank eines Processes (lis)
Oder eines Streitpunktes (controversia) erhellt ais Stellen wie Plin.
£p. VII, 7, 2: si alteram litera per iudicem, ateram, ut ais, ipse
finieris. Dig. IV, 8, 8. §. 1: compromissum . . ad^niendas lites per-
tinet. ib. 19. §. 1 vom arbiter: nisi omnes controvVsias finierit, non
videtnr dicta sententia. \
272 Plautns.
ich habe auch wirklich, in der That niemals einen Menschen
mit schlechterer Sache gesehen; er hatte also, den Fall von ob-
jectivem Gesichtspunkt betrachtet, allen Grund seine Sache für
verloren zu halten und aufzugeben. Für seinen Patronus blieb
dann nur der Aerger dass der Schlingel diess nicht von Anfang
an gethan» vielmehr ihn ganz unnötbig bemuht und seine kost-
bare Zeit ihm gestohlen habe. Also ein Aufgeben ^iner Sache
finde ich in praevidem dedit, und ich kann mich dafür gleich-
falls auf einen Juristen berufen , nämlich auf Göppert , Zur Lehre
von den praedes, in der Zeitschrift ffir Rechtsgeschichte IV (Wei-
mar 1864) S. 269, welcher sagt:. „Es könnte zwar zweifelhaft
sein ob es sich hierbei vielleicht cjarum gehandelt ob sacramento
oder per sponsionem procedlert werden sollte. Aber darüber
sind weitläufige Verhandlungen nicht wahrscheinlich; die Sache
geht vor den Aedilen vor und betrifft anscheinend irgend ein
Vergehen gegen ihre Edicte. Plautus meint offenbar den Gegen-
satz zwischen gütlicher Vergleichung und Einlassung auf den Process.
Menächmus hat letzteres für seinen dienten herbeifuhren und
die Formel der einzugehenden Sponsionen zu seinen Gunsten
möglichst verdrehen wollen; der Client hat aber — und auch
mit Recht, da er vollständig überführt worden wäre • — noch im
letzte Moment eingestanden und seinem Gegner für die Streit-
summe praedes gegeben; freihch sind nun alle Worte des Me-
nächmus vergebens gewesen." Dass es sich um Delicte bandelt
erhellt aus factis pessumis, manufes(um teneri, male factis; nur
will es dazu nicht recht stimmen dass Göppert von einer „Streit-
summe " spricht. Das Sfellen eines praeves wird sich daher viel-
mehr auf die Geldstrafe (multa) beziehen mit der das betreffende
Delicl bedroht war und zu deren Zahlung der Beklagte verpflichtet
(wenn nicht geradezu condemniert) war, nachdem er die Richtig-
keit der erhobenen Klage zugegeben hatte. Das Delict war wohl
ein Polizeivergehen, die als solche vor das Forum der Aedilen
gehörten und meist nit einer Geldstrafe bedroht waren , tbeilweise
so dass auf diese lon jedem ßeliebigen (quilibet ex populo) ge-
klagt werden konnte; also eine multae petilio mittelst einer actio
popularis. Solch« Klagen waren theils Popularinterdicte zum
Schutze der Benitzung der res publicae, theils Popularactionen
auf Geldstrafen vegen öfifentlicher Delicte. Vergehen dieser Art
waren sepulcri nolatio, albi corruptio, effusum ac deiectum und
andere Gefährdungen der Sicherheit auf der via publica. In
Menaechxni 590 ff. Miles. 273
Bezug auf das erstgenannte Vergehen hiess es z. B. in dorn
prätorischen Edict Dig. XLVII, 12, 3: wenn kein unmittelbar
ßetlieiiigter vorhanden sei oder dieser nicht Klage erheben wolle,
quicumque agere volel, ei cenlum aureorum actionem dabo. Die
betreffende Strafsumme wurde, wo keine gegentheilige Bestimmung
vorlag, Eigenlhum des siegreichen Klägers. Vgl. über diesen
ganzen Gegenstand G. ßruns, die römischen Popularklagen, in
der Ztschr. f. Bechtsgeschichte III, besonders S. 369 fif. 388 IT.
405 ff. Die Popularinterdicte sind die ältere Form, und bei allen
Interdicten bestand das Verfahren zunächst stets in einem Spon-
sionenprocesse. Der Magistrat erjiess auf den Antrag des Klägers
sein Interdict; und wenn dann der Beklagte die Bechtmässigkeit
desselben bestritt und es nicht befolgte, so schlössen die Parteien
eine sponsio mit restipulatio auf Strafen darüber ab, und daraus
wurde dann beiderseits geklagt und der Unterliegende in die Strafe
verurteilt (Bruns a. a. 0. S. 395). Unsere Stelle aber bezieht sich
auf eine populäre ädilicische Strafklage, welche an sich schon
in der Literatur überaus selten sind — Bruns hat nur vermutungs-
weise als eine solche die aus dem Edicte de bestiis (Dig. XXI,
1, 42) bezeichnet und sonst nur prätotische dieser Art gefunden
— und dann ist auch der Verlauf deVselben, wie ihn unsere
Stelle zeichnet, ein höchst orgineller und durch die Anwendung
der sponsio lehrreich für die Geschichte dieser Stipulationsform.
Daher die Stelle der ferneren Beachtung liinserer Bomanisten em-
pfohlen sein möge.
12.*)
Der Prolog des Miles gloriosus (U, 1, 8 f.) enthält die
Angabe: ^Alat^fov graece huic nomen est comiediae , id nos latine
Gloriosum dicimus. Die Weglassung des Namens des griechischen
Dichters und der etwas schwankende Ausdruck^^ der an sich auch
die Annahme bioser Abstraction aus dem lateinischen Titel zuliesse,
könnte Bedenken erregen, wenn der Prolog nipht sonst manche
unverwerfliche und werthvolle Angaben enthiellp. Die Stellung
dieses Prologs weist allerdings darauf hin dass ^s mit der Ein-
gangsscene eine besondere Bewandtniss habe, wenngleich der Vor-
wurf der „Verbindungslosigkeit" nicht ganz gegkindet scheint;
vgl. ly 1, 72 (T. mit IV, 1, 2 ff. Ob nun aber \ene aus dem
Kolax des Menander genommen ist, wie W. A. B^keF meinte,
*) Ans dem Rhein. Mus. VIII. S. 34—41.
Teuf fei, Stadien. m
\
274 PlautuB.
oder ans dem Alifijöiteixrjg des Diphilns, wie Ritschi Termotete,
wird sich schwer entscheiden lassen; für das Erstere spräche
dass das was den Eingang von dem Folgenden unterscheidet die
Rolle des Parasiten ist, für das Zweite der Name des Hiles,
Pyrgopolinices. In Bezug auf die Abfassungszeit des Stücks be-
währt sich auch hier wieder Vissering's Bemerkung wegen des
philippischen Goldes, das IV, 2, 69. 72 erwähnt ist; denn anderer-
seits weist IV, 2, 28: cedo Signum, si harunc Baccharum es auf
eine Zeit hin wo die Bacchanalien zu Rom noch in vollster Bläte
standen, wenigstens noch nicht verboten waren. Das Stück fallt
somit zwischen 560 und 568, also ungefähr 565 d. St. (Varr.).
13.
Beim Poenulus läge die Annahme einer Gonlaminalion ziem-
lich nahe, wenn dadurch etwas gewonnen wäre. Denn die zweierlei
Inlriken zum Zwecke der Befreiung der Adelphasium, die völlig
unvermittelt und zusammenhangslos neben einander herlaufen und
von denen eine die andere überflüssig macht, könnten auf ur-
sprüngliches Auseinanderliegen der beiden Theile hinweisen. Zudem
erhält Adelphasium I, 2, 159 Aussicht eine civis attica zu werden
(wie auch der Beschreibung der Aphrodisien die attische Sitte zu
Grunde liegt), während doch sonst immer der Schauplatz Aetolien
(III, 3, 7: Aetoli cives; V, 2, 97), genauer Kalydon (V, 4, 8)
ist. Aber die Erfindung und Anlage des Stücks ist so durch und
durch mangelhaft dass jene beiden Eigenthümiichkeiten wohl passen-
der aus dieser allgemeinen Mangelhaftigkeit abgeleitet werden.
Namentlich die erste Intrike zeugt von einer Verworrenheit der
Rechtsbegriffe die an einem Römer unbegreiflich ist. Agorastokles
schickt einen seiner Sklaven mit 300 Philippsdor ins Haus des
Leno; dieser Sklave gibt sich für einen freigeborenen Spartaner
aus, und scheinbar glaubwürdige Zeugen bekräftigen seine An-
gaben; er händigt dem Leno das Geld für Gegenleistungen ein,
— und damit dass er ihn ins Haus aufgenommen, das Geld nicht
zurückgewiesen bat, soll nun der Leno eines doppelten Diebstahls,
von einem Sklaren und von einer Geldsumme, sich schuldig ge-
macht haben! Als ob Aneignen einer Sache, wenn man nicht
nur nicht weiss dass sie fremdes Eigenthum ist, sondern von der
man sogar das Gegentheil zu glauben zureichende Gründe hat,
irgendiiro'Die&stahl genannt würde! Um nichts zu sagen von der
kolossalen Plumpheit dass Agorastokles III, 4, 22 erklärt, er
Poenulus. 275
wolle nach einem Sklaven mit zweihundert Dukaten fragen,
damit der Leno um so eher eine verneinende Antwort gebe, weil
Collybiscus dreihundert mitgebracht, und dass die advocati lil,
5, 34 f. selbst bekennen: peristi leno; nam iste est huius vilicus,
quem tibi nos esse Spartiatem diximus! Ohnehin ist von dieser
ganzen Intrike nicht abzusehen wozu sie angezettelt wird, da ja
Agorastokles selbständig und reich ist und jeden Augenblick los-
kaufen könnte; ebenso wenig, warum sie nicht aufgegeben wird
nachdem durch die Auffindung ihres Vaters die Mädchen in Frei-
heil gesetzt sind, somit der ursprüngliche Zweck erreicht ist und
die Verfolgung jener Intrike nur noch die Bedeutung einer be-
trügerischen Gelderpressung hat. Diese Verstösse sind alle so
handgreiflich und grob dass man vor ein Paar hundert Jahren
daraus die Unechtheit des Stucks gefolgert hätte, wenn man auf
dieselben aufmerksam geworden wäre. Eine ebenso beliebte und
gleich geistreiche Folgerung ist: dass das Stück ein Jugend verr
such oder umgekehrt ein Erzeugniss der Altersschwäche sein
werde; als ob nicht auf jeder Altersstufe einem fruchtbaren,
wenn auch sonst vortrefflichen Dichter einmal etwas misslingen
könnte! Dass namentlich Plautus noch im Alter Ausgezeichnetes
zu leisten vermochte beweist unter Anderen der Pseudulus. Es
steht daher ausser allem Zusammenbog mit unserer Gesammt-
ansicht von dem Stücke wenn wir dsiisselbe den letzten Jahren
des Dichters zuweisen; vielmehr bestimmen uns hiezu die geschicht-
lichen Andeutungen, die bei dieser Kon^ödie ungewöhnlich zahl-
reich sind. Einmal das philippische Gold\ist darin nicht weniger
als zehnmal erwähnt (1 , 1, 38. 3, 6. III,. 1, 55. 2, 22. 3, 57.
4. 4. 22. 5, 26. 36. V, 6, 26), das Jahr ^60 ist also wiederum
das früheste Datum. Hieraus erhält zugleich Sparta capitur
(III, 3, 52) seine Beziehung. Wir finden ipo plautinischen Zeit-
alter Sparta zweimal erobert: im Jahre 22^ v. Chr. (532 d. St.)
durch Antigonus, und 189=565 durch Phildpömen. Von diesen
beiden Fällen ist demnach der letztere hier\ gemeint , und das
schroffe Verfahren des Siegers gegen die altberijtimte Stadt (Nieder-
reissen der Mauern u. s. w.) mochte auch unter de^ Menge so grosses
Aufsehen erregen dass der Dichter passend au^ dieses Zeitereig-
niss anspielen konnte. Zu diesem Datum stimn^ ferner die Er-
wähnung des Antiochus als noch lebend , da dieseV erst 567 d. St.
(187 V. Chr.) noch gar nicht all (er war im J. 2B4 v. Chr. sehr
jung auf den Thron gelangt) den Tod fand; una in re populi
\
\
276 Plautus.
placida atque inlerfeelis hostibus (TU, 1, 21) passte ganz gut auf
eine Zeit wo vier Triumphe hinter einander ein Gefühl von Sicher-
heit verliehen und der eine Gonsul (Fulvius) in Aetolien siegte und
Frieden schloss, der andere (Cn. Manlius) in Galatien mit solchem
Erfolge kämpfte dass noch vor Beginn des Frühjahrs (566 d. St.) ein
Vertrag mit Antiochus zu Stande kam. Ist es hienach wahrschein-
lich dass der Poenuius in demselben Jahre wie die Bacchides
(und der Miles glor.?) verfasst ist, so könnte man sagen dass der
Dichter, durch die Hervorbringiing eines so ausgezeichneten Stuckes
(oder gar mehrerer) für eine Weile erschöpft, mit seinem nächsten,
sehr bald darauf verfassten Drama wenig Gluck gehabt habe, —
wenn nicht solches Pragmatisieren überhaupt höchst mfissig wäre.
14.
Vom Budens sollte man meinen er müsse nach der Cistel-
laria und der Vidularia verfasst sein ; denn es liegt auf der Hand
dass nach seinem Inhalte einer der beiden letztern Namen für
das Stück weit passender und natürlicher gewesen wäre als der
wirklich gewählte, und es kann für die getroffene Wahl kaum
ein anderer vernünftiger Grund gedacht werden als der dass die
beiden näher liegenden Tilel durch frühere Stücke bereits vor-
weggenommen waren. Nur aber ist mit dieser Bemerkung sehr
wenig geholfen; denn von der Vidularia haben wir nur magere
Bruchstücke, und von der Cistellaria wissen wir wenigstens die
Abfassungszeit nicht. So müssen wir uns also nach andern
Anhaltspunkten umsehen. Einen solchen bietet erstens wieder
das philippische Gold (V, 2, 27), auch hier unterstützt durch
ein anderes Kriterium. Zweitens nämlich beruft sich V, 3, 26
der Leno für die Ungültigkeit der mit Gripus abgeschlossenen
Stipulation scherzhaft darauf dass er noch nicht 25 Jahre alt sei.
Das ist die aus Pseud. I, 3, 69 bekannte lex quinavicenaria , d. h.
die lex Plaetoria , aber deren Inhalt s. die Nachweisungen bei
Bein in Pauly's ßealEncyclopädie IV. S. 990 ff. Leider aber kennen
wir Zeit und Urheber dieses Gesetzes so wenig dass wir, statt
aus diesen die Abfassungszeit der beiden plautinischen Stucke
bestimmen zu können, vielmehr froh sein müssen dass aus den
letzteren auf jene einiges Licht fällt. Indessen da auch in den
übrigen Stücken Gelegenheit genug gewesen wäre auf das Gesetz
anzuspielen, es aber nie geschehen ist, und da lex quinavicenaria
ein offenbarer Spottname ist, der auf frische politische Kämpfe
Rudens. Stichus. 277
um das Gesetz hinzudeuten scheint, so ist es vielleicht nicht zu
verwegen wenn man annimmt dass die lex Piaetoria nicht lange
vor der Aufführung des Pseudulus, welche bekanntlich ins J. 563
d. St. (Varr.) fällt, also etwa 562 d. St., gegeben worden sei.
In dieses Jahr könnte man dann auch die Auffuhrung des Hudenss
setzen.
15.
Der Stichus ist ein räthselhaftes Stück. Ich will gern
glauben dass es, wie Ritschi Parerg. 1. S. 280. A. angibt, in sehr
unvollständiger Gestalt auf uns gekommen ist, wiewohl Ladewig
doch wohl des Guten zu viel thut wenn er meint das Vorhandene
sei nur etwa die Hälfte des ursprünglichen Ganzen ; aber ich sehe
nur nicht recht was das vollständige Stück weiter enthalten
haben soll, welche angefangene Handlung, welche eingefädelte
Intrike darin zu Ende 'geführt werden mochte. Sollte etwa das
ernsthaftere Herrenmahl durch das Sklavengelage verdrängt worden
sein? Oder spielte darin besonders Stichus eine Rolle und recht-
fertigte den gewählten Titel? Oder war es darauf angelegt dem
hetzerischen Alten mittelst der erbetenen Concubine eine Beschä-
mung zu bereiten? Besonders wahrscheinlich ist diess nicht, da
jener Bitte ja schon iV, 1 , 66 f. durch deren Reduction auf das
Bedürfniss einer Betterwärmung ihr Sipchel genommen ist. Die
letzten Scenen sind allerdings, wie Ritschi sagt, sehr flüchtig
skizziert; aber es scheint mir doch m ob darin eine gewisse
Absichtlichkeit zu erkennen wäre, nämlibh das Bestreben auf das
Erscheinen oder Wiedererscheinen der ^tephanium zu spannen.
Dann ist sie wohl (im Gegensatze zu V, \3, wo sie noch nicht
auffallend gekleidet war) in besonderem P\^tze, im Ballstaate er-
schienen, vgl. V, 5, 3 (f. Ferner ist bet^crkenswerth dass sie
bis zu Ende (s. V, 6, 4) nicht zum Sitzen ^ kommt, sondern bis
zum Schlüsse (V, 7, 6) fortgetanzt und gesungen wird, was so
sehr der sonstigen Gewohnheit widerstreitet <f]ass die Vermutung
gerechtfertigt scheint, es liege eben in dieser Vereinigung drama-
tischer und orchestischer Darstellung eine I^upteigenthümlich-
keit des Stückes und sie bilde einen wesentlichen und ursprüng-
lichen Bestandtheil desselben. Ein heiteres Mah\ mit Gesang und
Tanz bildete ohne Zweifel die Schlussscene in\dem Menander-
schen Stücke das dem Stichus zu Grunde liegt, n\ir aber so dass
die Theiinehmer daran die heimgekehrten Ehemänner und ihre
Frauen selbst waren, welche auf diese Weise ihr^ Freude über
278 Plautus.
•
ihre gluckliebe Heimkehr nach langer Abwesenheit und über das
frohe Wiedersehen der trotz Anfechtung treugebliebenen Gattinnen
an den Tag legten; denn in Athen, wo das Stuck spielt, ist das
höchst naturlich, da ja Alexis (bei Athen. IV. p. 134 Aj sagt,
tovro yccQ vvv idti 6ov 'Ev tatg ^A^vaig tatg xakatg ini-
XdigLOV^Anccvtsg oqxovvt svd'vg äv otvov ftdvoi/ 'OiSiirjv tS&^i.
Dass ein solches Mahl die ursprüngliche Schlussscene bildete folgere
ich daraus dass wir fortwährend fon den Vorbereitungen dazu
hören, dass z. B. Antipho sich IV, 1, 63 auf Wiedersehen beim
Mahle verabschiedet, dass überhaupt in diesem alle Fäden zusam-
menlaufen. Wozu wäre der Parasit da, wenn es nicht einmal
zum Essen gienge? Gewiss wurde dieser, nachdem er von den
Brüdern lange genug gequält war (IV, 2), endlich doch noch
mit einer Einladung begnadigt und zeigte sich nun beim Essen
in seiner ganzen Grösse. Ferner Antipho, — beim Mahle wird
er gleichfalls gepaart gewesen sein, wie seine Eidame, nämlich
mit der Flötenspielerin , die er sich IV, 1 von Pamphilus erbittet,
nachdem er schon I, 2 seine Abneigung gegen den einsamen
Wittwerstand ausgesprochen hatte. So erhalten diese beiden Zuge
ihre Bedeutung und Beleuchtung. Plautus nun wollte einerseits
den Tanz und Gesang und das Mahl am Schlüsse belassen, zumal
da die Stimmung einer solchen Scene der damaligen des Publi-
kums entsprechen mochte, sofern eben erst (553 d. St.) dem
unheilvollen zweiten punischen Kriege durch den Frieden mit
Karthago ein Ende gemacht und so auch nach langer Abwesenheit
Friede und Ruhe in das Vaterland zurückgekehrt war. Anderer-
seits aber mochte er doch nicht so schwer gegen die römischen
Begriffe Verstössen dass er Freigeborene singend und tanzend
eingeführt hätte. Er wählte daher den Ausweg Letzteres Sklaven
thun zu lassen, und setzte überhaupt ein Sklavengelage an die
Stelle des Herrenmahles, das er hinter den Coulissen vor sich
gehen lässt. In Folge dessen mussten natürlich viele feine Tisch-
reden , namentlich wohl viele Spässe von und mit dem Parasiten,
wegfallen, und die Schlussscene bekam überhaupt nun einen rohe-
ren, wilderen Anstrich, der zu dem Vorhergehenden nicht passt.
Daher das Unharmonische, Abspringende, Unbefriedigende des
Schlusses. Es ist ungefähr wie wenn man einem Mannesleibe
einen Knabenkepf aufsetzen würde. Und zwar sieht es aus als
ob Plautus bis in die Scene selbst hin an die Möglichkeit geglaubt
hätte dieselbe im Wesentlichen so zu lassen wie sie Menander gab.
Stichus. Truculentus. 279
und als wäre ihm erst bei dem wirklichen Versuche der lieber-
tragung ihre absolute Unvereinbarkeit mit der römischen Denk-
weise zum vollen Bewusstsein gekommen; denn ohne einen solchen
Hergang würde er wohl früher darauf bedacht gewesen sein dem
Stücke eine andere Wendung zu geben und die Sklaven zeitiger
einzuführen. In Folge dieser Abänderung, des Vorschiebens der
Sklaven an die Stelle der Herrschaften, bekam das Stück jetzt
auch zum Titel einen Sklavennamen. Die verhältnissmässige Kürze
des Stückes hätte dann ihren Örund in der Zeitdauer welche der
Tanz und der Vortrag eingelegter Gesangstücke einnahmen.
16.
So kurz der Prolog zum Truculentus ist, so reich ist er
an faden Witzen ; dass er von Plautus selbst nicht herrührt scheint
hervorzugehen nicht nur aus der Art wie v. 1 Plautus* Name
genannt ist, sondern auch aus v. 13 vgl. mit 20, dem Gegensatze
in welchen der Redende seine Zeit stellt zu der im Stücke selbst
geschilderten , welche Plautus stillschweigend und durch mancher-
lei Anspielungen mit seiner eigenen zu identificieren pflegt. Das
Stück selbst wird etwa ins J. 565 zu setzen sein. Denn es wird
von Cic. de sen. 14, 50 neben dem im J. 563 verfassten Pseu-
dulus als eine mit Liebe gehegte Frucht des Greisenalters von
Plautus genannt, weist ferner in diesem Zeitraum auf ein Jahr
nach Beendigung eines namhaften Kriegs hin, da I, 56 der Vers
wiederkehrt re placida atque otiosa, victis ^hostibus, den wir schon
im Pönulus, noch aus andern Gründen, i^uf das Jahr nach der
Schlacht am Sipylus bezogen, und machll endlich durch Sitten-
schilderungen wie I, 1, 45 f. (nunc lenonym et scortorum plus
est fere quam olim muscarum est cum caletur\maxume) wahrschein-
lich dass es ziemlich am Ende von Piautu^ Leben verfasst ist.
Das dem philippischen Golde (s. V, 60) enipommene Kriterium
bestände demnach auch hier die Probe. \
\
\
\
XI.
Zu T e r e n z.*)
1.
Bei der Andria hat gewiss W. Ihne das Richtige gelrofTen
wenn er (Quaest. Terenl. Bonn 1843. p. 9 (T.) die Angabe des
Schol. zu II, 1, 1: has persoaas (des Charinus und Byrrhia)
Terentius addidit fabulae, nam non sunt apud Menandrum —
auf die ^AvSqIu des Letzlern beschränkt und annimmt dass beide
Hollen dessen IIsQivd'icc entnommen seien. Die Gründe dafür
sind schlagend: die Undenkbarkeit dass Terenz gleich in seinem
ersten Stücke und nur in diesem so selbständig aufgetreten sein
sollte und dass Luscius, der über die kleinere Freiheit der Con-
tamination ein solches Geschrei erhob, hierüber geschwiegen
hätte; ferner die Gewohnheit Donat's, Stellen aus der ^AvögCa
einfach durch Menander zu eitleren ; endlich die Aehnlichkeit von
drei Versen in Charinusscenen mit solchen des Menander und
Euripides. Nur aber bat Ihne dem Schol. Unrecht gethan, wenn
er dessen weiteren Zusatz: ne XQayixdtBQOV fieret Philumenam
spretam relinquere sine sponso, Pamphilo alium ducente — als
völlig albern hinstelk. Ist der Ausdruck auch sehr ungeschickt,
so enthalten die Worte doch einen unzweifelhaft richtigen Ge-
danken. Offenbar ist nämlich die Hinzufügung der Rolle des
Charinus ein Fortschritt. Zwar geht auch in der Cistellaria des
Plautus die eine Tochter des Demipho leer aus, aber das Stück
ist so unvollständig auf uns gekommen dass ein sicherer Schluss
nicht möglich ist; und zudem bewiese dieses Beispiel nur die
Möglichkeit, nicht aber die Vortrefflichkeit eines solchen Schlusses.
Durch die Rolle des Charinus wurden nicht nur die interessanten
*; Aus den Rhein. Mus. VIII. S. 41 — 50.
Andria. Eunuchus. 28 1
Ven/\icklungen zwischen den beiden Nebenbuhlern, dem unfrei-
willigen und dem unglücklichen, herbeigeführt, sondern es bekam
auch der Schluss etwas Befriedigendes, die ganze Handlung etwas
in sich Abgerundetes. Ohne Gharinus hätte das Schicksal der
Philumena für das Gerechtigkeitsgefühl etwas Verletzendes, es
bliebe im Zuschauer die Empfindung des Mitleidens zurück, der
Schluss wäre somit kein rein heiterer, wohlthuender. Diese
Härte wollte der Scholiast durch sein TQayiKcitSQOv ausdrücken.
Wenn die Handlung der IlBQiv^Ca sich in diesem Punkte von
der der ^AvögCa unterschied, so liegt die Vermutung nahe dass
auch das Publikum und der Dichter selbst jenen Mangel fühlten
und dass eben darum Menander den Stoff zum zweiten Male
bearbeitete. An Terenz aber müssen wir den richtigen Tact
loben dass er diese Partie aus ^ex IlBQiv^Ca aufnahm, trotzdem
dass er im Uebrigen der Ausführung der ^AvSgCa den Vorzug gab.
2.
Der Prolog zum Eunuchus ist von grossem literarhisto-
rischem Werth und Ritschi hat ihn (Parerg. I. S. 99 ff.) aufs
Scharfsinnigste ausgebeutet. Von besonderer Wichtigkeit ist v. 25.
Terenz erzählt, Luscius habe einer Probe des Eunuchen ange-
wohnt und dabei ausgerufen:
farem, non poeUm fabulam
dedisse et nihil dedisse verborum tarnen:
25 Colacem esse Naevi et Plaut! vetsrem fabulam,
parasiti personam inde ablatam ei militis.
Hier nimmt sich nach der starken Behauptung furem etc. die
historische Bemerkung Golacem esse etc. sehr matt aus. Es ist
vielleicht zu schreiben:
Colacem esse Naevi et Plauti, vetelem fabulam;
d. h. dieser angebliche Eunuchus Menandri (v. 20) ist vielmehr
der Golax Naevi et Plauti, dieses angeblich neue Stück ist viel-
mehr ein längst dagewesenes, altbackenes. Der Trumpf furem
etc. wird bewiesen durch einen neuen Trumpf, die angebliche
Identität mit dem Stücke des Nävius und Plaut^s, die dann erst
V. 26 ihre nähere Erläuterung erhält. Das bei (er gewöhnlichen
Auffassung störende Herausfallen aus dem kecken y übertreibenden
und schmähenden Tone ist so beseitigt, das Giftig des Vorwurfs
geschärft; denn die Behauptung dass das Stück wesentlich iden-
tisch sei mit einem früheren und dass der Dichier somit eiq
282 Terentius.
altes Stück für ein neues sich habe bezahlen lassen , griff diesem
ans Leben, und wiewohl sie sogleich auf die Entlehnung der
charakteristischen Figuren beschränkt wurde, so musste sie, nach
dem Satze semper aliquid haeret, doch einiges Misstrauen gegen
den Dichter und sein Stück erregen. Die Folgerungen welche
Ritschi daraus gezogen hat dass es weder et Naevi et Plauti
heisse noch veteres fabulas, behalten auch so ihr volles Gewicht,
ja werden dann unabweislich; denn identisch sein kann das Eine
Stück nur mit Einem andern. Das Verhältniss der beiden Dich-
ter zu dem Einen Stücke kann man sich dann verschieden denken :
entweder als ein Zusammenarbeiten oder als ein Ueberarbeiten.
Und zwar ist das Erstere noch wahrscheinlicher als das Letztere.
Denn hätte Plautus den Colax des Nävius später überarbeitet, so
wäre das Natürlichste gewesen dass Terenz zu Vertheidigung
seines Verfahrens sich auch hier, wie im Prolog zurAndria, auf
den Vorgang des Plautus berufen hätte.
3.
Dass die Rolle des Antipho im Eunuchus eine selbständige
Erfindung des Terenz sei hat man bis auf Ihne allgemein ge-
glaubt. Denn Donat sagt zu III, 4, 1 ausdrücklich: bene inventa
persona est cui narret Chaerea, ne unus diu loquatur, ut apud
Menandrum. Von den letztern drei Worten nun hat Ihne Quaest.
Ter. p. 20 ff. nachzuweisen gesucht dass sie von einem späteren
Grammatiker der ursprünglichen Bemerkung des Donat zu deren
vermeintlicher Erläuterung beigefügt worden seien. Zwar die
Analogien die er hiefür beibringt treffen nicht ganz zu, indem
der spätere Zusatz nur bei Hec. V, 3, 27*) eine historische
Notiz dieser Art enthalt; doch lässt sich auch noch Anderes zu
Unterstützung seiner Vermutung anführen. Fürs Erste die ähn-
liche Anmerkung zuV, 8, 4: inventa persona est ad quam gesta
*) So sinnlos vie Ihne p. 23 f. annimmt ist hier die Bemerkung
doch wohl nicht. 3ie Worte nam in graeca haec aguntor, non narran-
tur bedeuten wohl ursprünglich diess dass bei ApoUodor die Erkennung
des Riiigs am Finger der Bacchis, durch Myrrhina, auf der Bühne
selbst vor sich g^ng, während Terenz sie hinter die Coulissen verlegte.
Dieser Theil der Bemerkung ist demnach nur am falschen Orte ange-
hängt, wozu vohl die Textworte: unde anulum istum nactus Anlass
gaben, da eins ähnliche Frage bei ApoUodor Myrrhina an Bacchis ge-
richtet haben wird.
Eunuchus. 283
haec narret Chaerea, ut populus et miles instruatur quid intus
gestum Sit; denn auch hier ist der Ausdruck so dass man meinen
sollte auch diese Rolle, des Parmeno, sei eine eigene Schöpfung
des Terenz, was doch entfernt nicht der Fall ist; ja nicht ein-
mal dass Parmeno bei Menander nur in dieser Scene nicht auf-
trat kann aus den Worten Donats geschlossen werden, denn ein
Monolog wäre hier unmöglich gewesen, da die Nachrichten nicht
blos Ghärea selbst betreffen. Auch diess ist bemerkenswerth dass
gerade wieder bei einem Dialog des Ghärea jene Bemerkung ge-
macht wird , vielleicht in Folge einer Ideenassociation , weil schon
einmal bei Ghärea dazu Anlass gewesen war, so dass der ursprüng-
liche Sinn der ersten gewesen sein könnte wie der der zweiten,
also beidemal eine Bemerkung über die Oekonomie des Stückes
überhaupt, nicht über das Verhältniss der terenzischen Bearbeitung
zum menander'schen Originale. Ebenso ist zu III, 5, 1 ganz
allgemein, ohne Unterscheidung von Terenz und Menander, ge-
sagt: cui (exennti Ghaereae) obvia persona obicitur sub cuius
occasione spectatoribus gesta narrabuntur. Wäre wirklich eine
Gegenüberstellung der Nachahmung und des Vorbildes in Bezug
auf diese Scene im ursprünglichen Sinne Donat's gelegen, so
hätte er wohl auch hier einen bestimn^teren Ausdruck gewählt als
obicitur. Endlich würd^ Terenz, wenu er die Rolle des Antipho
erst geschaffen hätte, dieselbe wohl wetiiger specifisch griechisch
ausgestattet haben als diess besonders h coimus in Piraeo ut de
symbolis essemus (Ilf , 4, 1 f.) der Fall i^. Entbehrlich war die
Rolle ohnehin nicht völlig; denn dass Gliärea in seinem Aufzug
sein Vaterhaus nicht betreten konnte isl klar; ebenso wenig
konnte er sich in der Stadt umhertreiben, sondern er musste
an einem dritten Orte sich wieder umzukleiden suchen, und dazu
war das Haus eines Freundes das geeignetste. Diesem musste er
dann natürlich irgendwie Aufschluss über seiiie seltsame Tracht
ertheilen , und diese Mittheilung erfolgte am p^sendsten vor den
Zuschauern^ um diesen zugleich Nachricht von dem in der Zwischen-
zeit Vorgefallenen zu geben. Da sonach die Oekonomie des
Stückes selbst die Rolle eines Freundes von Ghätea nothwendig
macht, so verliert auch die Einwendung ihr Gewick welche sich
aus dem Eingang von III, 5 entnehmen Hesse, dass nämlich bei
Menander Ghärea in dieser Scene den Wunsch und die lieber-
Zeugung gehabt habe völlig ungesehen zu sein und in lubehorch-
tem Selbstgespräche seine Erlebnisse und Thaten aizudeuten,
284 TerentiuB.
womit auch v. 13 in Widerspruch slände: oemost omnium quem
ego nunc magis cuperem videre quam te.
4.
In Bezug auf die Adelphi ist eine Hauptschwierigkeit, zu
bestimmen wo der Antheil des Diphilus beginnt und wo er auf-
hört. Ihne p. 27 will ihn auf II, 1» 1 — 42 beschränken, so
dass der Monolog des Sannio, sowie die Verhandlung zwischen
diesem und Syrus, dem Menander zufiele. Seine Gründe daTur
sind aber ausserordentlich schwach, nämlich einmal das berüchtigte
räthselhafte Fragment aiyoötrjeic, (Donat. zu II» 1» 45)» welches
nur beweist dass auch \m menander'schen Stücke Jemand miss-
handelt wurde, nicht aber dass dieser Jemand mit der Erzählung
davon selber auftrat ; sodann die augebliche Aehnlichkeit zwischen
der menander'schen Sentenz: oQiw ro yccQ a^pvcn dvctvxatv
^aviav xout mit Ad. II, 1, 43: minime miror qui insanire
occipiunt ex iniuria, — als ob aq)V(o öv6tv%stv und iniuria
einander auch nur ähnlich wären! Auf der anderen Seite spricht
gegen die Lostrennung des Monologs von der unmittelbar voraus-
gegangenen Scene der Umstand dass jener dann unmotiviert da-
stände, und die Verhandlung zwischen Syrus und Sannio ist
wesentlich um die gewaltsam begonnene Aneignung der Hetäre
zu vollenden und ihr Dauer und rechtlicne Geltung zu verleihen.
Zwar folgt hieraus zunächst nur dass sowohl bei Menander als
bei Diphilus auf die Entführung ein Abkaufen folgen musste und
dass daher II, 2 an sich sowohl aus dem einen wie aus dem
andern Dichter entnonmcn sein könnte. Indessen steht II, 2
mit Il> 1 in so vielfachem und wesentlichem Zusammenhange
dass ohne triftigen Grund eine Vertheilung derselben an zwei
verschiedene Verfaser unzulässig erscheint. Und ein solcher
Grund ist um so veniger vorhanden da man nicht einmal weiss
ob es bei Menander ein leno war dem eine meretrix entführt
wurde. Natürlich sind beide Begriffe unzertrennlich, aber eben
darum ist es unwahrscheinlich dass die Entführung bei Menander
gerade auch vjn dieser Art war, indem alsdann für Diphilus
gegenüber voi Menander nichts Unterscheidendes bliebe und man
daher erwarten sollte dass es im Prolog heisse: auch in den
Zvva%o%'VTiüKOvtSQ des Diphilus adolescens lenoni eripit mere-
tricem. ^s man dann von den Paar Worten denken mag welche
der Leno in II, 4 spricht ist ziemlich gleichgültig; jedoch ist
Adelphi. 285
•
das Natürlichste sie gleichfalls als dem Diphilus entnommen zu
betrachten, da sie nirgends unzertrennlich mit dem specißsch
Menand^'schen in der Scene verbunden sind.
In der Nachlese welche dann Ihne p. 28 ff. zu Grauert's
Vergleichung des terenzischen Stücks mit den menander'schen
Fragmenten anstellt zieht derselbe mit Unrecht in Zweifel ob
Menander's cd ^axccQLOv ^\ iyd yvvatx^ ov Xa^ßävcj (wie er
verbessert) den Worten Micio's (I, 1, 18) entspreche: et, quod
fortunatum isti putant, uxorem nunquam habui. Diese Milderung
des Urteils ist ganz bezeichnend für den römischen Dichter, und
die Art wie Donat die griechischen Worte einführt lassen keinen
Zweifel übrig dass er sie wirklich als Original der terenzischen
betrachtet. Bemerkenswerth ist indessen dass Terenz durch diese
Abänderung sich in einigen Widerspruch setzt mit einer andern,
zu V, 8, 15, wo Donat angibt: apud Henandrum senex de nup-
tiis non gravatur: ergo Terentius £VQi]tLxc5g. Was gravari be-
deute geht klar hervor aus v. 19: ne gravere (Aeschinus zu Micio),
aus welchem Donat seinen Ausdruck genommen zu haben scheint.
Bei Menander also nahm es Micio mit dem Heiraten nicht so
schwer, ergab sich leicht und schneH darein, und erst wie die
Forderungen des Demea gar kein Ende nehmen wollten wuchs
sein Widerstand. Menander blieb sich bIso darin consequent den
Micio als einen gutmütig und aufopfernd nachgiebigen Charakter
zu schildern; Terenz dagegen zog es v(\r ihn in seinem Hage-
stolzenthum, seiner Abneigung gegen die Ehe consequent sein zu
lassen, obwohl er selbst den Ausdruck dieser Anschauungsweise
I, 1, 18 abgeschwächt hatte. Hieraus erhe\lt zugleich dass Ihne*s
apriorische Behauptung ungegründet ist, Uicio (oder vielmehr
Lamprias) habe schlechterdings auch bei Men\nder sich irgendwie
gegen die Zumutung Demea's zu heiraten\ sträuben müssen,
nur werde Donat gesagt haben dass er es akders oder in ge-
ringerem Grade bei Menander gethan habe, liess ist an sich
nicht nothwendig und wird durch den Zusatz^ ergo Terentius
ev^tixdigj der auf Neuschaffung dieses Theils d^ Scene deutet,
unwahrscheinlich. \
5. \
Endlich noch über den Schluss der Adelphi, \i Bezug auf
welchen einige Andeutungen K. Fr. Hermann's in seinem scharf-
sinnigen Aufsatze de Terentii Adelphis das Bichtige^^u treffen
s
scheinen. Was Ihne über diesen Theil des Stücks sagt i^ keines-
\
286 Terentius.
wegs genügend; er meint, Deraea erfahre hier: sola largitate non
veros amicos, sed assentatores parari (p. 31). Aber wo ist auch
nur eine Spur einer solchen Unterscheidung? Wo wird ihm ge-
schmeichelt? Durch was beweisen ihm Aeschinus, Hegio u. s. w. dass
sie keine wahren Freunde von ihm sind ? Und was soll eine solche
Bemerkung beweisen? — Das Stuck ist ein Tendenzstück: zwei
verschiedene Weltanschauungen sind es die in demselben dar-
gestellt und verglichen werden ; der Kampf der alten , spiessbürger-
lieh beschränkten, aber tüchtigen Zeit mit dem neueren freieren
Geiste bildet den Inhalt der Adelphi. Die Vertreter der beiden
Principien sind Demea und Micio. Die Schilderung des Ersten
ist ein Beweis wie nahe sich altgriechisches und altrömisches Wesen
berühren; denn ein moralisches Leben, Arbeitsamkeit und Spar-
samkeit sind ja auch im Wesen eines alten Römers Grundzüge.
Micio ist von dem Dichter mit entschiedener Vorliebe gezeichnet,
offenbar weil Menander wie Terenz in seiner Denkweise zugleich
ihre eigene geschildert haben. Micio's Wahlspruch ist: leben und
leben lassen ! Seine Moral ist Casuislik (V, 3, 35 ff.), seine Grund-
anschauung Kosmopolitismus, das Princip seines Handelns Huma-
nität; über so viele Schranken welche nationales Vorurteil gezogen
hat hebt er sich unbefangen hinweg (s. IV, 7, 29 ff.) und setzt seinen
Stolz darein Mensch zu sein. Seinem engherzigen, pedantischen
Bruder gegenüber erscheint Micio mit seinem weiteren Blicke,
seinen neumodisch elastischen Grundsätzen und seinem leichten
Bhite als der geistig Ueberlegene, wiewohl es an Pfiffigkeit und
klugem Berechnen seiies Vortheils dem Demea nicht fehlt. Fast
Zug für Zug vom Bilde des Micio entspricht dem was wir von
dem im Hause der Sdpionen herrschenden Geist und Tone wissen,
und es ist daher gewiss nicht unwahrscheinlich dass Terenz die
l^ä£Xg)ol des Menander darum sich zur Bearbeitung gewählt habe
weil das Stück eine Apologie der in seinem Freundeskreise wal-
tenden Denkweise enthielt. Welches von beiden Systemen das
bessere sei zeigm die Früchte welche beide ziehen, in Aeschinus
und Ktesipho. Aeschinus ist burschikos, wild und leichtsinnig,
aber durch uad durch nobel, gutartig und aufopferungsfahig;
Ktesipho ängstlich den Schein der Ehrbarkeit wahrend, nachdem
er doch inierlich mit der Tugend gebrochen hat, dem Leicht-
sinn nicht unbefangen nachhängend wie sein Bruder, sondern
mit dem ßewusstsein von dessen Unerlaublheit und daher auf
jedem Schritt und Tritt verfolgt von seinem bösen Gewissen und
Adelphi. 287
der Angst vor dem Vater, und mit seinem schwerlötliigen Wesen
zugleich tiefer einsinkend auf dem schlammigen Boden der Ge-
nusssucht; denn während der scheinbar Lüderliche das ehrbare
Mädchen zur Geliebten hat und trotz ihrer Armut sie zu seiner
Frau machen will, so hängt sich der Duckmäuser an eine Hetäre.
In der hierdurch hierbeigeführten Katastrophe erleidet Demea's
System eine gründliche Niederlage; Nichts als Heuchelei zeigt
sich als seine Frucht, wogegen Micio's Methode triumphiert. Mit
diesem Siege der neuen Zeit über die alte sollte man meinen dass
das Stück schliesse; aber diese neue Zeit selbst ist sich in dem
giiechischen Dichter zu sehr ihrer inneren Hohlheit, Nichtigkeit
und Unfähigkeit bewusst und empfindet die Wirkungen davon zu
oft und zu schmerzlich als dass sie so stolz und siegsgewiss auf-
treten könnte. Nachdem daher in dem Stücke die neue Zeit über
die alte triumphiert hat, so triumphiert (ähnlich wie in Aristo-
phanes* Wespen) nachträglich auch noch die alte über die neue:
Demea, der eben erst den Micio wegen seiner Denkart glücklich
gepriesen hat (V, 3, 66), der ganz zu dieser bekehrt schien (V, 4),
unterfängt sich den Micio ad absurdum zu führen, ihn mit seinen
eigenen Waffen zu schlagen (V, 8, 35), ihn durch die Conse-
quenzen seiner Grundsätze zu widerkgen, von der Schädlichkeit
seines Verfahrens zu überzeugen, und den Beweis zu führen dass
nicht wahres Wohlwollen, sondern Schwäche die «Triebfeder von
Micio's Handeln gewesen sei und dase es keine Kunst sei auf
solchem Wege die Liebe Anderer zu gewinnen. Indem so auch
Demea zu seinem Rechte kommt genügt das Stück scheinbar einer
Forderung der Gerechtigkeit, in Wahrheit\aber entrichtet es dem
Nihilismus seinen Zoll und bekundet die^ geistige und sittliche
Erschöpfung, die Ausgebranntheit der ZeiV aus der es stammt,
ihre ewige Unfähigkeit Partei zu ergreifen, lire blasierte Stellung
angeblich über, vielmehr aber unter den Gegensätzen^ ihren ab-
soluten Skepticismus. Hierauf eben beruht 6^s Unbefriedigende
des Schlusses , der unreine Eindruck den er \zurücklässt. Das
Ergebniss das wir eben aus dem Stucke ziehen wollten sehen
wir plötzlich wieder in Frage gestellt, und was un\ daher schliess-
lich bleibt ist das Gefühl der Leere, ist — Nichts. Auch die beiden
Hauptcharaktere kommen hiedurch ins Schwanken : jn dem guten
wohlwollenden Micio sollen wir auf einmal einen s^bstsüchtigen
Schwächling erblicken, und dem vielgefoppten Polarer Demea
Recht geben; er, der eben erst der Besiegte war, süjl plötzlich
288 Terent. Adelphi.
als Sieger dastehen ; was uns so eben als Zeichen der Bekehrung
angekündigt wurde (V, 4), darin sollen wir nunmehr eine Hand-
lung der Rache erkennen. Eine Schlange die in dem Augenblicke
da ihr der Kopf zertreten wird den Sieger in die Ferse sticht,
dass er selbst auch todt zu Boden sinkt, — das ist, nur ins
Tragische übersetzt, der Ausgang der Adelphi. Wiewohl indessen
auch Demea als Sieger erscheinen soll, so ist diess doch keines-
wegs in demselben Masse gelungen wie bei Micio. Nicht nur
ist seine neue Grossmut und Freigebigkeit ähnlich der des bekann-
ten Crispinus, da sie auf Micio's Kosten geübt wird, sondeirn es
wird auch gar nicht bewiesen dass man auf solche Weise sich
wirklich Liebe erwerbe, da es zu keiner Probe kommt. Und
sollte endlich das Stück von der Einseitigkeit und Verwerflichkeit
der Extreme überzeugen und davon dass die Wahrheit in der
Mitte liege, so war diese Mitte ja eben Micio, von welchem Demea
bald Gegenfüssler bald Karikatur ist, also nur selbst von einem
Extrem ins andere überspringt.
xn.
Cicero.
I. Leben.'*')
Marcus TuUius Cicero ist geboren den 3. Jan. 648 = 106 v. Chr.
auf seinem väterlichen Gute zu Arpinum.
Sein Vater, gleiches Namens, war in Arpinum ein angesehener
und begüterter Mann, der sich aber bei seiner schwächlichen
Gesundheit von öffentlichen Aemtern fern hielt und sich ganz den
Wissenschaften und der Erziehung seiner beiden Söhne, Marcus
und Quintus, widmete; seine Mutter war eine Helvia, und wird
von ihren Söhnen als eine gute Hausfrau gerühmt. Der Gross-
vater M. Tullius Cicero hatte sich in seinem Städtchen als eifriger
Gegner aller Wühlerei namentlich auch seinem Schwager Gratidius
gegenüber gezeigt, dessen einer Sohn von einem Bruder des be-
rühmten Marius adoptiert wurde. Die Familie war von alter Zeit
her in Arpinum ansässig; einen Zusammenhi^ng mit dem römi-
schen König Servius Tullius oder sonst einem Mitgliede der gens
TuUia behauptete auch Cicero nie ernsthaft.
Der Beiname Cicero ist ohne Zweifel von cicer, Kicher-
erbse, abzuleiten und bezieht sich wohl auf die Ai^pflanzung dieser
Frucht durch einen Vorfahren, wie die ähnlichen Namen Piso
(pisum Erbse), Fabius, Lentulus (lens Linse?}, auch Hortensius
etc.; ein Witz aber ist wohl die Ableitung von eUiem erbsen-
ähnlichen Auswuchs den ein Tullius an der Nase gehabt (bei Plut.
Cic. 1). Ueberhaupt Hess die geburtstolze Nobilität spSiter es sich
*) Aus dem Anhang zu Baar*s Uebersetzung der Briefe O^cero's ad
Familiäres, Stuttgart 1861. Die Qaellennachweisnngen dazu iti meinem
Artikel M. Tullius Cicero, in Paulys Real-Encyklopädie VI, 5i (1850).
8. 2182—2206.
Teaffel, Stadien. 19
290 Cicero.
angelegen sein die Abkunft des sie verdunkelnden homo novus
durch allerlei Erfindungen lächerlich und verächtlich zu machen.
Sein Geburtsort Arpinum war eine ursprünglich volskische
Stadt in Latium, welche schon im J. 451 d. St. das römische
Bürgerrecht, das Stimmrecht aber erst im J. 566^=188 v. Chr.,
also 82 Jahre vor Cicero's Geburt, somit zur Zeit seines Gross-
vaters, erhalten hatte. Daraus erklärt es sich auch wohl dass
erst Cicero's Vater, nicht schon sein Grossvater, ausdrücklich
römischer Ritter genannt wird. Eingetheilt war das Städtchen
in die tribus Cornelia, zu der. daher auch Cicero gehörte. Arpi-
num lag östlich von Rom, . nahe an dem Orte wo der Fibrenus
in den Liris mündete^ in einer gesunden, fruchtbaren und an-
mutigen Gegend. Ganz in der Nähe der Stadt war das Landgut
und Landhaus (villa) der ciceronischen Familie, unter dem Gross-
valer noch von alterthümlicher Einfachheit und Beschränktheit,
von dessen Sohn erweitert, und noch mehr vom berühmten Enkel.
Die Geburt des Cicero fiel in eine bewegte Zeit: das Jahr
648 ist das letzte des jugurthinischen Krieges, das Jahr wo Ju-
gurtha, nachdem er lange genug mit der Käuflichkeit der römi-
schen Nobilität sein Spiel getrieben, der Wucht des Plebejers
Harius und der diplomatischen Gewandtheit von dessen Quästor
Sulla zum Opfer wurde. So sind die Keime zu der Geschichte
der folgenden Jahrzehnte in diesem einen Jahre zusammengedrängt:
die Verworfenheit der Nobilität, ihr Besieger Marius, und ihr
Rächer Sulla. In die Kinderjahre Cicero's fällt Marius' Glanzzeit:
652 schlug er die Teutonen bei Aqua Sextiae, 653 die Kimbern
bei Verona und feierte, zum fünften Male Consul, seinen Triumph
über Rom's gefährhchste Feinde. Arpinum's Stolz und der cice-
ronischen Familie durch Verwandtschaft näher gerückt war Marius
natürlich der Gegenstand aller Gespräche in Cicero's Kreise, und
Bilder des Kriegs füllten die friedliche Seele des Knaben und
führten seinen Blick hinaus über sein enges Thal auf Numidien's
und Gallien's Schlachtfelder und die blutgetränkte Ebene am
Fusse der Alpen. Dem grössten Sohne seiner Vaterstadt ähnlich
zu werden, wenn auch nicht als Krieger so doch an Ruhm, auch
wie er aus dem Dunkel sich emporzuringen zu strahlendem Glänze
— diess war der Inhalt von Cicero's Jugendträumen, und Marius'
Beispiel schien eine Rechtfertigung auch der stolzesten Hofi'nungen.
Dass ein glühender Ehrgeiz ihn schon in frühester Jugend beseelte
deutet er selbst gelegentlich an (ad Qu. fr. III, 5. 6), und dessen
Leben. 291
unmittelbarste Frucht war eine brennende Lernbegierde, die ihn
bald allen seinen Altersgenossen überlegen machte.
Als die Knaben so weit gereift waren dass der Vater seinen
eigenen Unterricht nicht mehr für ausreichend hielt zog er mit
ihnen nach Rom, wo er in den Carinen ein Haus besass. Bei
griechischen Lehrern wurde hier der Unterricht fortgesetzt, und
Marcus verfolgte schon jetzt das Ziel ein Redner zu werden, indem
er keine Gelegenheit hierin sich auszubilden unbenutzt liess, nament-
lich auf dem Markte den Rednern dieser Zeit fleissig zuhörte, und
mit den beiden Ersten derselben, L. Crassus und M. Antonius,
auch persönlich bekannt zu werden suchte, wie gleichfalls mit
dem greisen (dramatischen] Dichter L. Attius und den berühmten
Schauspielern Aesopus und Roscius. Nach Art der meisten be-
gabten Knaben versuchte er sich auch in Versen, deren er eine
ziemliche Anzahl zu Tage förderte, nachahmende Bearbeitungen
griechischer Stoffe; so Alkyone, das Schicksal der treuen Gattin
des Keyx besingend, eine Elegie Tamelastis (?), Pontius Glaukus
in Tetrametern ; und Uebersetzungen von Aratus' ^atvö^sva und
^io6i](i€ta^ sowie homerischer Stücke im Versmass des Urbilds,
endlich von Xenophon's Oekonoroikos.
Nach vollendetem 15tem oder 16tem Jahre, also 663 oder
664 d. St. , trat Cic. mittelst des Anziehens der männlichen Toga
ins öffentliche Leben ein und tbat alsbald einen Schritt weiter
in seiner Berufsbildung, indem er das römische Recht, dessen
Kenntniss für den künftigen Redner und Staatsmann unentbehr-
lich war, zu studieren anfleng. Hiefür gab* es damals nur Einen
Weg, den dass man den Rechtsbelehrungen Welche ein ausgezeich-
neter Rechtsgelehrter in seinem Hause den Befragenden ertheilte
als Zuhörer anwohnte; und so führte denn den jungen Cicero
sein Vater zu dem Augur Q. Mucius Scaevola, welcher für einen
grossen Rechtskenner galt, damals aber schon' hochbejahrt war
(Cos. 637). Noch nicht lange hatte er dessen Cnterweisung ge-
nossen, als dier Krieg gegen die aufgestandenen Bundesgenossen
(bellum marsicum) die gesammte römische Jugend uiiter die V^affen
rief. Cicero diente im J. 665 im Heere des Consuls Cn. Pom-
peiusStrabo, des Vaters von Pompeius Magnus; von seinen Helden-
thaten ist jedoch Nichts bekannt geworden, wohl aber lässt er,
in späterer Zeit den Atticus die homerischen Worte (lllas V, 428)
sich zurufen:
Traun, nicht Werke des Kriegs sind Dir, mein Lieber, bescliieden
19"
292 Cicero.
(ad Att XIV, 13, 2), und ruft selber aus: ins Lager soll ich?
Lieber tausendmal sterben! (ebds. 22, 2). Je mehr er sich also
schon damals überzeugt haben wird dass nicht auf diesem Felde
seine Lorbeeren wachsen, um so eifriger kehrte er zu seinen
Uebungen und Studien zurück. Die juristischen setzte er seit
dem Jahre 667, wo der Augur Scaevola starb, unter noch vor-
züglicherer Leitung fort, nämlich unter dem Pontifex Q. Mucius
Scaevola (Cos. 659). Neben diesen hatte er schon sehr jung,
etwa 664, philosophische begonnen, bei dem Epikureer Phaedrus,
sodann Ton 666 an mit mehr Nutzen und Befriedigung bei dem
Akademiker Philon , der sich, als Mithridates Athen besetzte, von
da nach Rom geflüchtet hatte. Zwar wurde Rom selbst im J. 667
der Schauplatz blutiger Ereignisse: der verbannte Marius kehrte
an der Spitze eines Heeres zurück und stillte mit dem Blute seiner
Feinde seinen Durst nach Rache, und unter Andern fielen auch
die Redner M. Antonius, C. Caesar und Q. Lutaüus Catulus ihr
zum Opfer; aber auf die Fremden war das von keinem Einfluss,
und so hörte Cicero in demselben Jahre den berühmten rhodischen
Redner Molon.
Auch Cicero liess sich durch die Stürme des Krieges in seinen
friedlichen Beschäftigungen nicht stören: unter der Herrschaft der
Marianer schirmte ihn schon seine Verwandtschaft mit Marius,
und nach Sulla's Rückkehr aus Asien (671), als dieser seinen
Gegnern ihr Blutvergiessen mit reichen Zinsen vergalt, bewahrte
ihn seine Zurückgezogenheit und Dunkelheit vor Berührungen mit
der Proscriptionsliste. Kaum aber war unter Sulla's eisernem Scep-
ter Ruhe und Ordnung wiedergekehrt, so wagte auch Cicero sich
hervor auf den Markt , um seine durch vieljährige Uebungen und
Arbeiten erlangte Redefertigkeit und seine Kenntnisse in gericht-
lichen Vertheidigungsreden zu erproben. Nicht die erste die er
gehalten, aber die früheste der auf uns gekommenen ist die für
P. Quintius vom J. 673, wichtig zugleich dadurch dass mit
ihr sich Cicero zum ersten Male mit dem bis dahin anerkannt
ersten Redner Roms, mit Q. Hortensius, mass. lieber den Erfolg
schweigt Cicero, woraus wohl zu schliessen ist dass derselbe kein
günstiger war. Desto glänzender war der seiner zweiten erhal-
tenen Vertbeidigungsrede , der für Sex. Roscius aus Ameria,
vom J. 674, die erste eine Civilstreitigkeit, diese ein Criminal-
fall. Cicero bewegte sich in ihr auf einem schlüpfrigen Boden,
indem die Sache mit den Proscriptionen des Sulla zusammenhieng
Leben. 293
und ein Günstling des Sulla, Chrysogonus, dabei wesentlich be-
tbeiligt war, und zwar gegen Cicero's Clienten. Wenn nun auch
nicht ganz gewiss ist dass die in der später herausgegebenen Rede
sich findenden freimütigen Aeusserungen schon alle völlig ebenso
im. mündlichen Vortrag gethan wurden, so gehörte doch schon
zur Uebernahme dieses Processes ein gewisser sittlicher Mut, und
dass Cicero seine Aufgabe treulich erfüllt hat beweist die Frei-
sprechung seines Clienten. Auch sonst trug ihm diese Leistung
reiche Früchte: er sagt selbst (Brut. 90 extr.), er habe dadurch
§ich so gut empfohlen dass man seitdem ihn als jeder Rechts-
sache gewachsen betrachtete; er war dadurch mit einem Male in
die Reihe der anerkannten Redner eingetreten und bekam noch
in demselben Jahre den X. Varenus zu vertheidigen, sowie im
folgenden (675) eine Frau aus Arretium, in welcher letzteren Sache
er abermals gegen eine Verfügung von Sulla auftrat. Gefahr brachte
auch diess ihm nicht. Zwar begab er sich noch in diesem Jahre
auf Reisen, zunächst nach Athen; aber auch hier hätte ihn Sulla's
Arm so unfehlbar erreicht als in Rom, wenn er gewollt hätte.
Indessen Sulla war kein selbstsüchtiger, empfindlicher Tyrann;
ihm genügte es seiner Partei den Sieg verschafit, sie gerächt und
durch seine Verfügungen ihr Uebergewicht und einen geordneten
Zustand wiederhergestellt zu haben. Daher ist es nicht richtig
wenn einige Alte als Beweggrund von Cicero's Reise Furcht vor
Sulla angeben oder gar dieselbe mit der Vertheidigung des Sex.
Roscius in Zusammenhang bringen. Vielmehr genügt völlig der
Grund welchen Cicero selbst angibt: sein^ angegriffene Gesund-
heit. Durch seinen rastlosen Fleiss und seine damals noch über-
mässige Anstrengung beim Vortrag seiner Reden hatte namentlich
seine Lunge gelitten und bedurfte sehr der Erholung. Diese Hess
er ihr in Athen zu Theil werden. Während der sechs Monate
die er hier blieb beschäftigte er sich vorzugsweise mit philoso-
phischen Studien, indem er besonders den Akademiker Antiochus
von Askalon, aber auch die Epikureer Phaedrus und Zenon hörte
und mit dem Syrer Demetrius Redeübungen trieb. Auch in die
eleusinischen Mysterien Hess er sich mit Atticus einweihen. Von
Athen reiste er weiter in die römische Provinz Asien und setzte
hier die Redeübungen mit den berühmtesten Rhetoren fort, die
er im Brutus §. 315 namhaft macht, begab sich von da nach
Rbodus, wo er sich gleichfalls ausschliesslich der Redekunst wid-
mete, unter dem dortigen Meister Molen, der die Ueberfülle und
294 Cicero.
WeiUchweiflgkeit zu der sich Cicero hinneigte zu beschränken
suchte, im Atlgenieinen aber von seines Schulers Leistungen so
befriedigt war dass er eines Tages voll Verzweiflung ausrief: durch
diesen Römer verliere sein Volk den letzten Vorzug, die Beredt-
samkeit! Und doch war es nicht einmal seine Muttersprache
deren sich Cicero hiebei bediente, sondern die griechische.
Nach zweijähriger Abwesenheit kam er im J. 677 nach Rom
zurück, körperlich gestärkt und geistig geläutert und bereichert,
vermählte sich mit Terentia, und nahm alsbald seine rednerische
Thätigkeit wieder auf. Glücklich schwang er sich dadurch auf
die erste Stufe der Ehrenstellen : einstimmig wurde er im J. 678
zum Qua stör gewählt. Das Loos wies ihm Sicilien, und zwar
Lilybäum, als Wirkungskreis während des J. 679 an. Sein Vor-
gesetzter war der Proprätor Sex. Peducäus. Es war in diesem
Jahre in Sicilien eine Theurung, die auch auf Italien einwirken
musste; Cicero beeiferte sich daher eine möglichst grosse Quantität
Getreide nach Rom zu schicken. Dadurch wurde er zwar den
Sicilianern beschwerlich; doch versöhnte er sie wieder schnell
mit sich durch die Gerechtigkeit und Uneigennützigkeit womit er
selbst verfuhr und die Strenge womit er seine Untergebenen zu
denselben Tugenden anhielt, und so erwiesen sie ihm denn bei
seinem Abgang alle mögliche Ehre. Noch grössere Anerkennung
aber versprach er sich von Rom. In der Rede für Plancius er-
zählt er selbst mit Humor wie es ihm in dieser Beziehung ergangen
sei. Er habe sich gedacht, das ganze Jahr über habe man in
Rom von nichts Anderem gesprochen als von dem ausgezeichneten
Quästor Cicero und seinen unsterblichen, Verdiensten um das rö-
mische Volk. Auf seiner Heimreise nun sei er auch durch den
Badeort Puteoli, den Sammelplatz der eleganten Welt, gekommen
und sei fast in Unmacht gefallen wie er hier gleich mit der Frage
begrüsst worden sei: was es Neues in Rom gebe? Er komme
aus der' Provinz, antwortete der Enttäuschte, nachdem er sich
gefasst. Ah, versetzte der Andere, vermutlich aus Afrika? Nein,
erwiderte Cicero ärgerlich^ aus Sicilien. Da sagte noch ein Dritter,
der sich den Anschein geben wollte als ob er Alles wisse, vor-
wurfsvoll zum Zweiten: weisst du denn nicht dass er Quästor in
Syrakus gewesen ist? Für den Augenblick war diese Erfahrung
empfindlich, doch zog sich Cicero die heilsame Lehre daraus dass
es beim Volke heisse: weit aus den Augen weit aus dem Sinn,
dass man darauf sich nicht verlassen könne es werde von einem
Leben. 295
hören , dass man yielmehr selbst sich möglichst oft ihm unter die-
Augen bringen müsse.
Uebungen in der Beredtsamkeit hatte Cic. auch in Sicilien
nicht versäumt, und mit dem ßewusstsein hierin jetzt eine gewisse
Reife erlangt zu haben kehrte er nach Rom zurück und ver-
theidigte noch im Jahr 680 den Freigelassenen Scamander gegen
die Anschuldigung des Giftmords, wiewohl umsonst, angeblich weil
die Geschworenen bestochen waren. In diesem und den nächsten
Jahren liess sich Cic. überhaupt möglichst oft auf dem Markte
hören (vielleicht ins Jahr 683 fällt seine Vertheidigungsrede für
M. Tullius) und war zu Hause Jedem zu jeder Stunde zugäng-
lich, um die Gunst des Volkes sich zu gewinnen und zu erhalten.
Zwar die nächste Würde, das Volkstribunat, liess er bei Seite:
es war für ihn zu gefahrlich, er hätte Farbe bekennen müssen
und es mit -der einen oder mit der andern Partei verdorben;
dagegen um die curulische Aedilität bewarb er sich im Jahre 684,
als ihm die Sicilianer die Führung ihres Processes gegen ihren
räuberischen Exprätor V er res übertrugen. Auch dieser Process
war zwar schwierig, aber dafür auch um so dankbarer. Verres
hatte sehr angesehene Gönner und Bundesgenossen unter der
Nobilität, namentlich drei MeteUer, und zum Vertheidiger den
Hortensius, der zu seiner Beredtsamkeit hin auch noch das Ge*
wicht seiner Stellung — er war ernannter Consul für 685 —
für den Angeklagten in die Wagschale legte. Um so ruhmvoller
war für Cicero der Kampf, um so glänzender musste der Sieg
für ihn werden. Zuerst aber musste er s\th noch die Zulassung
zum Turnier erkämpfen. Verres stellte ihm nämlich einen andern
Ankläger gegenüber , seinen ehemaligen Quästor Q. Caecilius Niger,
der das Recht den Verres anzuklagen für sich in Anspruch nahm
und für Verres wegen seiner geistigen Bedeutungslosigkeit und
9ls theilweise mitschuldig an dessen Vergehen sehr wenig gefähr-
lich war^ vollends einem Hortensius gegenüber Das Spiel war
gut abgekartet, aber die Geschworenen machten einen Strich
durch die Rechnung, indem sie das Recht als Ankläger des Verres
aufzutreten dem Cicero zusprachen, der in der Divinatio in
Caecilium das Spiel aufgedeckt und die Unfähigkeit des Caecilius
glänzend nachgewiesen hatte. Zum Zwecke der HerbeischafTung
der Beweismittel verlangte der Ankläger eine Frist von 110 Tagen,
und diess benützte Verres zu einem neuen Manoeuvre« Er be-
stellte Jemand der ihn wegen seiner Amtshandlungen in Achaja
296 Cicero.
belangen sollte und der sich blos 108 Tage Frist erbat, damit
dieser neue Process wegen der früher zu Ende gehenden Frist
die Priorität vor dem gefährlichen sicilianischen erhalte und dieser
somit verschleppt werde. Aber auch diesen Plan vereitelte Cicero
durch seine Raschheit. Er sammelte die Urkunden und Zeugen
so schnell dass er nach 50 Tagen bereits wieder in Rom war
und seine Bewerbung um die Aedilität fortsetzen 'konnte. Jetzt
versuchte Verres durch Bestechung Cicero abzubringen oder doch
seinen Ruf zu erschüttern: vergebens; dann bot er und seine
Freunde Allem auf um Cicero's Wahl zum Aedilen zu hintertreiben:
das Volk wählte ihn abermals einstimmig und als den Ersten.
So blieb dem Verres kein Ausweg mehr als die Verhandlungen
so in die Länge zu ziehen dass der Abschluss vor den bevor-
stehenden längeren Gerichtsferien nicht mehr möglich wäre und
der Process dadurch in das nächste Jahr hinubergespielt wurde,
wo die Umstände für ihn gunstiger wären. Aber Cicero durch-
schaute den Plan und zerstörte ihn dadurch dass er seinerseits
das Verfahren möglichst abkürzte. Am 5. August 684 wurden
die Verhandlungen eröffnet durch Cicero's Actio I., welche die
Einleitung und Uebersicht über die Klagpunkte bildete; an den
folgenden Tagen aber verzichtete Cicero auf nähere Ausführungen,
gab gleichsam nur die Ueberschriften und Hess den Text durch
Zeugenabhör und Verlesen von Urkunden sich von selbst bilden.
So immer nur die nackte Thatsache reden lassend entwaffnete
Cicero den Vertheidiger des Verres, der hiegegen nicht aufkommen
konnte; und der Erfolg war ein so vollständiger, überwältigender
dass Verres vom dritten Tage an sich nicht wieder sehen Hess
und noch ehe der Spruch erfolgte aus der Stadt gieng. Am
neunten Tage war die Verhandlung zu Ende; Verres wurde zur
Verbannung und zum Ersätze des angerichteten Schadens, welchen
die klägerische Partei auf 40 Millionen Sestertien schätzte, ver-
urteilt. Daraus dass Cicero in der ersten Verhandlung (Div. in
Caec. 5) den Schaden viel höher, auf 100 Millionen, angeschlagen
hatte wollten bereits im Alterthume Gegner Cicero's den Schluss
ziehen dass derselbe in der Zwischenzeit gegen die Anerbietungen
des Verres doch nicht so ganz die Ohren verstopft habe; aber
schon Asconius hat jenen Unterschied völlig befriedigend damit
erklärt dass Cicero bei dem ersten Anschlage noch gar keine
näheren Erhebungen und Berechnungen gemacht hatte und die
Summe lieber zu hoch griff, um die Wichtigkeit des Processes
Leben. 297
und damit die Unzulänglichkeit des Caecilius in ein um so helleres
Licht zu setzen. — Indem Cicero auf wiederholten zusammen-
hängenden Vortrag Verzicht leistete hatte er eine Entsagung geübt
die ihm um so schwerer fallen musste je reicher der Stoff war
und je umfassendere Vorarbeiten er gemacht hatte. Er verar-
beitete daher sein Material zu den fünf Büchern welche die Actio
secunda bilden, die aber nur schriftlich herausgegeben, nie wirk-
lich gehalten worden sind, obwohl sich der Verfasser den An-
schein gibt als wäre das Urteil noch nicht gefällt, sondern nur
verschoben und sollte durch diese Reden auf die Findung desselben
noch eingewirkt werden.
Während des Jahrs 685 bekleidete dann Cicero die Aedi-
lität, machte aber dabei nur massigen Aufwand; doch vertheilte
er ein grosses Quantum Getreide, das ihn Nichts kostete, da
es ein Geschenk seiner dankbaren dienten, der Sicilianer, war,
dem römischen Volk aber um so willkommener erschien weil
damals gerade die Preise hoch standen. In demselben Jahre
hielt er noch mehrere Vertheidigungsreden: für M. Font eins,
D. Matrinius, A. Licinius Caecina, und wahrscheinlich im fol-
genden Jahre (686), wo auch der Briefwechsel mit Atticus für
uns beginnt, für den Schauspieler Roscius.
Im Jahr 687 bewarb sich Cicero um die Prä tu r, und zwar
mit solchem Erfolge dass er wiederum einstimmig und als der
Erste gewählt wurde. Zur Verwaltung während des Jahrs 688
wies ihm das Loos die Rechtspflege in der Stadt zu, und er
übernahm den Vorsitz in allen Erpressungsklagen. In dieser Eigen-
schaft hatte er über den von Livius oft ab Quelle genannten ge-
wesenen Prätor Licinius Macer zu richten und verurteilte ihn,
was diesen das Leben kostete, den Cicero aber, als Beweis seiner
Unparteilichkeit und Strenge, beim Volke beliebt machte. Da er
überhaupt von der Nobilität sich nur Hemmung, Schwierigkeiten
und Feindschaft versprechen durfte, so stützte er sich jetzt noch
auf das Volk und dessen Liebling Pompeius und befürwortete
daher lebhaft den Vorschlag des Manilius, den Krieg mit Mithri-
dates dem LucuUus abzunehmen und an Pompeius zu übertragen.
Die Rede in der er^diess thut ist voll Gefühl der eigenen Würde,
voll Bewunderung des Pompeius und von Ausfällen auf dessen
Vorgänger aus der Nobilität, und sie ist Cicero's erste Staatsrede.
Neben seiner öffentlichen Wirksamkeit fand Cicero noch Zeit
zu Privatreden; so vertheidigte er während seiner Prätur den
298 Cicero.
A. Cluentius gegen die Anschuidigung der Vergiftung seines
Vaters, ein höclist zweifelhafter und sittlich widerlicher Fall, dessen
Uebernahme Cicero weäig Ehre macht; auch sprach er noch in
diesem Jahre für Fundanius und Q. Gallius (de arabitu), und im
Jahre 689 für den gewesenen Volkstribunen Manilius (wegen Ver-
untreuung von Staatsgeldern), in welchem letzteren Falle seine
Rolle gleichfalls eine zweideutige war. Eine prätorische Provinz
nahm Cicero nicht an, um fortwährend in der Stadt, in den Augen
und damit im Gedächtniss des Volkes zu bleiben und zeitig die
Bewerbung um das Consulat beginnen zu können.
Für diesen letzten und wichtigsten Schritt musste Cicero
um so mehr alle seine Kräfte anstrengen je weniger er auf Unter-
stützung von aussen rechnen konnte und je grössere Schwierig-
keiten er dabei zu überwinden hatte. Die Nobilität stand ihm
entgegen, entschlossen dem Ritter aus Arpinum und Anhänger
des Pompeius das Eindringen in ihre wohlverschanzte Burg zu
wehren; Pompeius, von dem er Gegendienste erwarten dürfte,
war im fernen Asiefti beschäftigt; und so war Cicero auf sich
selbst gewiesen, und überdiess durch seine Grundsätze in der
Wahl der Mittel beschränkt, da er von dem allerdings sonst gang-
baren der Bestechung keinen Gebrauch machen mochte. So blieb
ihm Nichts übrig als sich möglichst viele Freunde zu erwerben,
wenn er über seine Mitbewerber den Sieg davon tragen wollte.
Deren waren es sechs, nämlich zwei Altadelige (Patricier), Catilina
und Sulpicius Galba; zwei Neuadelige (nobiles), C. Antonius und
L. Cassius; endlich zwei Plebejer. Freunde zu gewinnen suchte
Cicero theils dadurch dass er, während es vor den Gerichten
wenig zu thun gab, im Jahr 689 nach Oberitalien reiste, um
sich hier zu empfehlen, theils indem er den Atticus bat bei
Pompeius und in Rom für ihn zu wirken, theils besonders dadurch
dass er selbst fortwährend möglichst Viele durch Führung ihrer
Processe sich verpflichtete. So wissen wir v6n ihm dass er im
Jahr 689 den €. Corneitus, C. Orchinius, und sogar seinen Mit-
bewerber Catilina (gegen eine Klage wegen Erpressungen die
er als Prätor in Afrika begangen) vertheidigte, trotzdem dass er
von des Letzteren Schuld selbst vollständig überzeugt war , einzig
in der Hoffnung ihn dadurch zu freundschaftlicherem Auftreten
bei der Bewerbung zu bestimmen. Dieselbe Rücksicht bewog ihn
auch einen Process abzuweisen welchen ein Oheim des Atticus
ihm übertragen wollte. Seine Unruhe wurde noch vermehrt durch
Leben. 299
häusliche Vorfälle: im Hochsommer 689 wurde ihm ein Sohn
geboren , und im Jahr 690 starb sein Vater. Die Hoffnung durch
seine Gefälligkeit den Catilina zu entwaffnen erwies sich eitel;
denn er und Antonius übten nicht nur die frechsten W^ahlbe-
stechungen aus, sondern ein Freund von ihnen, der Volkstribun
Mucius Oresünus, erklärte auch im Senate dass Cicero des Con-
sulats unwürdig sei, was diesen zu seiner Rede als Wahl-
bewerber veranlasste.
Indessen wä^e der Erfolg seiner Bemühungen vielleicht doch
zweifelhaft gewesen , wenn nicht ein glücklicher Zufall dazwischen
gekommen wäre. Catilina bewarb sich nämlich um das Consulat
nur um dann mit den Mitteln des Staates selbst die sociale
Revolution durchzufuhren die er im Sinne hatte. Schon zweimal
hatte er sich desshalb bewerben wollen, für das Jahr 689 und
für 690; er musste davon abstehen, weil er in Anschuldigungs-
stand versetzt war, und freigesprochen wurde er erst als die
Consuln für 690 längst ernannt waren. Um so mehr setzte er
jetzt alle Mittel in Bewegung, um wenigstens für 691 das Con-
sulat zu erlangen. Ehrgeizig und überschuldet, die Morschheit
der damaligen Zustände erkennend und die Fähigkeit und Kraft
in sich fühlend auf deren Trümmern meinen Thron zu errichten,
beabsichtigte Catilina zunächst alle Schulden für aufgehoben, alle
Verschreibungen für null und nichtig zu erklären. Um diesen
Plan gegen den begreiflichen Widerstand der Besitzenden durch-
zuführen warb Catilina schon im Voraus \ einen zahlreichen An-
hang unter der grossen Masse Derer die da3 Ihrige durchgebracht
oder nie etwas besessen hatten , und durch diese glaubte er auch
— mit Hülfe des allgemeinen Stimmrechts ^ sich das Consulat
verschaffen zu können. Aber die Zahl der Mitwisser bewirkte
zugleich dass sein Plan zur ungelegensten Zeit bekannt wurde,
und die Nobilität, in ihren theuersten Interessen bedroht, denen
des Geldbeutels, vergass Ahnenstolz und Vorutieile und warf
sich zitternd demjenigen Bewerber in die Arme deui sie den Mut
und die Befähigung zutraute um dem Catilina d\e Stirne zu
bieten. Und da das Volk ohnehin für Cicero war, so wurde
dieser ohne Widerspruch, einstimmig, ohne dass auch nur eine
förmliche Abstimmung nöthig geworden wäre, durch blosen Zuruf
an erster Stelle zum Consul für 691 = 63 v. Chr. gewählt.
Lange schwankte die Wahl seines Amtsgenossen, da sich die
Stimmen zersplitterten. Catilina erhielt zwar trotz Allem viele
300 Cicero.
Stimmen, aber doch weniger als sein Bundesgenosse C. Antonius
Hybrida, und so wurde dieser Consul. Catilina war natürlich
verstimmt dass er das viele Geld vergeblich ausgegeben hatte
und seine Hoffnungen und Plane abermals zu vertagen genöthigt
war; doch ermutigte ihn der Umstand dass ihm zum Gelingen
nur wenige Stimmen gefehlt hatten zu einem wiederholten fried-
lichen Versuche, woneben er aber nicht versäumte für den
schlimmsten Fall auch die Mittel zur Gewaltanwendung vorzu-
bereiten.
Cicero seinerseits suchte vor Allem seinen Amtsgenossen von
Catilina abzuziehen. Zu diesem Behufe überliess er demselben
die ihm selbst zugefallene Provinz Makedonien, die nicht nur
Gelegenheit bot Kriegsruhm zu erwerben, sondern besonders
auch aus den Schulden herauszukommen und für später sich ein
Sümmchen zurückzulegen. Cicero übernahm dafür die dem An-
tonius vom Loos zugewiesene Provinz Oberitali^n (Gallien diesseits
der Alpen). Er konnte den Tausch um so leichter eingehen da er
von Anfang an entschlossen war auch nach Abfluss seines Amtsjahres
Rom nicht zu verlassen und zu Führung eines Kriegs weder Neigung
noch Fähigkeit in sich spürte; zudem bedang er sich insgeheim
einigen Antheil an dem zu hoffenden Gewinne aus. Antonius
begieng die Indiscretion, später, in Makedonien, soine Raubgier
damit zu entschuldigen dass er für Zwei sammeln müsse, was
Cicero zwar sehr übel nahm, aber doch nicht widerlegen konnte.
Vielmehr enthalten zwei Briefe von ihm eine Bestätigung der
Aussage des Antonius. Erstens ad Att. I, 12, wo Cicero sich
gegen Alticus in geheimnissvoller Weise über die Saumseligkeit
des Antonius (der unter dem Namen Teukris gemeint ist) im
Zahlen beklagt; und sodann an Antonius selbst (Farn. V, 5), in
welchem er seinen gewesenen Amtsgenossen mahnt und bedroht,
abef* alle Ausdrucke so unbestimmt und allgemein hält dass er
nicht compromittiert war auch wenn Antonius den Brief ver-
öffentlichte; wegen der Hauptsache verweist er den Antonius an
die mündlichen Eröffnungen des Atticus, der in Alles eingeweiht
sei. Diese Geheimthuerei ist sehr erklärlich. Zwar hatte der
Handel an sich nichts Unehrenhaftes, da ja Cicero ein Recht auf
die fettere Provinz hatte, und es kann sein dass dergleichen Ver-
träge unter Amtsgenossen oft vorkamen. Indessen Cicero musste
hiebei das Licht desshalb scheuen weil er den Tausch von Anfang
an und fortwährend, als einen uneigennützigen, aus Aufopferung
Leben. 301
für das Staatsinteresse hervorgegangenen, sich zum Verdienst
anrechnete. Ausser diesem Tausche suchte Cicero seinen Amts-
genossen auch dadurch unschädlich zu machen dass er denselben
mit einem Kundschafter umgab, in der Person von dessen eigenem
Ouästor Publius Sestius.
In der politischen Stellung Cicero's bildet sein Consulat den
Wendepunkt. Hatte er bisher zur demokratischen Partei gehalten,
deren Abgott Pompeius, deren Auswuchs Catilina und deren ge-
heimer Leiter Caesar war, so war ihm diese Stellung mehr durch
die Umstände aufgedrängt worden als dass sie eine Frucht seiner
eigenen Neigung und Ueberzeugung gewesen wäre. Zurückge-
stossen und befeindet von der Nobilität hatte er keine andere
Wahl als sich an deren Gegner ; die Demokraten, anzuschliessen,
wenn er nicht in der Vereinzelung zusehen wollte wie Andere
zu lllacht und Ehre gelangten. Als er nun aber das Ziel seines
Ehrgeizes erreicht hatte schob er die Leiter bei Seite auf der
er es erklommen hatte; seine im Innersten conservative und
arfstokratische Natur machte ihre Rechte geltend, und immer
entschiedener stellte er sich auf die Seite des Senats und seiner
bisherigen Gegner, der Nobilität. Ein Ausfluss dieser Frontver-
änderung ist der Widerstand den er vom ersten Tage seines Con-
sulats an dem Ackergesetze des Volkstribunen Servilius
Rullus entgegenstellte. Dieser beantragte die Ernennung von zehn
Männern mit der unbegrenzten Vollmacht über die Mittel des
Staates zu verfügen, davon nach Belieben Ländereien in Italien
anzukaufen und diese zuzutheilen wem sie wollen. Der Vorschlag
war so masslos dass es Caesar , von weichein derselbe dem Servilius
eingegeben war, selbst damit nicht Ernst gewesen sein kann;
vielmehr war seine Absicht dabei wohl nur: seine eigene Volks-
beliebtheit zu steigern, zwischen die Optimatenund das Volk eine
weitere Brandfackel hineinzuwerfen und den iveuen Consul in
Verlegenheit zu bringen, indem er ihn nöthige die demokratische
Maske abzulegen und damit zugleich auf einen grossen Theil
seines Einflusses zu verzichten. Diess gelang auch zum Theile.
Qcero hielt gegen den Vorschlag vier Reden, wovon drei erhalten
sind. In diesen gebärdet er sich zwar noch möglichst al&„ Volks-
freund", spricht von der Nobilität als von seinen Gegnern, und
stellt sich an als ob er nur im Interesse des Volkes selbst den
Vorschlag bekämpfe, eine Wendung welcher auch der Erfolg
der Reden — die Zurücknahme des Vorschlags — wohl zum
302 Cicero.
gröMten Tbeile beizumessen ist Indessen wenn es ihm auch
gelang durch seine Beredtsamkeit den eigentlichen Standpunlit
ffir den Augenblick zu yerrücken, so war das Nachhaltige doch
die Thatsache dass er einem Ackergeselze das dem Volke grosse
Vortheile bot entgegengetreten war. Dieser Eindruck war auch
auf Seiten des Senats der überwiegende: sie waren dem Cicero
für sein Auftreten sehr dankbar und sahen ihn schon halb als
einen der Ihrigen an, obwohl er auch in diesen Reden dem
ihnen verdächtigen Pompeius Weihrauch streute.
Ferner zeigte sich Cicero's Uebergang ins conservative Lager
darin dass er sich angelegentlichst bemähte seine eigenen Standes*
genossen, die Ritter, theils vom Volke abzuziehen theils möglichst
eng an den Senat zu ketten. Aus diesem Grunde warf er sich
auch zum Vertheidiger des Lucius Roscius und seines Gesetzes
auf. Dieser hatte im Jahr 687 als Volkstribun dem Ritterstande
abgesonderte Sitzplätze im Theater zugewiesen, eine Massregel
die damals durchgieng, jetzt aber die Folge hatte dass das Volk,
von ehrgeizigen Führern aufgehetzt, den Roscius, als er im
Theater erschien, mit Zischen und Lärmen empfieng. Auf die
Nachricht hievon fand auch der Consul Cicero sich im Theater
ein, ersuchte die Zuschauer ihm in den Tempel der Beilona zu
folgen, und abermals gelang es hier seiner Beredtsamkeit und
Popularität das Volk zu beschwichtigen.
Noch schärfer trat seine veränderte politische Stellung hervor
in seinem Widerspruch gegen die Aufhebung der völlig unge-
rechten und grausamen Verordnung des Sulla dass die Nach-
kommen der Geächteten neben dem Verlust ihres Vermögens
überdiess von allen bürgerlichen Aemtern ausgeschlossen sein
sollen. Cicero erkannte die Ungerechtigkeit dieser Verfügung
ausdrücklich an, widersetzte sich aber ihrer Umstossung in blin-
dem Interesse ffir die augenblickliche Ruhe, und so nachhaltig
war die Wirkung seiner frühern Leistungen und Parteistellung,
so gross der Glanz den gerade der Mangel an Ahnen auf ihn
warf dass auch von diesem unpopulären Auftreten seine Popularität
nicht gründlich erschüttert wurde.
Auch seine Privatreden aus diesem Jahre tragen die Farbe seiner
neuen politischen Richtung: er vertheidigte den C. Rabirius
gegen die Anschuldigung dass er den Saturninus erschlagen habe.
Saturninus war ein Demagog von der niedrigsten Sorte gewesen,
der im Jahre 654 durch seine Bande einen Bewerber um das
Leben. 303
Consulat auf dem offenen Markte hatte todtschlagen lassen, dann
vom Senat zum Tode verurteilt und von dem erbitterten Volke
mit Dachziegeln todtgeworfen worden war. Trotz dem Allem,
und obwohl seitdem 37 Jahre verflossen waren, die Sache dem-
nach völlig verjährt erscheinen musste , wurde Rabirius auf Caesar's
Anstiften als angeblicher Mörder des Saturninus zur Verantwortung
gezogen. Caesar beabsichtigte damit theils sich beim Volke be-
liebt zu machen theils den Senat einzuschüchtern, dass er nicht
wieder wie damals zu ausserordentlichen Massregeln greife.
Rabirius, bei Caesar (als Duumvir) angeklagt und von ihm ver-
urteilt, appellierte ans Volk. Vor diesem führten Cicero und
Hortensius seine Sache ; aber auch diese hätten seine Verurteilung
nicht zu verhindern vermocht, wenn nicht der Prätor Q. Metellus
mit einem Gewaltstreich ihm zu Hülfe gekommen wäre. Ferner
vertheidigte Cicero den C. Piso, der von seinem Consulat (687)
her beim Volke verhasst war und jetzt, nach Verwaltung des
narboneusischen Gallien , gleichfalls auf Caesar's Retreiben, wegen
Raub und Tödtung eines Transpadaners angeklagt wurde. Cicero
bewirkte die Freisprechung des unvolksthümlichen Mannes durch
die Geschwornen ; aber auch Caesar hatte seine Absicht erreicht.
Cicero mochte das Redürfniss fühlen nach so vielen con-
servativen Kundgebungen auch etwas zu thun um seine Unab-
hängigkeit dem Senat gegenüber zu beweisen, sich den Namen
eines Volksfreundes zu retten, und warf sich daher auf den Miss-
brauch der legationes liberae. Diese bestanden darin dass Senats-
mitglieder welche in einer Provinz Privatgeschäfte zu besorgen
hatten sich vom Senate den Titel eines Legaten ertheilen Hessen,
um als officielle Abgesandte kostenfrei reisen zu können. Cicero
hatte selbst eben erst, bei seiner Rewerbungsreise nach Gallien,
hievon Gebrauch gemacht; jetzt trat er dagegen auf und suchte
diesem offenbaren Unfug durch ein Gesetz zu steuern. Indessen
erhob sich gegen seinen Vorschlag tribunicischerv Einspruch, und
Cicero musste sich begnügen die Dauer solcher Sendungen auf
ein Jahr zu beschränken.
Nicht viel mehr Glück hatte er mit einem andern Gesetzes-
vorschlag. Die Rewerber um das Consulat für das nächste Jahr,
und namentlich wieder Catilina, machten so schamlose Gmtriebe
dass die Sache im Senate zur Sprache kam und namentlich ein
ehrenhafter Mitbewerber, der Rechtsgelehrte Sulpicius Rnfus,
darüber Rcschwerde führte. In Folge dessen verschärfte Cicero,
804 Cicero.
im Auftrage des Senats , die bestehenden gesetzlichen Verfügungen
über die Wahlbewerbung (ambitus), indem er theils den Begriff
erweiterte ] und klarer bestimmte theils die processualischen
und Strafbestimmungen darüber schärfer machte. In ersterer
Beziehung enthielt diese lex Tullia z. B. das Verbot des
Gebens von öffentlichen Spielen und Gastmählern während der
zwei letzten Jahre vor dem Wahltag, in letzterer die Bedrohung
mit zehnjähriger Verbannung. Das Gesetz, an sich schon wir-
kungslos in einer so gründlich verdorbenen Zeit, musste es noch
mehr dadurch werden dass sein Urheber selbst gleich den Ersten
der demselben verfallen gewesen wäre gegen die wohlverdiente
Strafe desselben in Schutz nahm und bei dieser Gelegenheit sein
eigenes Gesetz möglichst heruntersetzte und desavouierte. £s
geschah diess noch im Jahr 691 in Bezug auf L. Licinius Murena,
den er durch seine witzige Bede wirklich der Gefahr entzog.
Dagegen äusserte schon damals Cato sein Befremden darüber dass
Cicero so als Advokat wieder niederriess was er eben als Staats-
mann gebaut hatte, und Juventius Laterensis behauptete später,
Cicero habe jenes Gesetz überhaupt nur gegeben um desto be-
weglichere Schlussreden zu halten. Nichts desto weniger wäre
dasselbe wohl seine einzige politische That während seines Con-
sulats geblieben , wenn ihm nicht sein Gluck noch zu guter Letzte
den fetten Bissen der catilinarischen Verschwörung in die
Küche gejagt hätte.
Catilina hatte in diesem Jahre seine Bemühungen um das
Consulat verdoppelt, aber daneben auch seine geheimen Wühle-
reien und Drohungen unermüdlich fortgesetzt. Cicero erhielt
sich durch seinen bezahlten Kundschafter Curius fortwährend auf
dem Laufenden über alle Plane des Catilina und hielt ihm die-
selben in öffentlicher Senatssitzung mit allen Einzelnheiten vor.
Da rückte auch Catilina mit der Erklärung heraus: der Staat
bestehe jetzt aus zwd Leibern, einem gebrechlichen mit einem
schwachen Haupte, und einem starken ohne Haupt, — er
werde diesem Mangel abhelfen. Am Wahltage wollte Catilina
das Beispiel des Saturnlnus nachahmen und den lästigen Consul
durch Mord beseitigen, um dadurch dessen ganze Partei einzu-
schüchtern und ohne Widerstand das Consulat zu erlangen. Aber
Cicero, durch seinen Spionen von der Gefahr benachrichtigt, er-
schien auf dem Marsfelde umgeben von einer starken Schutzwache
rüstiger Männer (Ritter) und mit einem grossen, in die Augen
Leben. 305
fallenden Harnisch. Catilina musste daher seinen Anschlag auf
Cicero aufgeben und fiel bei der Wahl durch. Jetzt betrachtete
er alle Bande zwischen sich und dem Staate als zerrissen, die
Fehde als erklärt, und entschloss sich daher die Maske der Ge-
setzlichkeit vollends ganz abzuwerfen, den Handschuh aufzunehmen
den ihm die Gesellschaft hingeworfen zu haben schien. Nach
allen Theilen Italiens zogen seine Sendboten aus, um das ganze
Land mder die Aristokratie aufzuwiegeln und zu bewaffnen;
anonyme Warnungen gelangten an einzelne Senatoren, worin die
Schilderhebung des Manlius für den 27. October, ein allgemeines
Blutbad in Rom für den 28. October angekündigt war. Als diese
Briefe am 21. October im Senate mitgetheilt wurden erfolgte der
Beschluss : die Consuln sollen Acht haben dass der Staat nicht ge-
fährdet werde, wodurch er die Consuln verantwortlich machte
für die Integrität des Staates und damit zu Ausnahmsmassregeln
bevollmächtigte. Rom war dadurch in den Belagerungszustand er-
klärt. Wie dann überallher Aufstände und Ansammlungen Bewaff-
neter berichtet wurden, da entsandte auch der Senat nach allen Rich-
tungen hin Heerführer, um Truppen auszuheben ; den Angebern der
Verschwörung wurden Belohnungen zugesichert, in Rom selbst aus-
gedehnte Sicherheitsmassregeln getroffen, die aber mehr ängstigend
und aufregend wirkten als beruhigend, den Catilina dagegen von
Nichts abhielten, da Niemand wagte ihm selber zu Leibe zu gehen.
Zum Hohn auf die Zaghaftigkeit seiner Gegner bot er sich selbst
einem nach dem andern zu freier Haft an. Aber das in Etrurien
gesammelte Heer harrte ungeduldig seines Führers und des Los-
schlagens, während in Rom eine unsichtbare Hand alle seine
Massregeln vereitelte: so entschloss sich Catilina endlich doch
seinen Feinden den Gefallen zu thun und Rom zu verlassen. In
einer Versammlung, in der Nacht vom 6—7. November, ver-
kündete er diess seinen Getreuen, bestimmte wer in seiner Ab-
wesenheit die namhaftesten Gegner zu ermorden, wer die Haupt-
stadt anzuzünden habe u. s. w., vor Allem aber drang er darauf dass
Cicero noch zuvor, noch in dieser Nacht, beseitigt werde. Aber
wiederum erfuhr es Cicero bei Zeit, Hess die Mörder nicht ein
— wiewohl dieselben vorläufig völlig unangefochten blieben — >
versammelte an demselben Tage (7. November) den Senat im
Tempel des Juppiter Stator und hielt hier die erste catili-
narische Rede. Catilina erwiderte im Tone eines gekränkten
Unschuldigen ; als er dann aber zu Schmähungen auf Cicero über-
Te uff Ol, Stadien. 20
306 Cicero.
gieng schrie Alles über ihn hinein, und zornigen Blickes verliess
er die Sitzung. Aus Rom gegangen vikve er aber trotz dieser
Rede wohl schwerlich, wenn ihm nicht daran gelegen gewesen
wäre früher im Felde zu sein als die Truppen des Senats. Nach-
dem er daher seinen Genossen wiederholt die getroffenen Ver-
abredungen eingeschärft und versprochen hatte bald mit dem
Heere vor Rom zu erscheinen verliess er die Stadt in der Nacht
vom 7 — 8. November. Jetzt beeilte sich Cicero dem Volke von
den Vorgängen im Senat und von CatiUna's Abreise Nachricht zu
geben, schon am 8. November, in der zweiten catilinarischen
Rede. Als dann die Kunde einlief dass Catilina in Etrurien
offen die Fahne des Aufruhrs aufgepflanzt habe wurde er und
sein Mitanfuhrer Manlius vom Senate für Hochverräther erklärt,
seinen Genossen aber Begnadigung zugesagt, falls sie bis zu
einem bestimmten Tage die Waffen niederlegten; die Consuln
sollten Truppen ausheben, Antonius den Oberbefehl über sie
übernehmen, Cicero aber zum Schutze der Stadt zurückbleiben.
Fortwährend umspann dieser die Verschworenen mit deinen Kund-
schaftern: durch sie wusste er dass der Hauptschlag zu Rom in
der Nacht vom 19 — 20. December erfolgen sollte; aber von
diesen Mittheilungen konnte er keinen amtlichen Gebrauch machen,
und so fehlte es ihm noch immer an juridischen Beweismitteln,
als der Zufall und die Kopflosigkeit der Verschworenen ihm solche
von selbst in die Hände führten. Die in Rom zurückgebliebenen
Führer der Verschwörung begiengen nämlich die ganz unbegreif-
liclie Unvorsichtigkeit, die ihnen fast wildfremden Gesandten der
Allobroger nicht nur ins Geheimniss zu ziehen , sondern denselben
auch von ihnen unterzeichnete und besiegelte Schreiben an Catilina
und in ihre Heimat mitzugeben. Die Allobroger aber waren ge-
scheid genug zu bedenken dass die Gunst und Dankbarkeit des
Consuls und des Senates für sie mehr Werth habe als die von
einigen Abenteurern, machten von der ganzen Sache Anzeige,
und Hessen sich mitsammt ihren Briefschaften gefangen nehmen,
in der Nacht vom 2 — 3. December. Nun beschied am 3. December
Cicero die Graviertesten zu sich; vier davon entkamen bei Zeit,
die fünf anderen aber g-iengen arglos in die Falle. Sie wurden
in die Senatssitzung geführt und einzeln verhört, und sehr bald
sahen sie sich durch ihre eigene Handschrift, sowie durch die
mündlichen Aussagen der Allobroger überwiesen, und wurden
nun auf Befehl des Senates als Hochverräther verhaftet. • Noch am
Leben. 307
Abend dieses Tages erstattete Cicero dem Volke von Allem Bericht
durch die dritte catilinarische Rede. Am 4. December
wurden den Allobrogern Belohnungen zuerkannt und, auf das
Gerücht hin man wolle die Verhafteten gewaltsam befreien, gleich
für den folgenden Tag eine neue Sitzung anberaumt. In dieser,
am 5. December, wurde dann über die Bestrafung derselben
berathen und abgestimmt. Das Ergebniss war dass Caesar's An-
trag auf lebenslängliche Haft verworfen und dagegen der durch
Cicero — in seiner vierten catilinarische Rede — und
Cato unterstutzte des D. Junius Silanus auf Todesstrafe ange-
nommen wurde. Mit rascher Entschlossenheit liess Cicero noch
an demselben Abend das Urteil vollstrecken. Schon war es Nacht
als er mit glänzendem Gefolge auf dem Markte erschien und dem
in Spannung harrenden Volke feierlich verkündete dass die Ver-
brecher geendet haben. Mit Jubel wurde die Nachricht aufge-
nommen, und im Triumphzuge geleitete die Menge den Consul
durch die festlich erleuchtete Stadt. Damit war Catilina's Sache
moralisch vernichtet, und nicht lange darauf, zu Anfang des
Jahrs 692, erfolgte auch ihre physische Vernichtung.
So endete ein Unternehmen das an sich, in seinem Ankämpfen
wider die unnatürliche^ ungerechte und verdorbene gesellschaft-
liche Ordnung, vollkommen berechtigt war, um so weniger aber
wenn man auf das sieht was seine Urheber an deren Stelle setzen
wollten, auf die Mittel die sie für ihre Zwecke in Bewegung
setzten, und endlich auf ihren persönlichen Beruf eine sociale
Umgestaltung herbeizuführen. Es ist l^eine Frage: die damalige
Gesellschaft und Verfassung war des Fortbestandes unwürdig und
unfähig; aber nicht einer Handvoll Lumpen und Verbrecher sollte
sie zum Opfer fallen, die aus den riesigen Trümmern nur
Scherben zur Befriedigung ihrer niedrigen Zwecke und Gelüste
aufzulesen gewusst und die Edelsteine daran mit blödsinniger
Brutalität zertreten hätten; nur an den sollte die Welt ihre
Unabhängigkeit verlieren der sie zu erobern, zu erhalten, zu
bewegen und zu beherrschen verstände. Und er war schon auf
dem Platze, dieser einzig würdige Freier; schon dämmerte in
ihm die Ahnung seiner weltgeschichtlichen Bestimmung, schon
arbeiteten in ihm dämonisch die Ungeheuern Kräfte und Leiden-
schaften ; aber ruhig stand er noch da — der Schnitter dem die
uncrmessliche Ernte zugedacht war, und keine Sichel verkündigte
noch seine Absicht und seine Zukunft: seine Zeit war noch nicht
20*
308 Cicero.
gekommen; erst wenn sein Arm erstarkt wäre für die schwere
Arbeit wollte er ihn erbeben. So liatte die Welt vorläuOg noch
Ruhe, und dem Cicero blieb der Ruhm sie gerettet zu haben.
Freilich war es nur ein Knabenanfall gewesen, der Nichts ver-
diente als die Gerte; aber Cicero hatte sich ins Zeug geworfen
als sei die höchste Gefahr; und wirklich war der Staat so morsch
und welk dass der Consul Recht zu haben schien. So fasste es
besonders der Senat auf, dessen Vorrechte und Missbräuche aller-
dings ernstlich bedroht gewesen waren: er bezeigte dem Cicero
seinen Dank für die Rettung des Reiches, beschloss ihm zu Ehren
ein Dankfest abzuhalten, ein Mitglied erklärte dass derselbe den
Rurgerkranz verdiene , Andere nannten ihn Vater des Vaterlandes.
Am lebendigsten und tiefsten aber war Cicero selbst von dem Allem
überzeugt. Anfangs zwar, namentlich in Catil. III., war er noch
aufrichtig genug zu bekennen dass er dem Zufall und der boden-
losen Verblendung der Verschworenen das Meiste verdanke, und
den Göttern die Ehre zu geben: allmählich aber redete er sich
so völlig in die Ueberzeugung hinein. Er habe Alles gethan, dass
er ausdrücklich sich dagegen verwahrte als hätte daran das Walten
des Zufalls Antheil und wäre es nicht ganz allein sein Verdienst.
Vergl. z. R. Rriefe an Atticus 1, 20. Ueberhaupt, je mehr von
diesem Höhepunkte seines Lebens an sein Stern erbleichte, je
mehr er sich bald von Andern in den Hintergrund gedrängt sah,
desto unermüdlicher kehrte er immer auf jene Zeit zurück; sein
Consulat und insbesondere der 5. December wurde der Mittel-
punkt aller seiner Gedanken und Reden, der Anlass zu einer
Selbstberäucherung welche unter seinen Schwächen eine hervor-
ragende Stelle einnimmt. Vgl. z. R. anAtt. XVI, 14 a. E. (vom
J. 710). In gebundener und in ungebundener Rede, in lateinischer
und griechischer Sprache wollte er sein Consulat gepriesen sehen ;
wer ihm zu nahe kam und die Fähigkeit dazu besass, an den
stellte er dieses Ansinnen^ an Archias, Chilios, Herodes, Poseidonios,
an Atticus und später an Lucceius; und da die Meisten ablehnten,
die Andern es ihm nicht recht machten , so entschloss er sich selbst
darüber zu schreiben, zuerst in griechischer Sprache, ein lateinisches
Werk sollte später hinzukommen, sowie ein Gedicht, „damit ja
keine Gattung des Selbstlobes von ihm übergangen werde" (ad
Att. I, 19).
Während er aber die Ehre von diesen Vorgängen für sich
selbst und sich allein in Anspruch nahm schob Cicero zugleich die
Leben. 309
Verantwortliclikeit dafür dem Senate zu, dessen Beschluss er nur
vollstreckt haben wollte als der 5. December ihm Anfechtung
zuzog. Ein bedenkliches Wölkchen, der Vorbote nahender Stürme,
stieg schon am Ende des Consulatsjahres auf: der neue Volks-
tribun Metellus Nepos, bisher Legat des Pompeius, sprach nach-
drücklich gegen die stattgefundene Hinrichtung römischer Bürger,
und vergebens bemühte sich Cicero durch Vermittlung von Frauen
ihn zu beschwichtigen. Vielmehr, als Cicero am letzten Tage
seines Consulats (31. December) die übliche Rede ans Volk halten
wollte, verwehrte es ihm der Tribun, weil er auch die Ver-
schworenen ungehört bestraft habe; nur den gewöhnlichen Eid
nicht gegen die Gesetze gehandelt zu haben gestattete er ihm,
und Cicero schwur an dessen Stelle dass er allein den Staat
gerettet habe. Vergebens sandte Cicero abermals gemeinschaft-
liche Freunde an Metellus, um sich für die Zeit nach seinem
Consulate von ihm Ruhe zu erbitten : Metellus konnte nicht mehr
zurück, doch blieb es diessmal noch bei blosem Wortgefechte,
in welchem Cicero seine Metellina hielt, da der Versuch Cicero
anzuklagen, weil er römische Bürger habe hinrichten lassen, an
dem nachdrücklichen Widerstände des Senates scheiterte. Aber
auch fernerhin blieb diess die Stelle wo Cicero verwundbar war»
da die Massregel wirklich gesetzwidrige Seiten hatte. Es war
eine alte, schon durch die zwölf Tafeln getroffene und durch ein
Gesetz des jungem Gracchus bestätigte und verschärfte Bestim«
mung dass ein römischer Bürger nur durch Urteil des Volkes
(in den Centuriatcomitien) am Leben gestraft werden dürfe.
Dieses Gesetz war verletzt worden : zwar durch den Senat, indem
er theils den Consuln Vollmacht zu Ausnahmsmassregeln verlieh
theils die Verschworenen zum Tode verurteilte, aber der Senat
als Ganzes konnte nicht zur Verantwortung gezogen werden, man
musste sich daher an den Vollstrecker jenes Urteils, an die voll-
ziehende Behörde halten, und man war dazu auch insofern be-
rechtigt als der Consul das Recht wie die Pflicht hatte gesetz-
widrige Beschlüsse des Senats unvoUzogen zu lassen. Es war dess-
halb rechtlich wirkungslos dass Cicero den Senatsbeschluss als
Schild vor sich hinhielt, wiewohl aus jenem Verhältniss natürlich
für den Senat sich die moralische Verpflichtung ergab den Voll»
zieber seiner Beschlüsse nicht fallen zu lassen.
Bei diesem Bewusstsein von den Blossen welche sein Ver-
fahren biete und von seiner Bedürftigkeit durch die factische
310 Cicero.
Macht gestutzt zu werden war es für Cicero um so peinlicher
dass derjenige in dessen Besitz die letztere im Augenblicke war,
Pompeius, mit seinem Urteil über sein Verfahren fortwährend
zurücichielt, da er der Stimmung in Rom darüber nicht gewiss
war und es desshalb mit keiner Partei verderben mochte. So
hieng das Schwert fortwährend über Cicero's Nacken, und dieser
that noch überdiess das Seinige um es in recht wilde, rück*
sichtslosc und grimmige Hände zu bringen. Den Anstoss dazu
gab dass im December 692 sich Clodius in Weiberkieldern in das
Haus des Caesar einschlich, während die Frauen hier das Fest
der Bona Dea feierten, aber entdeckt und desshalb angeklagt wurde.
Die Strafe der Verbannung stand auf diesem Frevel, und Clodius
hätte daher für seinen Leichtsinn mit der Vernichtung seiner
politischen Laufbahn büssen müssen. Um diess abzuwenden setzte
er Himmel und Erde in Bewegung. Es war der Antrag gestellt zu
Aburteilung seines Verbrechens ein eigenes Gericht niederzusetzen,
da die gewöhnlichen Geschworenen bei der eingerissenen Ver-
derbniss zu wenig Bürgschaft für Gewissenhaftigkeit des Spruches
zu bieten schienen. Diess vor Allem suchte Clodius zu beseitigen,
durch Bitten, Bestechung und durch Aufstellung einer schlag-
fertigen Bande, und auch Cicero, Anfangs streng gestimmt, liess
sich erweichen. Wirklich gelang es dem Clodius die Zurück-
nahme des Antrages durch den Senat zu bewirken; aber eine
spöttische Bemerkung die er in einer Voiksrede über Cicero's
Allwissenheit fallen liess brachte diesen von Neuem in Harnisch,
und er trat in dem Processe selbst als Zeuge gegen Clodius auf,
indem er dessen vorgebliches Alibi Lügen strafte. Dennoch wurde
Clodius von den bestochenen Geschworenen durch Stimmenmehr-
heit freigesprochen. Cicero's Entrüstung darüber war ebenso
gross wie begründet, und er konnte nicht unterlassen durch fort-
währende Angriffe aller Art seinen Gegner immer mehr zu er-
bittern. Um so mehr hatte er auch Anlass sich nach einer Schutz-
wehr gegen ihn umzusehen, zumal da gleichzeitig de^ Bund
zwischen Senat und Ritterstand sich zu lockern anOeng. Einen
solchen Schutz suchte er theils darin dass er sich f(ft*twährend
eifrig mit gerichtlichen Vertheidigungen beschäftigte theils in
möglichst engem Anschlüsse an den zurückgekehrten Pompeius.
Diesen machte der Wunsch seine Verfügungen in Asien durch
den Senat bestätigt zu sehen geneigt auf eine Verbindung mit
dem einflussreichen Senatsmitgliede einzugehen; doch erfüllte
Leben. 311
Cicero in dieser Beziehung seine Erwartungen nicht, indem er
noch zu kurz im Lager der Optinaaten war als dass er einen so
entschiedenen Bruch mit ihnen hätte wagen können. So aber-
mals in schwerer Bedrängniss half er $ich damit dass er allmählich
sich von der Politik zurückzog und seine Müsse dazu benützte
sich um so mehr in die Betrachtung seiner einstigen Grösse zu
vertiefen, indem er jetzt (694) griechisch geschriebene Denkwürdig-
keiten und ein lateinisches Gedicht über sein Consulat fertig machte,
eine lateinische Abhandlung darüber wenigstens begann.
Im Jahr 695 =^ 59 war Caesar Consul und schloss mit Pom-
peius und Crassus das erste Triumvirat, ein gegenseitiges Schutz-
und Trutzbündniss. Die Triumvirn legten Werth darauf auch
Cicero in ihr Interesse zu ziehen, da seine Beredtsamkeit ihnen
nützlich werden konnte. Aber noch spielte dieser den spröden
Aristokraten und war wohl auch zu lebhaft von dem Gedanken
an seine eigenen Leistungen durchdrungen als dass er sich hätte
dazu herbeilassen mögen die Triumvirn durch seine Anerkennung
oder gar durch seine Dienstleistungen zu fördern, ja er ergoss
sich bei Gelegenheit der Vertheidigung seines ehemaligen Amts-
genossen Antonius in bittere Klagen über den schmachvollen Zu-
stand des Staates und damit die höchst unbedeutende Bolle zu
der er sich immer mehr verdammt sah. Noch an demselben
Tage strafte Caesar biefür ihn dadurch dass er den Clodius gegen
ihn loszulassen drohte, indem dieser jetzt von einem Plebejer
adoptiert wurde, um Volkstribun werden zu können. Das hatte
gleich auch die Wirkung dass Cicero vor der Verhandlung über
Caesar 's Ackergesetz sich aufs Land flüchtete, von Atticus sich
mit der Zumutung ein geographisches Werk zu schreiben quälen
Hess, und nur im Stillen seiner Erbitterung Luft machte durch
eine geheime, erst nach seinem Tod zu veröfiTentlichende Ge-
schichte seiner Zeit. Als jedoch Caesar ihm nach seiner Bück-
kehr nach Bom neue Anträge machte kostete es ihn bereits einigen
Kampf sie abzulehnen; Caesar aber war endlich dieser gütlichen
Versuche müde und beschloss sich den Bücken vor ihm dadurch
zu decken dass er ihn aus Bom entferne, obwohl Cicero im Augen-
blicke sich ruhig verhielt und sich auf Vertbeidigungsreden , wie
für Flaccus, beschränkte.
Clodius war nämlich inzwischen Volkstribun geworden, und
nachdem er der Zustimmung des Volks und der Consuln sich ver-
sichert hatte trat er mit dem Antrag auf: wer dnen römischen
312 Cicero.
Bürger ohne Urteil und Recht gelödtet habe solle mit dem Banne
belegt werden. Cicero war nicht ausdrücklich genannt, aber Jeder-
mann wusste dass nur er gemeint sei. So legte er denn das Trauer-
gewand an und flehte zu dem Volke , und auch der Senat beschloss
seine Trauer zu theilen; die Consuln aber verboten die Ausfüh-
rung, und Cicero und seine Freunde wurden wo sie erschienen
?on Clodius und seiner Bande gehöhnt und misshandelt. Ver-
gebens flehte Cicero den Pompeius, vergebens den Caesar um
Verwendung und Schutz an: da sank ihm der Mut, und nächt-
licber Weile entwich er aus der Stadt (Mitte des März 696). Am
folgenden Tage setzte Clodius das Gesetz durch, welches den
Cicero in die Acht erklärte und mit gleicher Strafe alle diejenigen
bedrohte die ihm Unterschiauf geben würden, was jedoch bald
dahin gemildert wurde dass er 400 Millien von Rom wegverbannt
sein solle. Die Städte meidend zog der Verbannte über Vibo,
Thurii und Tarent Brundisium zu, wo er am 18. April ankam
und am 30. April unter Segel gieng. In Epirus zu bleiben oder
nach Athen zu gehen getraute er sich nicht, aus Furcht vor den
verbannten Genossen des Catilina; um so willkommener war es
ihm dass Plancius, der Quästor des Proprätors von Makedonien,
ihn in Dyrrachium aufsuchte und nach Thessalonich in seine
Wohnung mitnahm, wo sie am 23. Mai anlangten. Bis zum Herbste
blieb hier Cicero unter dem Schutze des Quäslors; als aber die
Nachricht einlief dass Soldaten seines Feindes Piso, welcbeni
Makedonien bestimmt war, einrücken werden, kehrte er nach
Dyrrachium zurück, von wo er am 26. November einen Brief
schrieb und wo er vollends blieb , weil in Rom seine Sache eine
günstigere Wendung zu nehmen anfieng. Die neuen Consuln
waren ihm gewogen, und unter den Volkstribunen waren seine
eifrigen Freunde Sestius und Milo, die den Clodius mit seinen
eigenen Wafl'en bekämpften, mit geworbenen Banden und 6e-
waltthaten; zudem war Pompeius selbst auch über den immer
frecher gewordenen Clodius aufgebracht und erlangte endlich
Caesar's Zustimmung zu Cicero's Zurückberufung. Zwar am 1. und
25. Januar 697 konnte diese noch nicht durchgesetzt werden;
aber ein Senatsbeschluss empfahl den Cicero allen Völkern und
Provinzialbeamten , dankte dem Plancius und den Städten die ihn
aufgenommen, und forderte die römischen Bürger ausserhalb
Roms auf bei der Berathung des Rückberufungsantrages zahlreich
sich einzufinden. Am 4. August kam derselbe zur Abstimmung;
Leben. 313
Pompeius unterstülzle ihn durch Worte, Milo durch Aufstellung
von Bewaffneten' gegen die Angriffe der Clodianer, die Bewohner
der Municipien waren zahbeich erschienen: er gieng durch, und
Cicero wurde unbedingt zur Räckicehr ermächtigt. Auf die Nach-
richt vom Stande der Dinge war Cicero schon am nämlichen Tage
von Dyrrachium aufgebrochen und betrat am 5. August bei Brun-
disium wieder den heissersehnten Boden der Heimat. Die Ent-
fernung von ihr hatte er ungefähr mit derselben Fassung ertragen
wie später Ovid: seine Briefe aus dieser Zeit sind nicht viel
weniger thränenreich als Ovids Tristien und Briefe aus dem Pontus,
und Zeitlebens blieb ihm die Erinnerung daran und stimmte ihn
noch vorsichtiger und ängstlicher als er schon zuvor gewesen war.
Cicero's Reise nach Rom glich einem Triumphzuge, so ström-
ten aus allen Städten die Bewohner ihm jubelnd entgegen. Nach
17 monatlicher Abwesenheit zog er am 4. September, bewillkommt
von den Optimaten und umjauchzt von dem Volke, in Rom ein,
begab sich sogleich auf das Capitol, um den Göttern seinen Dank
darzubringen, worauf er am folgenden Tage (5. Sept.) bei dem
Senat und dem Volke je in einer Bede sich bedankte.
Die politischen Verhältnisse traf Cicero in Rom so wie er
sie am wenigsten wünschte: der Senat und Pompeius standen
euiander in der Art gegenüber dass der Zurückkehrende sich
zwischen ihnen entscheiden musste; und doch war er Beiden ver-
pflichtet, bedurfte Beider und konnte es daher mit keinem von
Beiden verderben. Pompeius hatte eine Theuruug künstlich her-
beigeführt, um sich unentbehrlich zu machen und die XJebertragung
von Truppen und Schiffen zu erzwingen ; der Senat aber fürchtete
den Ehrgeiz des Pompeius und sträubte sich dagegen ihm die
Mittel zu dessen Befriedigung in die Hand zu geben. Auf welche
Seite Cicero trat, so verletzte er dadurch die Gegenpartei; er
gebrauchte daher sein altes Mittel — von der Verhandlung darüber
wegzubleiben. Aber da Ciodius vor dem Volke behauptete, die
Theuerung sei durch das Zusammenströmen der vielen Fremden
aus Anlass von Cicero's Zurückberufung herbeigeführt, so sahen
sich die Consuln um so mehr veranlasst Cicero zur Theilnahme an
den Berathungen über die Massregeln zur Abhülfe beizuziehen,
und jetzt stellte dieser den Vermittlungsantrag: dem Pompeius
zwar nicht Heer und Flotte, aber doch die Oberaufsicht über
das Getreidewesen auf fünf Jahre zu übertragen. Pompeius
forderte und erhielt ausserdem fünfzehn Legaten, zu deren
314 Cicero.
Erstem er den Cicero ernannte» der jedoch die Ehre nur unter
der Bedingung annahm dass er dabei in Rom' bleiben könne.
Ganz zu Danke aber hatte er es durch seinen Vorschlag weder
dem Pompeius noch dem Senate gemacht: jenem enthielt er zu
wenig, diesem immer noch zu viel, und Clodius behauptete daher,
der Senat beschuldige den Cicero des Verraths und Abfalls. Doch
entzog ihm der Senat seinen Beistand nicht in Sachen seines
Hauses.
Clodius hatte nämlich nach Cicero's Vertreibung dessen Haus
auf dem Palatin und seine der Stadt nahe gelegenen Villen zer-
stört und den Erlös in die Staatskasse gegeben, einen Theil des
Hausplatzes weihen lassen und einen Tempel der Libertas darauf
errichtet. Zurückberufen suchte Cicero natürlich auch in den
Wiederbesitz seines Eigenthums zu gelangen. Am 30. September
suchte er vor den Pontifices in der Rede für sein Haus die
materielle und formelle Ungültigkeit der Weihe zu beweisen, und
das Collegium erkannte: wenn der Weihende nicht ausdrücklich
zum Weihen amtlich bevollmächtigt gewesen sei, so sei ein re-
ligiöses Hinderniss der Zurückgabe des Platzes nicht vorhanden.
Ueber das Zutreffen jener Voraussetzung hatte nun der Senat zu
entscheiden , und am 2. October beschloss dieser dass eine solche
Vollmacht nicht ertheilt worden sei, Cicero daher den Platz zurück-
erhalten solle; und überdiess wurden ihm für sein zerstörtes Haus
2 Hillionen, für das Tusculanum 500,000 und für das Cumanum
250,000 Sest. Entschädigung zuerkannt, welche Schätzung Cicero
theilwelse knauserig findet. Daraufhin begann Cicero sein Haus
wieder aufzubauen; aber so gross war die Anarchie damals in
Rom dass am 3. November Clodius die Bauleute verjagte und am
11. November, gleichfalls am hellen Tage und auf offener Strafe,
den Cicero überfiel und in ein Haus zu flüchten nöthigte.
Ueberhaupt bildet in diesen Jahren' der Kampf mit Clodius
und die Furcht vor ihm den Angelpunkt in Cicero's Denken und
Handeln. Der Kampfplatz war bald die Curie, bald das Forum,
bald die Strasse. Im Senate sprach er gegen Clodiius z. Bi Ende
Decembers 697 und hielt Im Jahre 698 wider ihn die R^e über
die Aussprüche der Wahrsager, da Clodius den Spruch der
Seher, man verachte das Heilige, darauf deutete dass Cicero auf
einem der Libertas gehörigen Platze ein Haus baue, wogegen
Cicero behauptete, die Götter zürnen wegen der Fre^l des Clodius.
Auf dem Forum vertheidigte er im Februar 698 den Hilo und
Leben. 315
im März den P. Seslius gegen die AngrifTä des Glodius und griff
selber den Vatinius, der als Zeuge gegen Sestius aufgetreten
war, in einer Rede an; auch bei der Vertheldigung des M. Cae-
lius in diesem Jahre machte er leidenschaftliche Ausfälle auf
Glodius und dessen Schwester. Ausserdem wissen wir dass er
im J. 698 den L. Galpurnius Bestia, den M. Cispius und den
L. Sempronius Atratinus, sämmtlich gegen die Anklage auf Wahl-
bestechung, wiewohl die beiden Ersten vergeblich, vertheidigte.
Strassenkampf führte auch Cicero herbei, indem er die Tafeln
welche den Verbannungsbeschluss gegen ihn enthielten mit Ge-
walt aus dem Capitol entführte; und einen Federkrieg hätte er
dadurch entzünden können dass er unter dem Namen des Voiks-
tribunen Racilius eine Schrift gegen Glodius schrieb , wenn dieser
auf solche Waffen sich hätte einlassen mögen.
Die Angst vor Glodius trieb ihn sich in mächtigen Schutz zu
flüchten: einen solchen aber konnte, das sah Gicero täglich mehr
ein, der selbst machtlose Senat nicht bieten; immer näher rückte
er daher den Triumvirn. Unter diesen stand er mit Pompeius
schon bisher auf leidlichem Fusse; aber Pompeius that Nichts
ohne Gaesar, und diesen musste daher Qcero vor Allem sich zu
befreunden suchen. Schon im Jahr 697 hatte er für ungewöhn-
lich lange Dauer des Dankfestes aus Anlass von Gaesar's Siegen
gestimmt; aber am 5. April 698 machte er wieder einen Anlauf
wider Gaesar: auf seinen Antrag beschloss der Senat dass über
den Fortbestand von Gaesar's Gesetz vom Jahr 695 über die Ver-
theilung campanischer Aecker (an seine Veteranen) — am 5. Mai
berathen werden solle. Bald darauf kam er jedoch zu der Ein-
sicht dass er ein „rechter Esel" gewesen sei auf den Senat sich
zu verlassen und gegen die Triumvirn anzukämpfen. Er fand
daher für gut nicht nur am festgesetzten Tage auf dem Lande
zu sein, sondern sich auch während dieser Zeil mit einer Lob-
schrift auf Gaesar zu beschäftigen. Indessen mochte ihn diess
Selbstüberwindung genug gekostet haben, und um dafür sich
schadlos zu halten setzte er nunmehr dem Lucceius mit der Bitte
zu, eine Lobschrift auf ihn und sein Gonsulat zu verfassen, indem
er naiv genug hinzufügte: er möchte es aus Freundschaft für ihn
mit der Wahrheit und der Geschichte nicht so genau nehmen.
Auch verwendete er sich jetzt eilrig für die Bewilligung der von
Gaesar verlangten Summen (zu Sold) und Legaten , und trug durch
seine Rede über die Gonsularpr<ovinzen mit dazu bei dass
316 Cicero.
die Absicht der Optimalen, nach Abfluss seiner fünf Jahre die
beiden Gallien dem Caesar abzunehmen und einem Andern zu über-
tragen, scheiterte; wie auch die Vertheidigiing des L. Cornelius
Balbus; eines Vertrauten von Caesar und Pompeius, mit dem
Bestreben zusammenhieng sich die Gunst der Machthaber zu ge-
winnen.
Das Frühjahr und einen Theil des Sommers 699 brachte
Cicero wieder auf dem Lande zu, mit wissenschaftlichen Arbeiten
beschäftigt, und kam erst im Juni nach Rom, um Milo in einem
neuen Reehtshandel zu vertheidigen. Bald darauf war er selbst
im Senate Gegenstand eines Angriffs von L. Piso Caesoninus, der
ärgerlich darüber war dass er namentlich auf Cicero's Betreiben
in der Verwaltung Makedoniens einen Nachfolger erhalten hatte.
Cicero erwiderte den Angriff durch eine wütende, von Persön-
lichkeiten der massivsten Art strotzende Rede gegen Piso,
welche den Piso zu einer Replik in gleichem Stile veranlasste.
Im Herbste d. J. hielt Pompeius, der in diesem Jahre (699=55)
mit Crassus Consul war, seine grossen Spiele, für welche das
erste steinerne Theater in Rom errichtet wurde, und ihm zu Liebe
blieb Cicero während derselben in der Stadt, so sehr er sich
sonst dabei langweilte, vertheidigte auch auf den Wunsch des
Pompeius dessen Anhänger Caninius Gallus. Mit dem andern Con-
sul und Triumvir, Crassus, mit dem er schon lange auf gespann-
tem Fusse stand, versöhnte er sich gleichfalls noch vor dessen
Abgang nach Syrien. Den November brachte er wieder auf dem
Lande zu, und die Frucht seiner Müsse in diesem Jahre (699)
waren die drei Bücher vom Redner und das Gedicht über
seine Leidenszeit (Verbannung, de temporibus meis).
Das Jahr 700 war für Cicero wieder reich an Bedrängniss,
indem sein Abhängigkeitsverhältniss gegenüber von den Triumvirn
immer offener an den Tag kam und ihm Verpflichtungen und
Opfer auferlegte die mit der Ehre eines Mannes kaum vereinbar
waren, aber ihm durch die Angst vor Clodius abgepresst wurden,
der für das Jahr 702 sich um die Prätur bewarb. Zwar konnte
diese Gefahr ihren Stachel dadurch verlieren dass Milo sich für
dasselbe Jahr um das Consulat bemühte; aber der Erfolg von
dessen Bemühungen war selbst wieder grösstentheils von den
Triumvirn abhängig, und so musste ihm an deren Gunst Alles
gelegen sein. Am besten stand er unter diesen damals mit Caesar.
Sein Bruder Quintus, der sich als Legat Caesar's in Gallien be-
Leben. 317
Fand, diente hiebe! als Verniittler, und Caesar schien auFCicero's
Freundschaft den grössten Werth zu legen. Er erwies ihm Auf-
merksamkeiten aller Art, blieb mit ihm in ununterbrochenem
Briefwechsel, sogar von Britannien aus, nahm die von ihm Em-
pfohlenen freundlich auf, überhäufte Quintus mit Gunstbezeugungen,
und streckte dem Bruder wohl auch Geld vor. Dafür trug denn
dieser lebhafte Begeisterung für Caesar zur Schau, begann ein
Gedicht an ihn und übernahm für ihn in Rom Privatgeschäfte.
Weniger eng war sein Verhältniss zuPompeius, der sich immer
unzuverlässiger benahm, so dass man nie recht wusste wie man
mit ihm daran sei, und in allem Wichtigen sich auf Caesar's Ent-
scheidung bezog. Zudem machten die allzuhäufig und allzusicht-
bar an den Tag tretenden Gelöste nach der Dictatur den Verkehr
mit ihm unbehaglich und unheimlich, um so mehr da alsdann
Milo's Consulat unmöglich wurde. Ein schwacher Trost hiefür
war es dass Pompeius den Cicero zu seinem Ehrenlegaten für
Spanien ernannte. So gering aber die Leistungen des Pompeius
für Cicero waren, so masslos waren seine Anforderungen an ihn.
Die drückendste unter diesen war die Zumutung den Gabinius
zu vertheidigen , während doch Cicero seinen tödtlichen Hass gegen
ihn schon zu wiederholten Malen bekundet hatte. Allein er hatte
ja kurz zuvor seinen kaum minder heftigen Hass gegen Vatinius
dem Streben nach der Gunst der Machthaber zum Opfer gebracht
und hatte auch ihn vertheidigt, wie viele Andere in diesem Jahre;
warum sollte er dem Gabinius den Beistand seiner Beredtsamkeit
versagen? Zwar dem ersten Anlaufe des Pompeius widerstand
er noch, und that ihm nur das zu Gefallen dass er auch nicht
offen feindselig gegen Gabinius auftrat, me er am liebsten gethan
hätte; als aber Pompeius seine Bitte dringender wiederholte gab
Cic. sich wirklich zum Vertheidiger von dessen Werkzeug Gabinius
her, wider die neue Anklage auf Erpressung und Wahlumtriebe.
Dass diese Vertheidigung erfolglos war und Gabinius verurteilt
wurde wird dem Cicero selbst am wenigsten leid gewesen sein,
wie wohl auch bei der sogleich nachfolgenden von Caesar's Günst-
ling Rabirius Postumus, der in Gabinius' Schuld mitverflochten
war. Aber durch dieses Auftreten musste die Achtung vor Cicero's
Charakter nothleiden, seine Beredtsamkeit an Einfluss verlieren.
Auch die Siege welche er in diesem Jahre auf dem Markte
davontrug kommen wohl zum kleinsten Theile auf Rechnung seiner
Beredtsamkeit. So namentlich der in der Sache des Aemiilus
S18 Cicero.
Scaurus. Dieser war wegen Erpressungen die er auf Sardinien
begangen hatte angeklagt, und seine Schuld beweisen schon die
grossartjgen Mittel welche Scaurus zu seiner Vertheidigung auf-
bot. Neun Consulare traten mit gunstigen Aussagen über ihn
auf, sechs Vertheidiger sprachen für ihn, und unter diesen Horten-
sius und Cicero, welcher Letztere gern die Gelegenheit benutzte
um auch die Partei des Senats, von der er abtrünnig geworden
war, sich zu verpflichten, zumal da Scaurus persönlich ihm
nützlich werden konnte, sofern er sich um das Consulat für das
Jahr 701 bewarb und, wenn er Gonsul wurde, die Bewerbung
des Milo für das nächste Jahr wesentlich zu fördern im Stande
war. Wirksamer aber als alle Worte seiner Vertheidiger war
das Geld das Scaurus mit vollen Händen unter seine Richter ver-
theilte. Seipe Rede für Scaurus veröffentlichte Cicero, wie er
auch die für Plan cius in diesem Jahre niederschrieb und einige
Wochen früher die für Fonteius. Daneben arbeitete er rüstig
an seiner Schrift über den Staat, die jedoch erst in einem der
folgenden Jahre fertig gemacht und herausgegeben wurde.
Im Jahre 701 wurde Cicero auf den Vorschlag von Pompeius
und Hortensius zum Augur gewählt, an die Stelle des von den
Parthern erschlagenen Crassus; aber die für Cicero viel wichtigere
Unterstützung der Wahlbewerbung Milo's verweigerte Pompeius,
indem er sich selbst die Gewalt zuzuwenden gedachte. Die Strassen-
kämpfe zwischen den Banden des Milo und des Clodius, welche
während dieses Jahres besonders lebhaft betrieben wurden und
durch die auch Cicero wieder in Lebensgefahr gerieth, waren
dem Pompoius erwünscht, weil dadurch Er nölhig wurde. Wirk-
lich begann das Jahr 702 ohne dass die Wahl von Consuln und
Prätoren zu Stande gekommen wäre , weil immer eine Partei die
Wahlen der andern störte. Doch schon am 20. Januar 702 erhielt
die Sachlage eine neue Wendung. Noch am 19. Januar hatte
Cicero mit Qodius zusammen friedlich an einer Testamentsunter-
zeichnung Theil genommen, obwohl sie wenige Wochen zuvor im
Senate hart an einander gerathen waren, wobei Cicero die in
Bruchstücken noch vorhandene Anfrage (bei Clodius) in Betreff
der Schulden von Milo hielt. Am 20. Januar aber erfolgte
bei fiovillä der Zusammenstoss zwischen Milo und Clodius, der
den Tod des Letzteren zur Folge hatte. Der Eindruck den diese
„Schlacht bei Bavillä" auf Cicero machte war zunächst der un-
geschminkter Freude: des lange gefürchteten Feindes sah er sich
Leben. 319
jetzt entledigt, er hdtte von nun an wenigstens für sein Leben
nieht melir zu fürchten, und von diesem Tage datierte er daher
einen neuen Abschnitt in seinem Leben. Doch fehlte es auch
nicht an Unannehmlichkeiten für ihn. Man bezeichnete ihn öffent-
lich als den intellektuellen Urheber von Clodius' Ermordung , und
Pompeius nahm eine entschieden feindliche Stellung gegen Milo
ein. Er that als bedrohe Milo auch sein Leben und erlangte
unter diesem Verwände eine Leibwache, und dass er Consul ohne
Amtsg^ossen wurde gaben zuletzt selbst die erschrockenen Op-
timaten zu, in ihrer Verblendung hocherfreut dass nur wenigstens
die geförchtete Dictatur an ihnen vorfibergieng. Für die Ver-
handlung des Proceases von Milo gab Pompeius ganz neue Be-
stibimiHigen und umstellte am Entscheidungstage, den 8. April 702,
den Markt mit Bewaffneten. Deren Anblick und das Geschrei
der Clodianer machte den Cicero, der sich der Vertheidigung
Milo's nicht bätte entziehen können, so befangen dass er kurzer
und matter sprach als gewöhnlich. Milo wurde verurteilt, und
Cicero gab nachträglich zu dessen Vertheidigung eine Rede heraus,
welche schon im AUerthum als Meisterstuck bewundert wurde.
Deo Milo zu retten hätte aber diese so wenig vermocht wie die
wirklich gehaltene, welche nachgeschrieben wurde und noch zur
Zeit des Quintilian und AsooniHS vorhanden war; sein Schicksal
war schon tm Voraus beschlossen und besiegelt. Um die Schul-
den zu decken welche Milo in Rom hinterliess wurden dessen
Güter versteigert, und man viarf dem Cicero vor dass er dabei
unter fremdem Namen um billigen Preis einen Theil für sich
erstanden habe, wogegen er sich zwar zu ve;rtheidigen suchte,
aber auf Hiebt ganz überzeugende Weise.
Nachdem Milo beseitigt war hatte Pompeius kein Interesse
mehr deissen Werkzeuge gleichfalls bestraft zu sehen; Cicero ge-
lang datier die Vertheidigung des lü. Saufeius; ja Pompeius
liess jetzt sogar seine eigenen Werkzeuge fallen, und Cicero er-
lebte 80 die Freude dass am Schlüsse des Jahres 702 seine An-
klage des gewesenen Volkstribunen Munatius Plauens dessen Ver-
urteilung zur Folge hatte.
Inzwischen hatte sich Cicero 's Stellung bedeutend verschlim*
meüt. Durch seine letzten Eribige kühn gemacht versuchte näm-
lich i^mpeius atlmahlich von Caeßar sich zu emancipieren und
über ihn sich emporzuschwingen. Auf Caesar gemünzt war das
Gesetz des Pompeius dass Abwesende sidi um kein Amt sollen
320 Cicero.
bewerben döfren; kaum aber war es gegeben» so bereute Pom-
peius selbst seinen Mut und gab dazu einen Nachtrag, worin Ton
dem Gesetz eine Ausnahme gemacht wurde zu Gunsten derer
welche besondere Erlaubniss dazu erhalten hätten» wie das bei
Caesar der Fall war. Durch dieses Schwanken des Pompeius
gerieth Cicero arg in die Klemme, und während er an Caesar
schrieb er habe Alles gelban um die Ausnahme zu seinen Gunsten
durchzusetzen rühmte er sich später in den Philippiken er habe
dagegen gestimmt. Nachdem so Pompeius das Hinderniss dass
Caesar ein zweites Consulat erlange selbst wieder weggeräumt
hatte wollte er wenigstens verhindern dass derselbe nach dem
Consulate wieder eine Provinz verwalte, und liess daher noch
im Jahre 702 den vorjährigen Senatsbescbluss erneuern: dass
zwischen der Bekleidung des Consulats oder der Prätur und dem
Antritt einer Provinz ein Zwischenraum von fünf Jahren zu ver-
messen habe. In die dadurch für die nächste Zeit entstehende
Lücke sollten diejenigen gewesenen Consuln und Prätoren treten
welche bisher noch keine Provinz verwaltet hätten. Unter diese
gehörte auch Cicero, und ihm wies das Loos Kilikien zu. Was
er seit der Lehre die er nach seiner Quästur empfangen so sorg-
sam zu vermeiden gewusst hatte, längere Entfernung aus Rom,
dem war also nicht mehr zu entgehen; und obwohl der Zeit-
punkt hiefür kein ungünstiger war, sofern ihn bei dem wachsen-
den Zwiespalt zwischen Pompeius und Caesar seine Abwesenheit
vor der Nöthigung bewahrte aus seiner Mittelstellung herauszu-
treten und für einen von Beiden Partei zu ergreifen , so war ihm
die Trennung von Rom und die Verweisung auf einen verhältniss-
mässig engen und entfernten Schauplatz doch immerhin schmerz-
lich , und unablässig war er daher bemüht zu bewirken dass seine
Amtszeit wenigstens nicht über ein Jahr hinaus verlängert werde.
Nach dreimonatlicher Reise (über Athen) kam Cicero am
31. Juli 703 in seiner Provinz, zu Laodikeia, an. Durch den
glänzenden Empfang der ihm überall bereitet wurde fühlte er
sich höchlich geschmeichelt, wogegen die Unfreundlichkeit die
sein Vorgänger Appius Claudius an den Tag legte ihn einiger-
massen verstimmte. Cicero hatte in der Provinz Gelegenheit sich
Kriegsruhm zu erwerben, mehr sogar als ihm lieb war; denn
nicht vor lauter Freude klopfte sein Herz bei der Nachricht dass
die Parther einen Einfall in seine- Provinz unternommen haben.
Doch verzog sich die Gefahr wieder glücklich, und um die Zu-
Leben. 321
•
rüstungen zum Kriege nicht vergeblich gemacht zu haben beschloss
Cicero nun einen Streifzug gegen die räuberischen Stämme auf
dem Amanusgebirge. Am 13. October 703 erstieg er ihre Berge,
besetzte die Ausgänge, eroberte und zerstörte die Kastelle und
hieb die Bewohner nieder. Die Kriegserfahrung welche seine
Legaten, namentlich sein Bruder Quintus und Pomptinius, be-
sassen kam ihm trefflich zu Statten, und er wurde in Folge des
glucklichen Kampfes von seinem Heere als Imperator begrüsst,
eine Ehre welche in der damafligen Zeit durth Missbrauch be-
deutend im Werthe gesunken war.
Der glückliche Verlauf erregte Lust nach Mehr, und damit
es zum Triumphe reiche griff Cic. nun auch die sogenannten freien
Kiiikier an, die ihm Nichts zu Leide gethan hatten als dass sie
frei, d. h. noch nicht den Bömern unterworfen waren. Nach
47tägiger Belagerung wurde am 19. December deren Feste Pin-
denissus erobert und ansehnliche Beute gemacht, die Cicero den
Soldaten überliess und nur die Gefangenen und Pferde der Staats-
kasse vorbehielt. Hiei*auf entliess er das Heer unter Anfuhrung
seines Bruders in die Winterquartiere, und begab sich selbst
nach Laodikeia, wo er sich bis 1. Mai 704 den Geschäften der
Verwaltung und Rechtspflege widmete und durch seine Leutselig-
keit, Milde und Gerechtigkeit Alles entzückte, um so mehr da
sein Vorgänger von dem Allem das Gegentheil -bewiesen hatte
und daher sein Verdienst in um so hellerem Liebte strahlte.
Besonders erfreut waren die Provtnzialen über die Uneigen-
nutzigkeit die Cic. nicht nur selbst bewährte sondern auch seiner
Umgebung, zum Theil zu deren Verdrusse, auferlegte, wie er
auch gegenüber von den Zumutungen von Freunden in Rom, be-
sonders des grossen Tyrannenvertilgers Brutus, standhaft blieb und
zuletzt sogar ärgerlich wurde. Zwar konnte er nichtsdestoweniger
nach Abfluss seines Jahres das Sümmchen von 2,200,000 Sest.
als erspart zurücklegen; aber wir haben allen Grund seiner Ver-
sicherung zu glauben dass er sich diess einzig auf gesetzmässigem
Wege erworben hatte, und können daraus nur auf die Summen
schliessen welche minder gewissenhafte Provinzialstattbalter davon-
tragen mochten. Auch das ist von keiner Erheblichkeit was
Drumann VL S. 141 bemerkt: „Seine Tugend wurzelte nicht in
dem Abscheu gegen das Unrecht; sie hatte mit den Vergehen
der Grossen über welche er sich in der äussern Erscheinung so
sehr erhebt eine und dieselbe Quelle, in der Selbstsucht: jene
Tcuffcl, Studien. 21
322 Cicero.
verlangte nach Gelde, und ihn nach Ruhm/' Aber eine Ruhm-
liebe welche zu ehrenhaftem Handeln antreibt ist selbst auch
achtungswerth und kann die Verdienstlichkeit eines solchen Han-
delns in keiner Weise mindern. Dagegen war es allerdings ein
Fehler dass Cic. nach Abfluss seines Jahres die Provinz ihrem
Schicksale uberliess, indem er nur darauf bedacht war selbst
keinen Tag über die gesetzliche Frist in der Provinz zu bleiben,
und sie daher einem Quästor übergab von dessen Unerfahrenheit
er selbst sich wenig Gutes versprach, statt seinem Bruder und
Legaten Quintus, der aber wenig Lust hatte sie zu übernehmen
und von welchem Cicero fürchtete er möchte durch seine Leiden-
schaftlichkeit wieder verderben was er selbst gut gemacht und
durch ein dem Benehmen aller andern Statthalter ähnliches Ver-
fahren den Glanz wieder auslöschen den er selbst dem Namen
der Cicero verschafft hatte. Mochte ein Anderer die Provinz
misshandeln, wenn es nur kein Cicero war. Zeigt sich darin
unverkennbar Selbstsucht und beweist es dass es dem Cicero
nicht um die Provinz selbst zu thun war, so ist andererseits zu
bedenken dass man einem einjährigen Statthalter nicht zumuten
kann das Wohl eines Landes so auf dem Herzen zu tragen und
sich damit so zu identificieren wie ein Erbfürst.
Cicero eilte aus der Provinz wegzukommen, nicht nur weil
er eine Art Heimweh hatte, sondern besonders auch weil er sich
hier doch eigentlich nicht auf seinem Posten fühlte ^ weil er Auf-
gaben heranziehen sah deren Lösung er sich nicht gewachsen
wusste, wie namentlich den Krieg mit den Parthern. Schon
bei seiner Abreise aus Rom, dann auf der Reise und von der
Provinz aus bestürmte er daher den Atticus, Hortensius, die
beiden Consuln des Jahres, und wen er sonst von Einfluss kannte,
um ihre Verwendung, dass er nicht über ein Jahr in Kilikien
bleiben müsse , und während sonst die Statthalter die Verlängerung
ihrer Verwaltungszeit als die höchste Ehre und ein besonderes
Glück betrachteten, so wehrte Cicero sich hiegegen mit Händen
und Füssen und zählte die Tage bis zum 30. Juli, dem Tage
seiner Erlösung.
Daneben vergass er aber auch nicht für seine kriegerischen
Thaten sich um die Auszeichnung eines Dankfestes zu bewerben,
und er gieng in dieser Beziehung die damaligen Consuln, den
Cato, alle seine Bekannte, zuletzt sogar seine Feinde um ihre
Fürsprache an. Das Dankfest wurde bewilligt, obwohl Cato nicht
Leben. 323
dafür war; aber es war schon für Unbedeutenderes zuerkannt
worden, und so that die Mehrheit des Senates dem verdienten
Manne, weil er einmal darauf Werth legte, gern diesen Gefallen.
Aber dem Dankfest folgte meist der Triumph; und nachdem
man dem Cicero jenes verwilligt hatte so gelüstete ihn auch Dach
diesem. Lange verfolgte er diesen Gedanken, und gab ihn um
so weniger auf weil er als Candidat des Triumphes auch nach
seiner Ruckkehr die Stadt nicht betreten durfte, und somit einen
erwünschten Anlass hatte von den verfänglichen Senatsverhand-
lungen welche den Ausbruch des Krieges zwischen Caesar und
Pompeius herbeiführten ferne zu bleiben. Sogar noch als in den
Stürmen des Bürgerkrieges das Staatsschiff in Trümmer gieng
hielt Cicero diesen Flitter krampfhaft umfasst und schleppte noch
ein ganzes Jahr lang die Lictoren , die Zeichen seines Imperium,
mit sich herum, auf seiner Flucht aus Italien, im Lager des
Pompeius, und noch bei seiner Rückkehr aus Griechenland, und
Caesar köderte ihn namentlich auch dadurch dass er ihm erlaubte
die Lictoren noch länger fortzubehalten.
Tief aufalhmen mochte Cicero als der 30. Juli (704) anbrach
ohne dass die gefürchteten Pariher einen Angriff gemacht hätten;
er übergab die Provinz dem neuernannten blutjung#h Quästor
M. Caelius Caldus und trat die Rückreise an. Am 3. August
schiffte er sich zu Sida in Pamphylien ein, und nahm seinem
Sohne und Neffen zu Liebe den Weg über Rhodus, wo er die
Nachricht von dem Tode des Hortensius erhielt. Von da über
Ephesus weiter nach Athen, wo er einige Zeit verweilte, dann
nach Akarnanien und von da nach Korkyra, wo ihn die Stürme
wieder zu einigem Aufenthalte nöthigten, so dass er erst am
23. November aufbrechen konnte und am 25. November zu
Brundisium anlangte. Auch hier wieder blieb er einige Zeit und
kam erst am 6. December ins Sabinische, hatte unterwegs wieder-
holte Zusammenkünfte mit Pompeius, und kam endlich am 4. Januar
705 vor den Thoren Roms an, wo ihm ein glänzender Empfang
zu Theil wurde.
Cicero kam gerade recht um den Bürgerkrieg ausbrechen zu
sehen. Am 1. Januar 705 hatte der Senat das Anerbieten Caesar's,
seine Provinzen abzugeben wofern auch Pompeius auf die seinige
verzichte, mit Geringschätzung verworfen, und es war damit der
Krieg erklärt zwischen den beiden Männern an die sich Cicero
bisher gleichmässig angelehnt halte; er musste sich nun für einen
21*
324 Cicero.
von Beiden entscheiden. Und doch zogen ihn Beide an sich,
Beide betrachteten und behandelten ihn als den Ihrigen, und Beiden
war er verpflichtet; für den Einen sprach ferner der grössere
Schein des Rechtes, für den Andern die grössere Macht und
Entschlossenheit: liurz — Cicero sah sich in tödtiicher Verlegen-
heit, und wünschte manchmal er wäre noch in seiner Provinz.
Die Entscheidung fiel ihm schwer, und er wählte daher den Aus-
weg sich nicht zu entscheiden, die Politik des Zauderns, Zuwartens,
der Vermittlungsversuche. Seine Briefe an Attlcus aus dieser
Zeit (bes. Buch VII.) liefern den Beweis wie gross seine Unent-
schlossenheit in dieser schwierigen Lage war. Bald beschliesst
er möglichst lange neutral zu bleiben, dann entscheidet er sich
für Frieden mit Caesar um jeden Preis, gleich darauf spricht er
den Vorsatz aus gänzlich mit Pompeius zu gehen, dann wieder
der Heerde der Optimaten sich anzuschliessen und mitzulaufen
wo diese hingehen: und sein Benehmen ist so schwankend dass
sich diese entgegengesetzten Plane alle darin als ausgeführt nach-
weisen lassen , indem er heute nach dem einen und morgen nach
dem entgegengesetzten Plane verfuhr.
Am 6. Januar wurden alle im Amte stehenden Behörden in
und aussei Rom, also auch Cicero, durch einen Senatsbeschluss
zum Schutze des Staates aufgefordert, und gleich darauf ItaUen
in Kreise getheilt Behufs der Herbeischaffung von Truppen und
Geld. Auch Cicero konnte sich nicht entziehen, und er erhielt
Campanien zugewiesen. Schien er damit für Pompeius Partei
ergriffen zu haben , so bemühte er sich sogleich wieder diess auf
den blosen Schein zu beschränken, indem er auf dem über-
nommenen Posten absichtlich Nichts tbat und von dieser seiner
Unthätigkeit den Caesar in Kenntniss setzte. Um diese seine
Achselträgerei vor sich selbst zu rechtfertigen suchte er Alles
hervor was er an Pompeius auszusetzen hatte: so fühlte er sich
verletzt dass man bei den Unterhandlungen mit Caesar ihn nicht
zuzog und rächte sich durch bitteren Spott über die damit Be-
auftragten, nahm es ferner übel dass Pompeius ihm nicht mehr
Aufmerksamkeit schenke, seine Rathschläge nicht befolge, seine
Plane ihm nicht mittheile, während doch Pompeius wissen musste
wie wenig zuverlässig für ihn Cicero sei. Ja dieser verrieth
sogar darüber Empfindlichkeit dass Pompeius im grössten Gedränge
der Geschäfte ihm nicht ausführlichere Briefe schreibe. Alles
dieses beweist nur wie gern Cicero den Abfall den er thatsächlicli
Leben. 325
an Pompeius begieng, während er ihm zu dienen schien, vor
sich selbst und Andern begründet hätte. Am 20. Februar 705
entbot ihn Pompeius zu sich nach Brundisium , Cicero behauptete
aber dass ihm der Weg dahin von Caesar's Truppen abgeschnit-
ten sei, und kam nicht; vielmehr sprach er jetzt, wo Caesar
rasch und siegreich vorrückte, die Ueberzeugung aus dass es
dem Pompeius eben so wenig als dem Caesar um die Republik
zu thun sein, dass Jener wie Dieser selbstsüchtige Zwecke ver-
folge. Er hütete* sich daher nicht nur sorgfältig vor förmlicher
Entscheidung für Pompeius, sondern er blieb auch mit Caesar
und dessen Anhängern in ununterbrochener brieflicher Verbindung,
und Caesar wusste durch wohlberechnete Schmeicheleien ihn noch
liefer in sein Netz hineinzulocken : auch ertrug er, ohne Ver-
druss zu verrathen, Cicero's fortwährende Mahnungen zum Frieden,
obwohl sie ihm so wenig erbaulich sein mochten wie sie es dem
Pompeius waren; Cicero aber rühmte noch lange von sich dass
er immer zum Frieden geratben habe. Und doch hatte ein solcher
Rath wenig Werth, wenn man nicht auch die Möglichkeit nach-
wies ihn zu befolgen ; diese Möglichkeit war aber ^ nicht vorhan-
den, vielmehr war die Republik so unwiederbringlich dem Unter-
gange verfallen, und die Machthaber standen einander so schroff
und so unversöhnlich gegenüber, dass der Krieg, als doch end-
lich zu einem Ergebnisse, einem Ende der qualvollen Spannung
führend, eine wahre Wohlthat war, wie ein Gewitter nach langer
Schwüle. Andererseits hütete sich Cicero aber ebenso ängstlich
vor offener Parteinahme für Caesar; ihm schwebte immer der
Fall vor, der später auch wirklich seinen Tod herbeigeführt hat,
dass nämlich die beiden Gegner sich doch noch mit einander
versöhnen und dass dann Einer dem Andern seine Feinde zum
Opfer überlasse. Dabei trug er noch fortwährend Anhänglichkeit
an Pompeius auf der Zunge: in Italien, schrieb er^ wolle er
mit Pompeius in den Tod gehen (wiewohl er der Gelegenheit
dazu eifrig aus dem Wege gieng); aber mit ihm nach Griechen-
land zu ziehen , dazu konnte er sich nicht entschliessen. Hundert-
mal erwog er alle Gründe für und wider, zählte sie dem Allicus
vor und Hess sie von ihm sich vorzählen, und that dann am
Ende doch Nichts. Die unerheblichsten Ausflüchte trug er mit
ernsthafter Miene vor, wie dass die Lictoren ihn am Reisen
hindern, während er doch jeden Augenblick sie entlassen konnte,
wenn er auf die eitle Grille von dem Triumphe verzichten wollte.
326 . Cicero.
Ueberhaupt bietet das Zappeln und Zagen, das Schelten und
Jammern, das Plaudern und Fragen in den Briefen dieses Jahres
an Atticus (Buch VII bis X) einen beklagenswerlhen Anblick dar,
und es wäre für Cicero's Ruhm sehr zu wünschen gewesen dass
diese Ergüsse seiner damaligen Verlegenheit der Nachwelt vor-
enthalten geblieben waren.
Die zweideutige Rolle die er spielte erregte immer allge-
meinere Entrüstung unter den Optimaten , und er sah sich dadurch
genöthigt sich endlich doch zur Abreise zu Pompeius zu rüsten,
im März 705. Aber noch in demselben Monat hatte Cic. eine
Zusammenkunft mit Caesar, der ihn, wiewohl vergebens, zu
offener Lossagung von der Sache des Pompeius zu bewegen
suchte. Wenige Tage darauf begab sich Caesar nach Spanien, indem
er als seinen Stellvertreter für Italien den M. Antonins zurück-
liess, und nun war es bald das Abwarten von Nachrichten aus
Spanien bald Anfragen bei Caesar und Antonius welche den Vor-
wand zur Verschiebung von Cicero's Abreise abgaben ; dann ver-
suchte er abermals einen Mittelweg einzuschlagen und weder in
Italien zu bleiben — weil darin eine Erklärung für Caesar lag — ,
noch zu Pompeius zu gehen — weil darin eine Erklärung für diesen
lag — f sondern an einen neutralen Ort sich zu begeben, nach
Malta. Aber auch diesem Vorhaben trat Antonius entgegen und
liess den Cicero beobachten, so dass ihm zuletzt Nichts übrig
blieb als heimlich zu entfliehen, wenn er nicht seine Ehre unheil-
bar gefährden wollte. Endlich am 7. oder 11. Juni 705, also
ein Vierteljahr nachdem Pompeius Italien verlassen hatte, gieng
Cicero mit seinem Sohne und den Lictoren an Bord, um dem
Pompeius nachzureisen , ein Schritt wodurch er die neugewonnene
Gunst des Caesar verlieren musste und die verlorene des Pompeius
kaum wieder gewinnen konnte.
Im Lager des Pompeius bei Dyrrachium gab es für Cicero,
der sich auf den Krieg so gut wie nicht verstand , natürlich sehr
wenig zu thun: er fühlte sich daher unbehaglich, und machte
seiner Stimmung durch allerlei Stichelreden Luft; und wie er
Führer und Heer sich in der Nahe besah so wurde ihm allmäh-
lieh die Hoffnungslosigkeit dieser Sache zur völligen Gewissheit.
Er sprach diese Ueberzeugung unverhohlen aus, und rieth wiederum
dringend zum Frieden, legte aber begreiflicherweise damit wenig
Dank und Ehre ein. Eifriger zeigte sich sein Sohn, der^ obwohl
erst 16 Jahre alt, von Pompeius zum Anführer eines Reiter-
Leben. 327
geschwaders ernannt wurde. Der Vater streckte dem Pompeius
Geld vor; an dem Rurapfsenale in Thessalonich, an das sich für
ihn so trübe Erinnerungen knöpften, betheiligte er sich jedoch
nicht. Noch weniger begleitete er das Heer nach Thessalien,
sondern blieb mit Cato u. A. in Dyrrachium, und wohnte so der
Schlacht bei Pharsalus (9. August 706) nicht bei. Mit dieser
war für ihn der Krieg zu Ende, und der Entschluss die Waffen
nicht nur niederzulegen, sondern wegzuwerfen stand für ihn
fest. Indessen gieng er noch mit nach Korkyra zur Flotte; war
er ja doch hier schon näher bei Italien. Als aber hier Cato den
wunderlichen Einfall hatte zum Oberbefehlshaber den Cicero vor-
zuschlagen, lehnte dieser natürlich die ihm zugedachte Wurde
entschieden ab und rieth zum Aufgeben des Kampfes, was den
jungen Cn. Pompeius so erbitterte dass er ihn einen Verrälher
schalt und ihn ums Leben gebracht hätte, wenn nicht Cato da-
zwischen golreten wäre. Das gab vollends den Ausschlag; und
während die meisten Pompeianer sich nach Afrika begaben, um
dort den Krieg fortzusetzen, so kehrte Cicero nach Italien zurück.
In den letzten Tagen des Septembers erreichte Cicero Brun-
dislum und war hier fast ein ganzes Jahr gleichsam confiniert,
sofern er ohne den Nachweis der nachträglichen Erlaubniss Caesar's
nicht einmal in Italien hätte bleiben dürfen, geschweige dass ihm
das Betreten Rom's gestattet gewesen wäre. Ein trübseliges Jahr
brachte er hier zu, verbittert durch die Nachricht dass sein
eigener Bruder und dessen Sohn ihn bei Caesar als ihren Ver-
fuhrer anklagen, durch die nachtheilige Einwirkung des Klima's
von Brundisium auf seine Gesundheit, und durch Familienunglück :
den schlechten Haushalt seiner Frau, die Zerrüttung seines Ver-
mögens, und die unglückliche Ehe seiner Tochter. Nicht einmal
zum Studieren fand er sich hier in der Stimmung; erst im Juni
707 erfreute ihn ein Besuch seiner Tochter, der aber freilich
zugleich sein Leid vergrösserte, und noch später, erst im August
707, erhielt er von Caesar einen aus Alexandria datierten Brief, der
ihn das Beste hoffen Hess. Inzwischen aber war seine Stimmung
die allertraurigste und gedrückteste, und seine Briefe aus dieser
Zeit (ad Alt. XI.) sind voll Selbstanklagen, Zerknirschung und
Verzweiflung; er bebte jetzt vor einem Siege der Optimalen noch
mehr als vor dem des Caesar, da er von jenen für seinen Wan-
kelmut die schwerste Strafe fürchten musste. Endlich Anfangs
September 707 landete Caesar in Tarent, wohin ihm Cicero
328 Cicero.
entgegeneilte und aufs Freundlichste und Schonendste von ihoi
aufgenommen wurde. Caesar gestaltete ihm die Rückkehr nach
Rom, und Cicero zögerte nicht von dieser Erlaubniss Gebrauch
zu machen. Am 7. oder 8. October wollte er auf seinem Tus-
culanum eintreffen, Rom selbst aber zugleich mit dem Sieger
und dessen ubermötigem Heer zu betreten nahm er billig An-
stand. Erst gegen das Ende des Jahres begab er sich in die
Hauptstadt, in welche er seit seiner Abreise nach Kilikien, also
seit 4V2 Jahren, den Fuss nicht mehr gesetzt hatte.
Hier brachte Cicero den Winter zu in völliger Zurückgezogen-
heit, in wissenschaftliche Arbeiten vertieft, in denen ihn der
afrikanische Krieg und seine Entscheidung durch die Schlacht
bei Thapsus (6. April 708) nicht störte, da er den Sieg Caesars,
als für ihn das kleinere Uebel, sogar wünschen musste. Die Frucht
dieser unfreiwilligen Müsse war vor Allem der Brutus (beendigt
Ende März 708), sodann die Paradoxen (April 70i{), sowie das
Werk über die Gesetze (angekündigt Yerm. Br. IX, 2 E. und
Brut. 4, 15. 17.), das er dann aber wieder liegen liess. Den
Mai und Juni brachte Cicero auf dem Lande zu, beschäftigt mit
einer Lobschrift auf Cato, welche er, angeblich auf das
Andrängen von Cato's Schwiegersohn und Caesar's Liebling,
M. Brutus, verfasste. Trotz dieser vorbeugenden Bemerkung
erregte der Inhalt der Schrift doch das Missfallen des Caesar, so
sehr er die formelle Vorzüglichkeit derselben anerkannte. Aber
als angehender Herrscher konnte er es natürlich nicht gern sehen
dass man einen starren Republikaner wie Cato als Helden pries.
Caesar veranlasste daher zuerst den Hirtius zu einer Gegenschrift
wider Cicero's Lobrede und schrieb dann sogar selbst einen Anti-
cato. Nach dem Cato schrieb Cicero noch in demselben Sommer
den Orator und wohl gleich darauf die Partitiones oratoriae, hielt
daneben auch zu Rom praktische üebungen in der Redekunst
mit seinem Schwiegersohne Dolabelia^ den beiden nachmaligen
Consuln Hirtius und Pansa und andern Caesarianern , und witzelt
daher in Briefen aus dieser Zeit über seine Schulmeisterei, wie
über sein vergnügliches Leben, da seine Trauerzeit um das Vater-
land zu Ende sei und alles Abhärmen doch Nichts nützen würde.
Nach Caesar's siegreicher Rückkehr aus Spanien hielt Cicero
bei der von Caesar selbst veranlassten Berathung über die Zurück-
berufung des eigensinnigen Republikaners Marcellus im Senat die
Rede für Marcellus, wobei er Gelegenheit hatte durch An-
Leben. 329
erkennung der neuen Ordnung der Dinge bei den Gaesarianern
und durch warme Vertheidigung eines Anhängers der alten bei
der entgegengesetzten Partei sich zu empfehlen. Am 23. Sep-
tember bat er in der AVohnung des Dictators utn Rückberufung
des verbannten Pompeianers Ligarius; aber so in der Stille,
und daher ohne politische Wirkung, mochte Caesar nicht be-
gnadigen , sondern veranlasste eine öfTentliche Verhandlung, wobei
€icero wiederum die Vertheidigung des Angeklagten übernahm
und Caesar sich von dessen Beredtsamkeit überwunden stellte.
Ueberhaupt schmeichelten Caesar und seine Anhänger dem Con-
sularen, dessen Name und Beredtsamkeit ihnen manchfach nützen
konnte, auf alle thunliche Weise, und er benützte den Schein-
einfluss den er besass auf die edelste Weise, um mündlich und
schriftlich für verbannte Parteigenossen sich zu verwenden. So
sanft aber das Joch war welches Caesar der Welt auferlegte und
so sehr auch Cicero die Milde und Gerechtigkeit desselben an-
zuerkennen genöthigt war, so empfand er es doch sdimerzlich
dass er jetzt principiell und offenkundig keinen politischen Einfluss
mehr hatte, wiewohl thatsächlich diess schon über ein Jahrzehnt
mehr oder weniger der Fall gewesen war. Er verkroch sich
daher in seine Bibliothek, suchte aus Verzweiflung und Langer-
weile seine philosophischen Studien wieder hervor, war sehr fleissig
im Bücherschreiben, und suchte sich das Leben so angenehm zu
machen als es unter diesen Umständen möglich war. Doch warfen
auch Geldverlegenheiten wieder einen trüben Schatten in sein
Leben herein. Er trennte sich in diesem Jahr (708) von seiner
vieljährigen treuen und verständigen Gattin Terentia, weil er die
Unordnung seines Hauswesens ihr zur Last legte, brauchte nun
aber Geld um die Aussteuer an sie zurückzuzahlen, und heiratete
daher eine junge Erbin, Publilia. Als man sich über den
sechzigjahrigen Bräutigam scherzhaft äusserte versetzte dieser:
morgen früh wivd sie eine Frau sein. Indess war das neue Ver-
hältniss von keinem Bestand: Cicero empfand Abneigung gegen
die ganze Familie, wohl auch gegen die Ansprüche welche ;die
junge Frau an ihn machte, und schon im folgenden Jahre schied
er sich auch von dieser wieder.
Auch sonst war dieses Jahr (709) für ihn ein kummervolles:
zu Anfang desselben starb seine talentvolle Tochter im Wochen-
bette, und er richtete desshalb an sich selbst eine Trostschrift
(Consolatio), wie er überhaupt fartwährend seine unfreiwillige
330 Cicero.
Geschäflslosigkeii zu um so emsigerer literarischer Thätigkeit
benüUle. Er vertheidigle im October d. J. in Caesar's Wohnung
den König Dejotarus gegen die Anschuldigungen eines Mord-
versuches auf Caesar, mit dem Erfolge dass dieser die Entscheidung
bis zu seiner persönlichen Anwesenheit in Galalien (beim Parther-
feldzuge) vertagte. Sonst beschäftigte sich Cicero auf dem Lande,
wo er den grössten Tbeil dieses Jahres zubrachte* vorzugsweise
mit philosophischen Studien und Arbeiten, um sich aufzuheitern
und seine politische Bedeutungslosigkeit zu vergessen. Um seine
BescIiSfligung mit der Philosophie zu rechtfertigen schrieb er in
diesem Jahre den Hortensius, so betitelt weil dieser Redner,
bekannt als Verächter der Philosophie, darin noch nach seinem
Tode bekehrt werden sollte. Darauf folgte die Schrift über das
höchste Gut und Uebel (de finibus bonorum et malorum),
und die akademischen Untersuchungen, sowie für die
Tusculanen und das Werk über das Wesen der Gottheit jetzt
wenigstens Vorstudien gemacht wurden. Ausserdem verfasste Cic.
noch eine Lobschrift auf Cato*s Schwester Porcia und ein Send-
schreiben an Caesar über Staatsverwaltung, das ihm aber
die Caesarianer denen er es zuvor mittheilte durch Bemerkungen
so verleideten dass er es nicht abgeben Hess. An dem Materiellen
von Caesars Regierung wusste Cicero Nichts auszusetzen; nur
dass er regierte und dadurch auch ihm den letzten Rest von
Bedeutung im Senate und auf dem Markte raubte, das konnte
er ihm nicht verzeihen, und sein Hass war um so bitterer und
unversöhnlicher je weniger er wagen konnte ihn laut werden zu
lassen.
Der 15. März 710 befreite ihn von diesem Zwange, und
Cicero begrüsste daher diesen Tag und diese That mit einem
Jubel den wir unbedingt verwerflich finden müssen. Die Ermor-
dung Caesar's wird hinsichtlich ihrer Beweggründe, der Weise
ihrer Vollstreckung und ihrer Folgen immer alsteine der wider-
lichsten Erscheinungen in der Geschichte betrachtet werden müssen.
Eine Bande Menschen, bestehend grösstentheils aus Schwachköpfen
und einigen Ehrgeizigen, thut sich zusammen um den einzigen
Mann der in die heillos zerrüttete Welt Ordnung, Frieden und
Behagen zu bringen im Stande war, am hellen Tage, in der
versammelten Curie, meuchlerisch zu überfallen; zu Zwanzig
stechen sie auf den wehrlosen Helden los, wie auf einen räudigen
Hund, bis er todt zusammensinkt, lieber dieses Abdeckergeschäft
Leben. 331
•
hinaus reicht aber ihre Fähigkeit und ihr Denken nicht: sie
meinen, sie dürfen nur den Herrscher todtstechen, so seien die
Sklavenseelen aus denen die damalige Zeit bestand mit Einem
Male in Freie verwandelt. Sie waren daher hochlich erstaunt
wie die Leute gar nicht merken vsoUten dass sie frei geworden
seien und gar nicht dafür danken, und dass sie nun vollends
mit der wunderlichen Frage kamen: was jetzt weiter geschehen
solle? Denn das wussten sie ja selbst nicht und hatten noch gar
nie darüber nachgedacht. Zwar fehlte es nicht an Rathgebern,
und unter diesen war namentlich auch Cicero, der an diesem
Tage in Rom und in der Curie anwesend war, welchen ins Ge-
heimniss zu ziehen die Verschworenen aber sich gehütet hatten,
da man wusste wie wenig er ein Mann der That sei. Jetzt aber,
nach ihrer Heldenthat^ lieren sie mit den blutigen Dolchen in
der Hand durch die Strassen, gleichsam zum Zeichen ihrer Un-
gefährlichkeit und Rathlosigkeit Cicero's Namen ausrufend. Dieser
begrüsste sie als Tyrannenmörder, Befreier, als Heroen, ja als
Götter, wusste aber so wenig Rath als die Andern, und erst
später, als es sich zeigte dass mit dem 15. März schlechterdings
Nichts gebessert war, dass man dadurch nur statt eines guten
Herrschers einen schlechten erhalten hatte , dass zwar der König,
nicht aber das Königthum beseitigt war, erst da pflegte er ihnen
vorzuhalten was Er Alles gethan und gerathen hätte wenn er ein-
geweiht gewesen wäre, wie «r von dem Mahle Nichts übrig ge-
lassen, nicht blos Einen Act, sondern das ganze Stück zu Ende
gespielt hätte u. s. w. Schon am 15. März hatte er von Verhand-
lungen mit Antonius, der als Consul im Augenblicke die höchste
gesetzliche Behörde war, abgerathen und hatte gewollt dass Brutus
und Cassius in ihrer Eigenschaft als Prätoren den Senat berufen
sollten; aber nachdem die Verschworenen eben erst unter dem
Vorwande des Gesetzes und der Verfassung Caesar gemordet hatten
konnten sie nicht gleich selbst es grob verletzen;' sie traten daher
mit Antonius in Verbindung, und bald wusste es dieser dahin zu
bringen dass die „Befreier" vom Senate begnadigt, somit als
Verbrecher anerkannt wurden, dass das Volk und die Veteranen
gegen sie aufs Aeusserste erbittert waren und sie vor deren
Hasse sich aus der Stadt zurückziehen mussten. Auch Cicero
war unter denen welche für Antonius' Antrag auf Bestätigung
von Caesars Verfügungen und Amnestierung der Verschworenen
sprachen; er war also selber in die Falle gegangen welche An-
332 Cicero.
tonius gestellt hatte, der jetzt eine Verordnung nach der andern
als angebliche Verfugung Caesar's veröffentlichte, so dass Cicero
bald sich nach Caesar zurücksehnte.
Die Wut welche seit Caesar's Leichenfeier unter der Menge
gegen dessen Mörder herrschte Hess es auch dem Cicero, als
einem Freunde der Letzteren, und weil er seine Freude über
den Mord gar zu unverhohlen ausgesprochen hatte, räthüch er-
scheinen sich aufs Land zurückzuziehen und die dargebotene
Gelegenheit zur Neubefestigung seines Einflusses in der Curie
unbenutzt zu lassen. Auf dem Lande übte er wiederum die
Caesarianer Baibus , Hirtius und Pansa in der^ Redekunst und
setzte das Bucherschreiben in grossartigem Massstabe fort. Die
ausserordentliche Fruchtbarkeit welche er in den letzten drei
Jahren seines Lebens an den Tag legte müsste völlig unbegreif-
lich erscheinen wenn man nicht durch ihn selbst wusste einmal
dass er von jeher flelssig gelesen und studiert hatte, dann dass
er bei seinen Schriften den Stoff fast ganz von den Griechen
herübernahm und selber beinahe nur die lateinische Form dazu-
gab, in welcher er eine ungewöhnliche Leichtigkeit be'sass. Es
wurden nämlich in der ersten Hälfte des Jahres 710 die Tus-
culanen und die Schrift über das Wesen der Götter fertig
gemacht, die Abhandlungen über das Greisenalter und über
die Freundschaft geschrieben, darauf die Schriften über die
Weissagung, über die Vogelzeichen und über das Schick-
sal verfasst, der Timaeos des Piaton übersetzt, ein Schriftchen
über den Ruhm abgefasst, das Werk über die Pflichten viel-
leicht begonnen , und daneben fortwährend ein lebhafter Brief-
wechsel, besonders mit Atticus, geführt.
Aber auch in seine Einsamkeit und in die Studjerstube hinein
verfolgten ihn die politischen Verhältnisse: die Caesarianer schreck-
ten ihn mit ihren Drohungen, so dass er täglich Proscriptionen
erwartete, und die Helden des 15. März fielen ihm lästig mit
ihren fortwährenden Zumutungen , ihrem Ratherholen bei ihm der
selbst rathlos wai^, und seine Briefe aus dieser Zeit sind ein
redendes Denkmal der bodenlosen Armseligkeit dieser Menschen.
Auch die Optimaten, die Reste der pompeianischen Partei, er-
regten Cicero's Unzufriedenheit, er tadelte an ihnen dass sie so
gleichgültig seien und vor dem öffentlichen Unglück sich auf ihre
Landgüter zurückziehen, d. h. es gerade ebenso machen wie er
selbst. So war Cicero wieder in seiner alten Lage: in der Schwebe
Leben» - 333
zwischen allen Parteien, alle bekrittelnd , vor allen sich fürchtend.
Andere zum Handeln vorschiebend und, wenn sie vorantraten,
in Eifersucht gerathend und mit bitterem Spott und Tadel sie
übergiessend. Es war vorauszusehen dass es zum Kriege kommen
werde, und nun entstand für ihn wieder die schwere Frage: auf
welche Seite treten? Die eine Partei, die der Befreier, ist schwach;
die entgegengesetzte hat eine schlechte Sache; und neutral in
der Mitte zu bleiben macht Antonius unmöglich. Auch jetzt wieder
ergriff er sein vielbeliebtes Mittel: der Entscheidung aus dem
Wege zu gehen. Als Vorwand dazu benutzte er eine Sendung
mit der er sich von seinem Schwiegersöhne, dem Caesarianer
Dolabella, beauftragen liess, die Nichts zu thun gab und ihm
kostenfreie Reise verschaffte. Sein Ziel war Griechenland. Aber
die Rücksicht auf das Gerede der Leute und seine eigene Ab-
neigung gegen das Reisen bewirkte Aufschub; dann wollte er
auf Brutus warten, um in dessen Gesellschaft noch weniger Ge-
fahren ausgesetzt zu sein ; endlich aber brach er doch allein auf,
am 17. Juli 710, schrieb unterwegs auf dem Scliiffe seine Topica,
und kam am 1. August zu Syrakus an. Als er von hier weiter
wollte wurde er wiederholt durch den Wind zurückgetrieben.
Zugleich erhielt er aus Rom beruhigende Nachrichten über den
Stand der Dinge und von mehreren Seiten die Mittheilung dass
sein feiger Rückzug in diesem Augenblicke überall den schlimmsten
Eindruck mache. Diess bestimmte ihn zu schleunigster Rückkehr.
Am 17. August traf er zu Velia mit dem nach Griechenland ab-
reisenden Brutus zusammen, und am 31. August war er wieder
zu Rom , das er seit fast einem halben Jahre nicht mehr betreten
hatte. Am folgenden Tage, den. 1. September, war Senatssitzung,
in welcher Antonius ein stehendes Dankopfer für Caesar beantragte.
Seine Absicht dabei war die Schwankenden, besonders Cicero,
zu offener Parteinahme für oder gegen die Caesarianer zu nöthigen.
Aber Cicero liess sich krank melden. Aergerlich antwortete An-
tonius, er wolle ihn mit Zimmerleuten aus dem Hause holen,
liess sich aber zuletzt besänftigen, und sein Antrag wurde ge-
nehmigt. Am nächsten Tage, den 2. September» erschien nun
Cicero im Senat, wo er aber diessmal den Antonius nicht antraf,
und hielt seine erste Philippica oder Antoniana, worin er
sich wegen seiner langen Abwesenheit zu rechtfertigen suchte
und den Antonius wegen jener Aeusserung und seines sonstigen
Verfahrens angriff, aber noch vorsichtig und verhältnissmässig
334 Cicero.
schonend, indem er ihn noch als seinen Freund bezeichnete, in
welchem Sinne er auch kurz zuvor an ihn geschrieben hatte,
obwohl er daneben in Briefen an Andere sich verdriesslich dar-
über aussprach dass die „Befreier'' nicht auch den Antonius
gemordet hätten. Die Rede erregte den Unwillen des Antonius
in solchem Grade dass er dem Cicero die Freundschaft aufkün-
digte und auf den 19. September eine neue Senatssitzung an-
beraumte. In dieser erschien nun aber wieder Cicero nicht, unter
der Angabe dass er im Falle des Erscheinens seines Lebens nicht
sicher wäre. Antonius hielt jetzt eine Rede gegen ihn, worin
er Cicero's ganze politische Lanfbahn beleuchtete, aber den Ein-
druck des Treffenden durch entschieden Falsches und leicht zu
Widerlegendes schwächte. Cicero antwortete darauf öffentlich
nicht, aus Furcht die Veteranen Caesar's möchten die. Replik für
Antonius führen; wohl aber arbeitete er in der Stille eine Gegen-
rede aus, welcher er die Einkleidung gab al^ sei sie auf der
Stelle nach Antonius' Angriff im Senat gehalten worden, welche
er aber vorläufig nur wenigen vertrauten Freunden mittheilte und
erst nach Antonius' Entfernung veröffentlichte — die zweite
Philippica. Gleichzeitig nahm er auch wieder auf Atticus'
Antreiben seine Geheimgeschichte, die Anekdota, auf, ohne sie
aber je fertig zu bringen ; und während des Octobers und Novem-
bers schrieb er auf dem Lande die Schrift über die Pflichten
zu Ende und verfasste vielleicht jetzt auch die Abhandlungen
über die Tugenden und über die beste Art von Rednern,
nebst der Uebersetzung von Aeschines' und Demosthenes' Reden
de Corona.
Inzwischen war in der Person des Octavianus ein neuer
Parteiführer auf den Schauplatz getreten. Der Gegensatz zu
Antonius trieb diesen zunächst auf die Seite des Senats, drängte
ihn, den Adoptivsohn, Neffen und Erben Caesar's, zum wider-
natürlichen Bunde mit dessen Mördern, und Cicero unterstützte
daher den Octavian gleichfalls. Zwar war Octavian's Auftreten
gegen den Consul Antonius ein entschieden ungesetzliches; aber
Cicero setzte sich über dieses Bedenken hinweg, theils aus Hass
gegen Antonius, theils weil Octavian ungefährlich schien und
nützen konnte, auch der Eitelkeit des Cicero zu schmeicheln wusste.
Als es jedoch zwischen Antonius und Octavian zum Bruche kam
und nun Octavian von Cicero offenes Ergreifen seiner Partei
verlangte, so lehnte dieser das Ansinnen ab, weil er im Grunde
Leben. 335
auch den Octavian wegen seines Verhältnisses zu Caesar nicht
leiden konnte und fürchtete, und weil er bei der Ungewissheit
des Ausganges sich nicht compromittieren mochte. Und doch
musste er andererseits fürchten den Antonius schon allzusehr
erbittert zu haben als dass er von ihm Schonung erwarten dürfte,
und musst^ glauben eines Schutzes gegen ihn zu bedürfen. In
dieser Verlegenheit wurde wieder Atticus um Rath bestürmt, und
ganz aus der Seele seines Freundes heraus rieth ihm dieser zu-
zuwarten; Andere dagegen drängten ihn zum Anschluss an Octavian
und beschwichtigten seinen Zweifel ob diess mit seinem Verhält-
niss zu den „Befreiern" vereinbar wäre durch die Hinweisung
darauf dass Octavian seine freundlichen Gesinnungen gegen diese
durch Casca's Zulassung zum Volkstribunate thatsächlich bewiesen
habe. Zudem war jetzt Antonius nicht mehr in der Nähe Rom's,
der Senat daher nicht mehr unter seinem Banne, und für Cicero
somit wieder Gelegenheit vorhanden die Rolle eines Führers des
Senats zu übernehmen. So finden wir denn Cicero am 9. Decem-
ber 710 wieder in Rom und die neuen Volkstribunen antreibend
in Abwesenheit der andern Magistrate alsbald den Senat zusammen-
zuberufen, damit er hier seinen Feldzug gegen Antonius eröffnen
könne. Sie thaten es aber erst auf den 20. December, und an
diesem Tage hielt nun Cicero seine dritte Philippica, von
welcher an er selbst eine neue Epoche in der römischen Ge-
schichte datiert. Durch sie wurde nämlich der Senatsbeschluss
herbeigeführt der den D. Brutus, Octavian u. s. w. für ihren Wider-
stand gegen den Consul belobte und damit legalisierte j wodurch
also der Senat bereits indirect gegen Antonius Partei ergriff;
Cicero aber übertrieb absichtlich die Bedeutung dieses Beschlusses,
um dem Senat jeden Rückweg und jede Versöhnung mit Antonius
unmöglich zu machen. An demselben 20. December hielt Cicero
eine zweite Rede, ans Volk, die vierte Philippica, worin
er die gefassten Beschlüsse der Versammlung mittheilte. Die
nächste Senatssitzung sollte am 1. Januar 711 unter den Consuln
Hirtius und Pansa stattfinden, und in dieser hielt Cicero seine
fünfte Philippica, in welcher er beantragte dem Octavian
und den übrigen Führern gegen Antonius Auszeichnungen zu
verleihen, die ihnen zugleich einen Rechtstitel zum Kampfe, zu
Aushebungen u. s. w. gaben, und den Antonius für einen Reichsfeind
zu erklären. Der erste Theil dieses Antrages wurde angenommen,
der zweite aber nur insoweit dass man den Antonius durch eine
336 Cicero.
Gesandtschaft zum Frieden auffordern wollte und nur för den
Fall dass er diess abweise Krieg gegen ihn beschloss. Dieses Er-
gebniss der viertägigen Verhandlung verkündigte Cicero am
4. Januar dem Volke in seiner sechsten Philippica, worin
er die Erfolglosigkeit der Gesandtschaft voraussagte. Am 5. Januar
gieng die Gesandtschaft an Antonius ab; noch ehe aber dieselbe
zurück war, schon am Ende des Januar, drang Cicero im Senate
auf Krieg gegen Antonius in der siebenten Philippica. Zu
Anfang des Februar kehrte die Gesandtschaft zurück, mit den
Gegenforderungen des Antonius, die aber so wenig annehmbar
erschienen dass der Senat zwar immer noch nicht, wie Cicero
von Neuem verlangte, den Krieg gegen ihn beschloss, aber doch
sein Unternehmen als tumultus bezeichnete, ein Beschluss welchen
Cicero am nächsten Tage in der Curie als eine halbe Massregel
leidenschaftlich tadelte, und den neuen Antrag stellte Allen welche
bis zum 16. März die Fahne des Antonius verlassen würden Be-
gnadigung zuzusichern, — achte Philippica. Den Antrag dem
auf der Gesandtschaftsreise zu Antonius gestorbenen Sulpicius
Ehrenbezeugungen zuzuerkennen unterstützte Cicero lebhaft und
unter neuen Ausfallen auf Antonius durch die neunte Philippica.
Sodann die zehnte hielt er uro für die Eigenmächtigkeiten welche
sich M. Brutus in Makedonien und Griechenland erlaubt hatte
nachträglich die Bestätigung des Senats zu erlangen, und seinem
Antrage gemäss erhielt Brutus wirklich den Oberbefehl über das
in Makedonien stehende Heer, und Q. Hortensius die Verwaltung
dieser Provinz. Mitte März 711 gab die Hinrichtung des Caesar-
mörders C. Trebonius durch Dolabella dem Cicero Aniass zur
eilften Philippica. Wahrend die Partei des Antonius die
Bestrafung des Dolabella den Consuln übertragen wollte, um diese
vom Kampfe gegen Antonius abzuwenden, wünschte Cicero, um
diess zu verhindern und dem Cassius die Bestätigung der ange-
massten Statthalterschaft in Syrien zu verschaffen, den Letzteren
damit beauftragt. Als Cicero mit seinem Antrage im Senate nicbt
durchdrang, so wandle er sich durch Vermittlung d^s Volks-
tribunen M. Servilius an das Volk; aber auch hier wusste Pansa die
Sache zu hintertreiben, und nun redete Cicero dem Cassius zu, sich
um den Senat Nichts zu kümmern. Durch die geschickt verbreitete
Meinung dass Antonius, durch einen Unfall mürbe gemacht, zum
Frieden geneigt sei Hess auch Cicero sieh verleiten nicht nur dem
Antrag auf eine neue Gesandtschaft an denselben beizutreten,
Leben. 337
sondern selbst auch an dieser Jheil zu nehmen. Als die Täuschung
an den Tag kam suchte Cicero — durch die zwölfte Philippicä
— die Zurücknahme des ganzen Beschlusses oder doch seine
eigene Entbindung von dessen Ausführung zu bewirken, mit dem
Erfolge dass gegen Ende des März Pansa ohne Gesandte zum Heere
abgieng. Schon am 20. März hatte sich Cicero genöthigt gesehen
seine Kriegspolitik wider Antonius im Senat zu vertheidigen gegen
die Friedensmahnungen von M. Lepidus und Munatius Plauens,
— dreizehnte Philippicä. Die Antonianer verbreiteten in
Rom das Gerücht dass Cicero am 22. April sich selbst zum Dic-
tator aufwerfen wolle, eine Beschuldigung gegen welche ihn der
Volkstribun Appuleius am 21. April vertheidigte. An demselben
Tage lief die Nachricht ein dass am 15. April bei Forum Gallorum
ein Sieg über Antonius erfochten worden sei: wie im Triumphe
zog Cicero, vom Volke begleitet ^ auf das Capitol, und beantragte
am 22. April ein grosses Dankfest und sonstige Auszeichnungen
für die siegreichen Feldherren, — in der vierzehnten Phi-
lippicä. Der Senat genehmigte nicht nur diesen Antrag, son-
dern erklärte nun endlich auch den Antonius und seine Anhänger
für Reichsfeinde. Nachdem dann vor Mutina (in der zweiten
Hälfte des April) die beiden Consuln gefallen waren, so war es
Cicero der in Rom Alles leitete, den Briefwechsel mit den Statt-
haltern fährte, Steuern ausschrieb und als Mitglied des Zehner-
ausschusses für Vertheilung von Ländereien an die Krieger thätig
war. Die Partei der Optimaten überliess sich jetzt der Sorg-
losigkeit und dem Uebermute: sie wollte wieder völlig die alte
Ordnung der Dinge einführen und den Octavian, als nunmehr
entbehrlich, auf die Seite schieben. Dafür Hess dieser den An-
tonius durch die Vereinigung mit Lepidus wieder erstarken, er-
zwang sich selbst das Consulat, und empfieng an den Thoren
Roms Cicero als den „letzten seiner Freunde*'. Ende Octobers
errichtete er dann mit Antonius und Lepidus das zweite Trium-
virat. Um sich zu rächen, zu sichern und Geld für ihre Heere
zu verschaffen beschlossen die Triumvirn ihre Feinde zu beseitigen,
und Cicero, als Haupt der Gegenpartei, musste natürlich eines
ihrer ersten Opfer werden. Zwar soll Octavian für ihn Fürsprache
eingelegt haben; aber die Todfeindschaft zwischen Antonius und
Cicero konnte einer solchen Verwendung wenig Erfolg versprechen,
und da Cicero von jeher aus seinen eigentlichen Gesinnungen
gegen Octavian kein Geheimniss gemacht hatte, so mochte die
Teuf fei, Studien. 22
338 Cicero.
Fürsprache von Letzterem nicht sehr ernstlich gemeint sein : jeden-
falls war sie ohne Erfolg , und Cicero einer der Siebenzehn deren
Häupter zu allererst fallen sollten.
P)och vor dem Einzug der Triumvirn in Rom (Ende Novem-
ber 711), auf die Nachricht dass auf Befehl des Consuls Pedius
Hinrichtungen stattfinden, hatte sich Cicero auf sein Tusculanum
zurückgezogen, begab sich von da auf sein Gut bei Astura, um nach
Makedonien zu entfliehen, schiffte von hier nach CircejI, am
andern Morgen nach Cajeta, in dessen Nähe sein Formianum
lag, auf welchem er, von der Ungunst der Winde verfolgt, des
Fliehens und des Lebens satt ausruhte. Aber seine Sklaven
trieben ihn möglichst schnell das Meer zu erreichen: er süeg
endlich in eine Sänfte. Noch nicht lange war er weg, als der
Kriegstribun C. Popilius Laenas und der Centurio Herennius an-
langten , um nach dem Geächteten zu fahnden. Ein Freigelassener
Namens Philogonus verrieth ihnen den Weg welchen die Sänfte
eingeschlagen: Popilius besetzte den Ausgang des Parkes gegen
das Meer hin, und Herennius eilte der Sänfte nach. Bei dessen
Annäherung Hess Cicero halten und mahnte seine Diener von
Gegenwehr ab. Während er dabei aus der Sänfte sich heraus-
beugte wurde er von Herennius getödtet und ihm dann noch der
Kopf und die rechte Hand abgeschlagen. Antonius Hess sie auf
der Rednerbühne aufstellen, und dessen verworfene Gattin Fulvia
soll die Zunge mit einer Nadel durchstochen haben. Der Mörder
erhielt von Antonius den zehnfachen Preis ausbezahlt.
Der Tag an welchem Cicero seinen Tod fand war der
7. Deceraber 711 (43 v, Chr.): Cicero hatte somit sein 63stes
Lebensjahr noch nicht ganz vollendet, als er starb. Dass diess
mit würdiger Fassung geschah bezeugt selbst Livius, so wenig
er sonst des grossen Redners Haltung im Missgeschicke zu be-
wundern vermochte.
2. Persönlicher und staatsmännischer Charakter'*).
Cicero's persönlicher Charakter erscheint von der liebens-
würdigsten Seite da wo kein Gefühl der Nebenbuhlerschaft die
ursprüngliche Gutherzigkeit und Menschenfreundlichkeit seiner
*) Aus dem Tübinger Programm (Doetorenverzeichniss) von 1863,
S. 1 — 5.
Persönlicher Charakter. 339
Natur tröbt, in seinem Verhalten zu Untergebenen und zu jünge-
ren Freunden. Wie ein Vater sorgt er für seinen Tiro^) und
hat ihn allmählich aus einem Diener zu einem Freunde werden
lassen, wie ein Vater auch für seinen talentvollen jungen Freund
Trebatius^). Nicht minder achlungswerth war ferner, zumal in
einer so gründlich verdorbenen Zeit und bei eigener Erregbarkeit,
seine über allen Verdacht erhabene Sittenreinheit, Keuschheit
und Massigkeit'), seine gewissenhafte Zeitbenutzung ^), seine geistige
Regsamkeit, sein angestrengter Fleiss, früher zum Zwecke seiner
Ausbildung, später im Interesse seines Ruhmes, wohin besonders
auch seine schriftstellerische Emsigkeit gehört^), sein unermüd-
liches Vorwärtsstreben namentlich auf dem Gebiete der Beredt-
samkeit^). Daneben sind aber auch zum Theil bedeutende Schwächen
und Fehler nicht wegzuleugnen. Sie sind grossentheils die Kehr-
seite von Tugenden des Gemütes, Ausflüsse seiner angeborenen
Weichheit, mit welcher er das Unglück hatte in eine Zeit zu
fallen welche stählerner Charaktere bedurfte, Belege dafür dass
seine Natur eine weiblich nervöse war. Weiblich war seine über-
schwengliche Reizbarkeit, seine Abhängigkeit von äusseren Ein-
drucken und der ewige Wechsel der Empfindungen und Stim-
mungen in ihm, deren jede ihn ganz hinnahm und sich mit über-
mässiger Heftigkeit äusserte, Freude und Schmerz, Furcht und
Hoffnung, Liebe und Hass, aber um so rascher auch verlief und
der entgegengesetzten das Feld räumte. Weiblich war ferner
seine Unselbständigkeit gegenüber vom Urteile der Welt, seine
unendliche Verwundbarkeit, seine Zugänglichkeit für die Nadel-
stiche der Gesellschaft^), seine Unfähigkeit irgend welchen Tadel
zu ertragen; weiblich sein Bedürfniss sich an eine Autorität an-
zulehnen, auf den Rath oder Vorgang Anderer sich zu berufen.
1) S. z. B. ad Att. VI, 7. Fam. XVI, 4. 9, 3. 11, 1. 12, 6. Att.
IX, 17, 2 und sonst.
*) Vgl. ad Fam. VII, 6 ff. und meinen Commentar zum zweiten
Buch der horazischen Satiren (Leipzig 1857) S. 10 f.
3) Vgl. z. B. ad Fam. VII, 26. IX, 26, 2. p. Süll. 8, 25.
*) pro Areh. 6, 13. ad Qu. fr. II, 14, 1. III, 3 in. pro Plane. 27, 66.
Leg. I, 3, 9. Phil. II, 8 extr.
5) Vgl. ad Att. XII, 40, 2. 38, 1. XIII, 26, 2. Fam. VII, 28, 2.
Orat. 30 extr. 43, 148. Fin. I, 4, 11. Top. I in. Off. III, 1, 3 f.
6) Brut. 93, 321. Orat. 30, 108. Vgl. ad Att. IV, 15 extr.
'') mulierculae, quas etiam parva movent, Livius XXXIV, 7.
22*
340 Cicero.
auf ihre Hülfe zu warten, sein Mangel an persönlichem Mut^), der
Werih den för ihn der Schein im Gegensatze zur Sache hat,
seine Gewohnheit sich selbst über die Beweggründe seines Han-
delns zu täuschen, seine Unfähigkeit etwas bei sich zu behalten,
sowie die Eigenheit dass er immer das letzte Wort haben muss
und im Stillen keift wenn zu offenem Entgegentreten es an Ge-
legenheit oder Mut fehlt. Weiblich war auch seine Rührsamkeit,
welcher die Thränen immer zu Gebote stehen, seine Neugierde,
sein Interesse für den Stadtklatsch, seine Neigung zur Medisance,
sein unersättlicher Durst nach Lob und Schmeichelei, seine Un-
versöhnlichkeit wenn seine Eitelkeit verletzt wurde , seine Gewohn-
heit als Massstab bei der Beurteilung der Menschen ihr Verhält-
niss zu ihm anzulegen, ja sogar die Fruchtbarkeit mit der er
das eben erst in sich Aufgenommene alsbald wieder in Gestalt
einer eigenen Schöpfung aus sich heraussetzt, und der Mangel
an scharfer Logik und Consequenz welcher wie in seinem Leben
so auch in seinen Schriften zu Tage tritt. Ebenso gleicht er in
seinem Hauswesen einer schlechten Hausfrau, die alle Gelüste
befriedigt haben muss und Ausgaben und Einnahmen nie im
Gleichgewicht zu erhalten weiss. Cicero ist ganz Receptivität,
die Spontaneität ist ihm wie versagt. Er ist der Sklave des Augen-
blicks, von jedem Windhauche der öffentlichen Meinung oder des
Schicksals aus dem Geleise gebracht, voll feinen Gefühls für das
Rechte, aber ohne die Kraft es stets zu thun. Die specißsch
römische Eigenschaft der gravitas geht ihm gänzlich ab, immer
ist er in Bewegung, immer in Aufregung. Es fehlt ihm an einem
festen inneren Halle, er hat den Schwerpunkt nicht in sich selbst,
und sucht diesen Mangel zu ersetzen theils durch selbstsüchtige
Beziehung alles Aeusseren auf sein Ich, theils durch endloses
Selbstlob. Fortwährend und von allen Seiten angezogen und
abgestossen, geschoben und gehemmt, bildet er sich ein der
Mittelpunkt zu sein auf den sich Alles beziehe, und sagt das sich
und Andern so oft und so lange bis diese müde werden ihm zu
widersprechen und ihm die Freude lassen es für die allgemeine
Ansicht zu halten. Findet diese seine Ruhmredigkeit auch einige
Entschuldigung darin dass er durch sich selbst, ohne fremde Bei-
hülfe, sich emporarbeiten musste, und hat sie auch etwas Ver-
^) ad Farn. VI, 14, 1: si quisqnam est timidus in magnis peri-
culosisque. rebus . . is ego sum. Vgl. IX, 11, 1: firmitatem et con-
stantiam , si modo fnit aliquando in nobis.
Persönlicher and staatsmännigcher Charakter. 341
söfanendes durch die Offenheit womit sie auftritt und die Ehrlich-
keit womit er sich zu ihr bekennt ^)^ — in seiner Zeit musste
sie ihm die aufrichtige Theilnahme Anderer rauben, wie er durch
seine Schwäche an ihrer Achtung einbusste. Man erkannte seine
Brauchbarkeit an und benützte ihn, und machte ihm Zumutungen
die mit Achtung kaum zu vereinigen sind. Wo mit der Zunge
durchzukommen ist, da war er an seinem Platze, da konnte er
sich furchtbar machen , wiewohl sein Witz ebenso oft ihm selber
schadete; galt es aber zu handeln, so suchte er Andere vorzu-
schieben und war dann eifersüchtig und verdrüsslich wenn sie
wirklich vortraten und es glückte, und wusch seine Hände in
Unschuld wenn es fehlschlug. Seine Selbstliebe und Aengstlich-
keit machte ihn Gleichstehenden gegenüber zu einem unzuver-
lässigen Freunde und unedel gegenüber von Feinden, vor denen
er sich verkroch^ wenn sie Macht hatten , die er mit einer Flut
hässlicher Schmähungen übergoss wenn sie nicht zu fürchten
waren, und bei deren Unglück er aus seiner Schadenfreude keinen
Hehl machte, wohin namentlich das „rohe Freudengeschrei" ge-
hört in das er bei Caesar's Ermordung ausbrach^).
Besonders auffallend zeigt sich Cicero 's Weichheit gegen
äussere Eindrücke, und besonders nahe streift sie an Haltungs-
losigkeit in seinem Benehmen als Staatsmann. Cicero erkannte
die Einseitigkeiten und Fehler der verschiedenen Parteien und
konnte daher keiner sich von ganzem Herzen ergeben, ohne aber
doch in sich die Kraft zu haben einen selbständigen Weg einzuschlagen
und durchzuführen. So sehen wir ihn in einem fortwährenden
Schaukeln und Schwanken. Als Liberaler begann er seine poli-
tische Laufbahn, und als Anhänger des Volkslieblings Pompejus.
In seinem Consulat drängten ihn die Umstände immer weiter auf
die Seite der Conservativen , der Senatspartei, woneben er aber
nicht aufhört deren damaligen Gegner, den Pompejus, zu be-
günstigen. Auch dem Caesar diente er , noch williger nach seiner
Verbannung, die ihn überzeugt hatte wie wenig verlässigen Schutz
der Senat gewähre. Immer offener stellte er sich auf die Seite
der thatsächlichen Macht. Als nun aber die Reibungen zwischen
Caesar und Pompejus begannen und allmählich in offenen Krieg
^) qaoniam laadis avidissimi semper fuimus, ad Att. I, 15 vgl. II,
17, 2 und Farn. IX, 14, 2: sum avidior etiam quam satis est gloriae.
') Die Belege zu dieser Charakterschilderung, nur etwas zu sehr
ins Schwarze gemalt, s. bei Drumann Gesch. Bom's VI. §. 112 — 123.
342 Cicero.
ausbrachen, war Cicero weder stark genug um den Tnumvirn
entgegenzutreten, noch auch schwach genug um zu ihnen über-
zugehen; ebenso wenig kam er zu einer Entscheidung zwischen
Pompejus und Caesar, von welchen Beiden er sich ebenso sehr
angezogen als abgestossen fühlte. So hielt er sich denn so lange
als nur irgend thunlich war, ja noch länger, in der Mitte
zwischen Beiden, arbeitete an ihrer Versöhnung, blieb mit Beiden
in Verbindung , und erst als die öflentliche Stimme sich über sein
zweideutiges Benehmen mit offener Missbilligung aussprach Hess
er sich von ihr nöthigen dem Pompejus nach unendlichem Zögern
und Schwanken nachzureisen. Aber kaum war er bei diesem,
so bereute er seinen Schritt schon wieder, vermied Alles was
ihn bei Caesar compromittieren konnte, und unterwarf sich diesem
offen nach der Schlacht bei Pharsalus. Daneben konnte er es
aber nicht unterlassen durch Lobpreisung des Cato und allerlei
Seufzer über die böse Zeit in seinen Schriften mit den Republi-
kanern zu liebäugeln; und als nun Caesar ermordet war warf
er die Maske ab, wurde wieder Republikaner und Aristokrat,
auch Lobredner der „Tyrannenmörder", von denen er sich aber
bald wieder zurückzog als er die Unzulänglichkeit ihrer intellec-
tuellen und physischen flulfsmittel gewahrte. Als Antonius die
Stadt räumte fand Cicero sich wieder auf der Bühne ein, um in
dessen Rücken gegen ihn zu donnern und Octavian wider ihn zu
benützen; aber Octavian liess es sich nur so lange gefallen bis
er mit Hülfe des Senats zu eigener Macht gelangt war, und
Cicero's Blut besiegelte seine Versöhnung mit Antonius. Wie
Octavian gegenüber so war Cicero auch sonst in seinem poli-
tischen Leben der Getäuschte wo er zu täuschen meinte, das
Mittel wo er Zweck zu sein wähnte. Vollkommen ungeeignet den
Ton anzugeben, war er es trefflich zum Secundieren. Er hatte
ein entschiedenes Bedürfniss sich anzulehnen, musste aber die
Erfahrung machen dass der an welchen er sich anlehnen wollte
bald zu schwach war um zur Stütze zu dienen, bald zu stark
um sich ohne Entgelt benützen zu lassen. Wer seiner Eitelkeit
zu schmeicheln wussle oder ihm Furcht einflösste, der war sein
Gebieter; willenlos liess er sich gängeln von den Ereignissen und
Verhältnissen und hatte noch überdiess die Offenheit diess als
seinen Grundsalz zu bekennen^). Trat eine Verwicklung oder
^) temporibus assentieudum, ad Farn. I, 9, 21. vgl. 18.
Charakter als Staatsmann. 343
Gefahr ein, so hielt der Consular sich klüglich entfernt, schrieb
Bücher und machte Reisen. Der sicherste Weg schien ihm alle-
zeit der beste, und die weiseste Politik den Ausgang abzuwarten.
Das einzige Bleibende in Cicero's politischer Richtung ist sein
Anlehnen an den Ritterstand , der aber selbst auch immer mit
dem Winde segelte, um seine Geldsäcke zu retten. — Ein eigent-
licher Staatsmann war Cicero nach diesem Allem nicht, so sehr
er sich es auch einbildete : dazu fehlte es ihm zu sehr an Weit-
sichtigkeit, Scharfblick, an einem klaren Ziel, an Festigkeit des
Willens und an Mut. Auch in der Zeit wo er wirklich am Ruder
stand that er Nichts wodurch er gezeigt hätte dass er eine klare
Vorstellung habe von dem eigentlichen Zustande des Reichs, von
der Wurzel des Uebels, von der Noth wendigkeit einer Reformation
an Haupt und Gliedern; im Kleinen am Staate flicken und die
dringendsten Bedurfnisse des Augenblicks befriedigen war wie
bei der ganzen Senatspartei so auch bei ihm die Summe seiner
Staatsweisheil.
xm.
T i b u 1 1 u s.*)
1. Tibull's Lebennimstände.
■
1. Der Name unseres Dichters istAlbius Tibullus; sein
Vorname ist unbekannt; doch hat man nicht ohne Wahrschein-
lichkeit vermutet dass er Aulus gewesen sei und die Gleichheit
mit dem Anfangsbuchstaben des Hauptnamens bewirkt habe dass
m
derselbe für uns verloren gieng. Das Jahr seiner Geburt ist
uns nicht positiv überliefert; denn wenn es El. III, 5, 17 f.
heisst:
Unsem Geburtstag sahn erstmals eintreten die Eltern
Als zwei Consuln zugleich raffte das Todesgeschick,
SO führt diess zwar mit Sicherheit auf das J. 711, wo in der
Schlacht bei Mutina die beiden Consuln , Hirtius und Pansa , ihren
Tod fanden; indessen ist nicht minder sicher dass das dritte
Buch, in welchem jene Stelle sich findet, von TibuU nicht her-
rührt, und die angeführten Worte selbst sind mit ein Beweis
davon: denn zu diesem Geburtsdatum würde von den andern
Nachrichten die wir aus dem Leben unsers Dichters haben keine
einzige passen. Einen allgemeinen Aufschluss über das Zeitver-
hältniss des Tibull erhallen wir durch Ovid, welcher Trist. IV,
10, 51 a. sagt:
Nur noch zu sehen bekam ich Virgil, und das neidische Schicksal
Liess dem Tibull nicht Zeit sich zu befreunden mit mir.
Letzterer war Nachfolger des Gallus, Propertius' Vorfahr;
Vierter, von diesen gezählt, bin nach dem Alter ich selbst.
*) Aus der metrischen Uebersetzung der tibullischeu Gedichte,
Stuttgart (Metzler) 1853.
TibuU's Leben. 345
Hienach war Tibull auf dem Gebiete der Elegie Nachfolger des
Cornelius Gallus, der im Jahr 728 d. St. 43 Jahre alt starb,
also im J. 685 d. St. geboren war^ und andererseits Vorgänger
des Propertius, dessen Geburt ungefähr ins J. 708 d. St. fällt,
sowie endlich des Ovidius, dessen Geburtsjahr 711 ist. Zwischen
die Jahre 690 und 705 wird denn auch die Geburt des Tibull
allgemein gesetzt, und zwar von Dousa u. A. ins J. 690, von
J. H. Voss in 695, von Paldamus, Dissen, Gruppe u. A. ins J.
700, endlich z. B. von Ayrmann in 705. Unter diesen Zahlen
ist 700 diejenige welche zu allen sonst bekannten Daten am
besten stimmt. Wir wissen nämlich aus einem Epigramm des
Domitius Marsus — der selbst auch dem augusteischen Zeitalter
angehört — dass Tibull im besten Mannesalter (als iuvenis) starb,
und zwar ganz kurz nach VirgiL Das Epigramm lautet:
Dich aach sandte, Tibull, dem Virgll zam Gefährten, das Schicksal
Herb ins Elysium hin noch in der Blüte der Kraft.
Virgll starb nun aber am 22. September 735, Tibull also am
Ende desselben Jahres. Und da er zur Zeit seines Todes noch
im Alter eines iuvenis stand — wesshalb ihn ^Ovid Amor. HI,
9, 1 mit Memnon und Achilleus vergleicht — so kann er vor
dem Jahre 700 d. St. nicht wohl geboren sein. Dazu passt auch
sein Altersverhältniss zu Messala und Horaz. Wie Tibull's Hal-
tung gegenüber von Messala immer die des Jüngeren gegen einen
Aelteren ist, so stimmt ebenso Horaz in den beiden Gedichten
die er an Tibull gerichtet hat (Od. I, 33. Epist. I, 4) ganz
unverkennbar den Ton eines älteren Freundes an, — und Horaz
war geboren am 8. December 689, Messala aber ums J. 690 d. St.
2. Die Familie des Tibull gehörte dem Ritterstande an und
war ursprünglich begütert (El. I, 1, 41 f.). Sein Vater scheint
frühe gestorben zu sein, da immer nur von der Mutter und
Schwester die Rede wird, nie von seinem Vater, und weil Tibull
(nach IV, 1, 183 ff.) im Jahr 713 den väterlichen Besitz schon
selbst angetreten hatte. Und dass der Dichter überwiegend unter
weiblichen Einflüssen ^aufgewachsen ist dürfen wir ebenso aus
dem weichen, zarten und gefühlvollen Tone seiner Gedichte
schliessen als uns andererseits jener Umstand ein Schlüssel ist
zu Erklärung dieser Eigenthümlichkeit, mit welcher Tibull unter
den römischen Dichtern so einzig dasteht. Der Wohlstand von
Tibulls Familie erhielt einen harten Stoss durch die Ackerver-
346 TibuUus.
theiiuQgen des Jahrs .713« die auch für andere Dichter dieser
Zeit (Virgil, Horaz, Propertius und den Verfasser der Dirae) so
verhängnissvoli wurden. Tibuli bösste damals einen bedeutenden
Theil seiner Erbgüter ein, behielt jedoch wenigstens so viel um
die Kosten seiner Ausbildung bestreiten und ein zwar bescheidenes,
aber doch sorgenfreies Leben führen zu können. Die Gefahr
einer Wiederholung desselben Unglüclts (vgl. IV, 1, 190) war es
wohl die ihn trieb sich in den Schutz eines Mächtigen zu be-
geben, so dass die äussere Bedrängniss auch ihm '• — wie dem
Virgii und Horaz — zum Bewusstsein seiner dichterischen Fähig-
keiten verholfen und ihn in Umgebungen gebracht hat durch
welche die Entfaltung seiner Talente begünstigt wurde. Wir
sehen ihn nämlich zu Anfang des Jahrs 723 d. St. einem der
Generale des Octavian, dem M. Valerius Messala, mit einem
Lobgedicht (IV, 1) sich nähern und ihm seine Noth klagen. Die
schüchterne, verlegene und ungewandte Art in welcher dieses
geschieht beweist ebenso sehr die Jugend des Verfassers als dass
er mit dem Angeredeten bisher noch in keinem näheren Ver-
hältniss gestanden ist. Das Gedicht scheint wirklich den ge-
wünschten Erfol§ gehabt zu haben ; dass aber Tibuli seinen neuen
Gönner noch in demselben Jahre in den Krieg und nach der
Schlacht bei Aktium nach Asien und Aegypten begleitet hätte,
dafür lässt sich nur I, 7, 13—22 anführen, wo freilich per-
sönliche Anwesenheit in den betreuenden Ländern weder (wie
V. 9) ausdrücklich erwähnt wird noch aus der Beschreibung selbst
mit Sicherheit zu folgern ist. Jedenfalls aber begleitete Tibuli
den Messala in seinen Feldzug gegen die abgefallenen Aquitanier,
welcher ohne Zweifel in das J. 726 d. St. zu verlegen ist, da
Messala's Triumph über die Aquitanier am 25. September 727
gefeiert wurde. In diesem Feldzuge soll Tibuli — nach einer
Lebensbeschreibung desselben welche sich in manchen Hand-
schriften findet — sich sogar kriegerische Ehrengeschenke verdient
haben (cuius et contubernalis Aquitanico hello militaribus donis
donatus est). Indessen war unseres Dichters Natur zu friedlich
angelegt (vgl. £1. I, 10) als dass er am Kriege nachhaltig hätte
Gefallen finden können (vgl. Horaz Ep. II, 1, 124). Als daher
in einem späteren Jahre Messala, — der mit irgend einer Sen-
dung in Asien beauftragt war, welche möglicherweise zu kriege-
rischen Verwicklungen führen konnte — den Tibuli abermals zum
Mitgehen aufforderte lehnte dieser die Einladung zuerst ab (El.
Lebensumstände. 347
I, 1), scbeinl aber später sich doch noch eines Andern besonnen
und dem Zuge angeschlossen zu haben. Wenigstens finden wir
ihn Eleg. I, 3 zwar aus Rom allein abgereist (v. 9 — 20), dann
aber (etwa von Brundisium an) in Gesellschaft des Messala bis
Corcyra gesegelt, auf welcher Insel er krank zuruckblieb, wäh-
rend Messala und dessen Gefolge ihre Reise durch das ägäische
Meer (also nach Asien oder Aegypten) fortsetzten. Die wohl-
meinende Absicht in welcher Messala ihn zu dieser Reise auf-
gefordert hatte, um ihm Gelegenheit zu geben seine Vermögens-
umstände zu verbessern (vgl. 1, 1, 1 ff. 49 ff.), scheint daher
wenigstens auf diesem Wege nicht erreicht worden zu sein, da
Tibull nach seiner Genesung nach Rom zurückgereist sein muss.
Doch scheint auch so Tibuirs äussere Lage — wohl in Folge
seiner Verbindung mit Messala — eine ganz leidliche gewesen
zu sein. Diess ersehen wir aus dem Briefe des Horaz an Tibull
(Hör. Ep. I, 4), welcher vielleicht schon aus dem J. 725 stammt,
wo TibuII's Lobgedicht auf Messala bereits seine Wirkung gethan
hatte und vom aquitanischen Feldzuge noch keine Rede war. In
diesem Briefe spricht Horaz nicht nur von einem Landgute welches
sein junger Freund bei Pedum (2 Meilen östlich von Rom , an
der lavicanischen Strasse) besitze (v. 2), sondern sagt auch:
„Dir schenkten die Götter
Schönheit, reichen Besitz^'
(v. 7) und
„ein behagliches Sein bei nie leerwerdendem Beutel^'
(v. 11). lieber die Person unseres Dichters gibt derselbe Brief
die Auskunft:
Hat es an Seele dir nie ja gefehlt: dir schenkten die Götter
Schönheit, reichen Besitz, mit der Kunst ihn recht zu gemessen —
Welchem Beliebtheit, Rahm und Gesundheit reichlich zu Theil ward.
(v. 6 f. u. 10). Tibull bezeichnet selbst einmal seinen Wuchs
als schlank und schmächtig (EL U, 3, 9). Was besonders aus
den Worten des Horaz hervorgeht, dass Tibull schön und liebens-
würdig war, das ist von der erwähnten alten Lebensbeschreibung
des Weiteren ausgeführt worden, vielleicht eben auf Grundlage
der borazischen Stelle.
3. Mit solcher Ausstattung von Seiten der Natur und des
Schicksals ward es dem Tibull nicht schwer die Liebe zu finden
nach der sein warmes, zärtliches Herz so sehr verlangte: Delia
348 TibuUuB.
und Nemesis sind die Mädchen die wir — neben Marathus — in
seinen Gedichten besungen finden, jene im ersten, diese im
zweiten Buche derselben. Von Delia erfahren wir durch Appu-
lejus (Apol. p. 106 Oud.) dass ihr wahrer Name Plania war. Die
römischen Dichter hatten nämlich die Gewohnheit ihre Liebes-
gedichte aus der unmittelbaren Wirklichkeit und dem Dunstkreis
des Klatsches dadurch wegzurücken dass sie die Namen der Be-
sungenen durch andere von gleicher Silbenmessung ersetzten;
und zwar wählten sie hiezu bald solche welche den betreffenden
Personen einen idealischen Charakter verliehen (wie CatuU's Lesbia,
Propertius' Cynthia) bald solche die auf den wirklichen Namen
oder sonstige Eigenthümlichkeiten der Geliebten Bezug hatten.
So kann Delia entweder (wie Paldamus annimmt, Römische Erotik
S. 53 Anm.) auf den Dichtergott Apollo sich beziehen, — was
jedoch etwas entlegen und auch darum minder wahrscheinlich ist
weil Artemis die Schwester (nicht: die Geliebte) des ApoUon ist,
— oder (wie Fr. Passow meint, Verm. Schriften, Leipzig 1843,
S. 147 ff.) eine spielende Uebersetzung des lateinischen Plania
sein (planus = d^Aog, etwa wie Telephus bei Horaz vielleicht
den Proculeius bezeichnet). Delia erscheint nach der Schilderung
TibulFs als eine freigeborne Römerin, wenn auch nicht von hohem
Stande und ohne tiefere Bildung, abergläubisch, gutmütig, sinn-
lich und schön , ein Charakter wie er noch jetzt unter den Röme-
rinnen der mittleren und unteren Classen sehr häufig ist. Bei
aller schwärmerischen Zärtlichkeit welche der Dichter ihr gegen-
über an den Tag legt lässt sich doch durchfühlen dass Delia
ihm geistig nicht ebenbürtig ist, dass er sich zu ihr herablassen
muss. Aber der Lebenskreis in dem sie sich bewegt ist immer
noch ein reinerer als bei der habgierigen und gemütlosen Neme-
sis, einer frivolen Hetärennatur, die aber durch ihre körper-
lichen — und Mjjhl auch geselligen — Reize und ihre berechnende
Koketterie den Dichter zu fesseln wusste und welcher gegenüber
er ebensoviel Leidenschaft entfaltet als bei Delia Innigkeit. Der
Zeit nach vertheilen sich beide Verhältnisse in der Art dass Delia
die frühere, Nemesis die letzte Liebe unseres Dichters ist. Vgl.
Ovid Amor. III, 9, 31 f.:
So wird Nemesis lang, so Delia lange genannt sein,
Jene die neueste Glut, diese die früheste Lieb.
Ausser diesen beiden Namen aber nennt Horaz noch einen dritten,
den von Glycera. Od. I, 33 heisst es nämlich zu Anfang:
Lebensumstände. 349
Sei nicht allzu betrübt, wenn du bedenkst, TibuU,
Wie sich Glycer^ hart zeige, und singe nicht
Klagend ab Elegien, dass sie mit Treuebruch
Ziehe jüngeren Mann dir vor.
Es fragt sich ob diese Glycera mit Nemesis (denn nur von dieser
kann diessfalls im Ernste die Rede sein) identisch oder aber
eine dritte Geliebte ist. Für das Letztere haben sich Bissen,
Gruppe, Hertzberg u. A. entschieden, für das Erstere Scaliger,
Passow, Weichert, Dieterich (de Tibulli amoribus, Marburg 1844).
Für die Identiücierung von Glycera und Nemesis spricht einzig
das Zeugniss des Ovid, der nur von zwei Geliebten des Tibull
weiss. Indessen ist dieses Zeugniss l^eine unüberwindliche Schranke.
Der Nachruf welchen Ovid dem Tibull gewidmet hat (Amor. III,
9) enthält ausser der einen Thatsache dass Tibull (in Rom) ge-
storben ist auch nicht das Geringste was beweisen könnte dass
dem Ovid noch andere Quellen zu Gebot standen als auch uns,
nämlich die tibullischen Gedichte. Neben I, 1 ist besonders I, 3
darin ausgebeutet, und dorther namentlich die Erwähnung von
TibuH's Mutter und Schwester entnommen; ausserdem noch im
Allgemeinen die Elegieen des zweiten Ruchs. Ueberdiess sagf
Ovid nirgends dass Delia und Nemesis die beiden einzigen Ge-
liebten Tibuirs gewesen seien, sondern nur dass jene seine erste,
diese seine letzte Liebe war, und Reide durch seine Gedichte
verewigt worden seien. Dass aber in der Mitte zwischen Reiden
der Dichter noch Andere liebte und besang — nur nicht so
eigens, so eifrig und mit solchem Erfolge — ist durch Ovid's
Worte keineswegs ausgeschlossen, wie denn die Elegieen auf
Marathus, trotzdem dass Ovid diesen Namen in Am. III, 9 nicht
genannt hat, unfehlbar tibuUisch sind. Auch hat Gruppe (die
röm. Elegie I. S. 220) vollkommen richtig bemerkt dass für die
dramatische Scene (am Grabe des Tibull) welche Ovid in dem
fraglichen Gedichte darstellt nur zwei Geliebten zu brauchen
gewesen seien, und diess war Grund genug eine dritte zu ver-
schweigen, selbst wenn er eine solche kannte. So ist denn das
Gedicht des Ovid kein Hinderniss eine dritte Geliebte des Tibull
anzunehmen^ falls eine solche Annahme aus andern Gründen
wünschenswerth erscheinen sollte. Solche Gründe sind in der
horazischen Stelle allerdings enthalten. Diese sagt über das be-
treffende Mädchen und die von ihr handelnden tibullischen Ge-
dichte fünferlei aus. Einmal nennt Horaz sie Glycera, ein Name
350 TibuUus.
welcher offenbar gleichfalls ein erdichteter ist und es daher auf-
fallend erscheinen lässt dassHoraz, wenn er das gleiche Mädchen
meinte, nicht bei dem von Tibuil selbst gewählten stehen blieb,
und welcher überdiess mit Nemesis nicht völlig gleiche Silben-
messung hat. Diese Schwierigkeit ist freilich keine erhebliche
und unüberwindliche, denn ebenso wenig konnte Hostia in allen
Fallen gesetzt werden wo Cynthia im Verse stand (z. B. nicht:
mea Hostia , für : mea Cynthia) , und würde es einem Hergang
wie Dieterich p. 58 — 60 ihn sich ausmalt an Denkbarkeit nicht
fehlen. Dieterich nimmt * nämlich an dass in den betreffenden
Gedichten des Tibuil — welche jetzt im' zweiten Buche eingereiht
sind — ursprünglich, vor der Veröffentlichung derselben, seine
Geliebte bei ihrem wirklichen Namen genannt gewesen sei. Diesen
las auch Horaz, welchem als einem Freunde und Kenner Tibuil
diese Gedichte in ihrer vorläufigen Gestalt mittheilte, ersetzte
aber in der darauf bezüglichen uiid für die Oeffentlichkeit be-
stimmten Ode (I, 33) den wirklichen Namen durch den erdich-
teten: Glycera, weil dieser der Quantität von jenem zu ent-
sprechen schien. Vor der Vollendung dieser Elegieen wurde nun
aber Tibuil vom Tode ereilt, und der JPreund der die Heraus-
gabe besorgte ersetzte gleichfalls den ursprünglichen Namen durch
einen anderen von gleicher Silbenmessung, aber nicht durch
Glycera wie Horaz, da dieser z. B. U, 4, 59 nicht passte, sondern
durch Nemesis, welche [Benennung zugleich das Benehmen der
fraglichen Person gegen Tibuil und ihren Einfluss auf ihn rich-
tiger zu bezeichnen schien als Glycera. Horaz aber hatte damals
seine Ode bereits veröffentlicht und konnte daher sein Glycera
nicht mehr mit Nemesis vertauschen, oder auch wollte er es
nicht, da ihm sein Glycera ebenso berechtigt scheinen mochte
als der von dem andern Freunde gewählte Namen Nemesis. Diese
Glycera nun bezeichnet Horaz zweitens als immitis. Dieses Merk-
mal findet auch auf Nemesis Anwendung und stimmt mit ser-
vilium triste (H, 4, 3), saeva puella (H, 4, 6) und dura pueila
(H, 6, 28) überein > wiewohl Beiwörter wie avara, rapax u. dgl.
für Nemesis wohl noch bezeichnender gewesen wären (vgl. H,
3, 49 ff. 4, 14 ff. bes. v. 25. 35. 46). Drittens waren die
Elegieen auf Glycera nach Horaz miserabiles. Auch diess trifft
bei denen auf Nemesis zu (H, 3. 4. 6), ist aber ein Prädikat
welches den meisten Elegieen des Tibuil gegeben werden kann
und überhaupt der späteren Form der Elegie eigen ist. Viertens
Lebensumstände. 351
war der Inhalt der Gedichte auf Glycera nach Horaz Klage über
Verletzung der Treue. Diess passt nun schon auf die Elegieen
des zweiten Buchs sehr wenig. Auf Treue konnte Tibull bei
NeiUQsis keinen Anspruch machen, denn sie w^r eine Hetäre,
und worüber er klagt ist auch gar nicht dass sie die Treue gegen
ihn verletze, sondern dass sie spröde gegen ihn sei, seine Liebe so
wenig erwidere, ihm so harte Bedingungen stelle. Endlich aber das
Motiv dass Glycera ihm unti^eu geworden sei weil sie einem Jüngeren
den Vorzug gebe steht im geradesten Widerspruch mit den von
Nemesis handelnden Elegieen. Auch bei Nemesis hat Tibull einen
Nebenbuhler, aber es ist ein gewesener Sklave (II, 3, 59 f.),
und er steht Jenem im Wege nicht weil er jünger ist, sondern
weil er besser bezahlt (vgl. II, 3, 49. 4, 33 f.): pretio victus ist
der Dichter (II, 4, 39). Nun hat zwar Dieterich p. 54 f. sich
durch die Annahme zu helfen gesucht, Horaz habe mit seinem
iunior dem Tibull auf eine zarte Weise zu verstehen geben wollen
dass dem Nebenbuhler nicht — wie Tibull meine — sein grösserer
Reichtbum, sondern vielmehr seine grössere Jugendlichkeit den
Vorzug vor dem kränklichen Dichter verschalTt habe. Aber diese
Auskunft, die ohnehin einem gebildeten Geschmacke allzu viel
zumutet, ist durch die Worte des Horaz selbst ausgeschlossen,
bei welchem der Conjuncliv praeniteat vielmehr andeutet dass die
grössere Jugendlichkeit des Nebenbuhlers von Tibull selbst in
den betreffenden Elegieen als Grund seiner Zurücksetzung ange-
geben gewesen sei. Hat es hienach die grösste Wahrscheinlich-
keit dass die elegi auf Glycera von welchen Horaz spriclit nicht
die auf Nemesis sind, so fragt sich wo denn jene hingekommen
seien? Sie sind verloren gegangen,- antwortet W. Hertzberg (Hall.
Jahrb. 1839. I. S. 1029), „weil Tibull nie die zweite Hand an
sie gelegt und sie zu einem Buche verbunden herausgegeben
hatte." Aber Letzteres war ja auch bei denen auf Nemesis nicht
der Fall, und doch sind sie uns erhalten. Ueberhaupt hat in die
tibullische Gedichtsammlung so manches andere vereinzelt Stehende
und Unvollendete, ja so vieles gar nicht von Tibull Herrührende
dennoch Aufnahme gefunden dass der völlige Verlust gerade jener
Glycera-Elegieen etwas Befremdendes hätte. Schon darum empfiehlt
sich die Vermutung von Gruppe (d. röm. Elegie S. 223 ff.)*), dass
•) Mit welcher sich W. Hertzberg, Zeitschr. f. Alt.-Wiss. 1854,
B. 851, gleichfalls einverstanden erklärt.
352 TibuUus.
El. IV, 13 und 14 Ueberreste davon seien, freilich solche in
welchen das was Horaz als Inhalt der elegi auf Glycera angibt
nur in den ersten Anfängen sich angedeutet findet (peccare IV, 14
vgl. mit laesa pde des Horaz), so dass auch bei dieser Ansicht
der grössere Theii als verloren betrachtet werden mässte.
Die im dritten Buche angeredete Neära ist im Vorstehen-
den absichtlich übergangen, weil sie zu Tibull selbst keinerlei
Beziehung hat, wie das Folgende näher zeigen wird.
2. TibuU's Gedichte.
Die unter dem Namen Tibuirs auf uns gekommene Gedicht-
sammlung ist in den Handschriften meist in vier Bucher abgetheilt.
Innerhalb dieser sind die einzelnen Stücke nur nach einer all-
gemeinen Ordnung vertheilt, so nämfich dass die von Delia, sowie
die von Marathus handelnden im ersten Buche stehen, die von
Nemesis im zweiten, (von Neära im dritten) und die von Sulpicia
im vierten. Bei der Anordnung der einzelnen Stücke selbst aber
lässt sich — wenigstens im ersten Buche — ein bestimmter Plan
nicht erkennen. In dieses wirre Chaos Licht zu bringen hat
zuerst 0. F. Gruppe. unternommen in seiner Schrift: Die römische
Elegie. Kritische Untersuchungen mit eingeflochtenen lieber-
Setzungen. Leipzig 1838. 8. Seine Ergebnisse voraussetzend,
weiterführend und abändernd unterscheiden wir in der künst-
lerischen Entwicklung unseres Dichters folgende Stufen.
1) Die der jugendlichen Unreife, vertreten durch das Lob-
gedicht auf Messala (IV, 1). Zwar haben Heyne, Bach,
Weicherl, Paldamus, Bissen, W. Hertzberg, M. Haupt (Observ. critt.
p. 49) um die Wette den tibullischen Ursprung dieses Epos be-
stritten. Namentlich Hertzberg hat sich (in den Hall. Jahrb. 1839.
I. S. 1026 f.) bemüht zu zeigen dass der Panegyrist „ein von
Tibull in Sitte, Geist und Bildung gänzlich verschiedener Mensch"
sei, indem er behauptet: „es ist unmöglich dass der Mensch
welcher hier so erbärmlich nach seinem verlorenen Gütlein zagt
und klagt (v. 181 — 188) und seinen Lobgesang damit als einen
Bettelbrief an den Gönner stempelt auch nur ein anständiger
Mann sei , geschweige denn Tibull , der liebenswürdige Verächter
gemeiner Glücksgüter; es ist unmöglich dass ein Mensch der so
gegen allen Sinn und Verstand schmeichelt dass er sagt er wolle,
^enn Messala es beföhle [vielmehr wenn es der Bettung von
Gedichte. Panegyricus. 353
dessen Leben gelte], seinen Leib — und zwar seinen kleinen
Leib — in den Aetna stürzen (v. 196), der zum Schlüsse sich
der aberwitzigea Vorstellung bedient er werde seine angefangenen
Gedichte zu Messala*s Preis fortsetzen auch nachdem er darüber
gestorben und begraben sei, möchte er nun bis zu seiner zu
hoffenden neuen Menschwerdung ein Pferd, ein Ochse oder ein
Vogel gewesen sein, — es ist unmöglich dass solch ein Mensch,
dem jede Ader poetischen Sinnes gebricht, nach vier Jahren zu
einem Dichter wie TibuU [in I, 7!] wird/' Hertzberg hebt dann
als das den Panegyristen von Tibull Unterscheidende besonders
hervor „die schleppenden Perioden, die sich in langen Vorder-
und Nach- Sätzen durch zehn und mehr hinkende Verse hindurch
quälen (19—27, 28—38, ganz unerträglich 39—49, 65—78,
82—105), die störrige Unbiegsamkeit und Ungleichheit der Die-
tion, die zwischen dogmalisch ausgekramter Gelehrsamkeit und
rhetorischem Prunk zappelt und somit diametral der tibullischen
Aequabilität zuwiderläuft." Trotz dem Gewichte welches Hertzbergs
Name für uns hat''') nehmen wir doch keinen Anstand uns auf die
Seite der Vertheidiger des tibullischen Ursprungs (Scaliger, Vulpius,
Huschke, und ganz besonders Gruppe S. 147 — 163, vgl. S. 258 f.
264 f.) zu stellen. Denn Hertzbergs Vorwurfe sind theils zu stark
aufgetragen theils beweisen sie nicht was sie sollen. Was nament-
lich den Schluss des Gedichts betrifft so ist er ganz unbestreit-
bar geschmacklos; aber er ist nur eine Consequenz der durch-
gängigen Manier einen abstracten Gedanken durch Zerlegen in
eine Mehrheit concreter Beispiele auszufuhren, und man darf
dabei nicht aus dem Auge verHeren dass das Allerthum sich des
qualitativen Unterschiedes zwischen ^Mensch und Thier nicht mit
derselben Schärfe wie wir bewusst war; s. meine Anm. zu Horaz
Sat. n, 1, 20 (S. 19 f.). Auch bei Tibull tritt diese Betrachtungs-
weise oft genug hervor, nicht nur in den Ueblichen Bildern I,
1, 31 f. 10, 10, sondern schon gesteigert in II, 1, 67 ff. 3, 17 ff.
und mindestens ebenso geschmacklos wie am Schlüsse des Pane-
*) Auch in der Zeitschr. f. d. Alt-Wlsa. 1854, S. 362 verharrt Hertz-
berg in seiner Bestreitung der Echtheit. Da man aber dem Panegy-
risten in der That Talent nicht absprechen kann, wohl aber Geschmack,
der gerade an Jugendgedichten öfters vermisst wird (man denke an die
von Schiller), und die Frage überhaupt noch nicht allseitig erwogen
scheint, so mag obiger Rechtfertigungsversuch wenigstens zu weiterer
Verhandlung anregen.
Teuf fei, StudieD. 23
354 TibuUus.
gyrikus auch am Schlüsse von II, 4 (v. 57 f.). Ueberhaupt darf
man, um zu einem richtigen Ergebniss zu gelangen, den Pane-
gyrikus nicht ausschliesslich mit den vollendetsten Gedichten des
TibuU vergleichen: namentlich das nächstälteste, Eleg. I^ 7, hat
ganz dieselben Fehler wie der Panegyrikus, nur in geringerem
Masse. In beiden dieselbe eintönige, unbehölflich rhetorische
Manier, in beiden die alexandrinische Auspolsterung dürrer Ge-
danken durch allerlei ungehörigen mythologischen , geschichtlichen
oder statistischen Watt, in beiden der gleiche Mangel an durch-
gebildetem Geschmacke , der in beiden am Schlüsse seinen Gipfei-
punkt ersteigt. Noch in den Marathus-Elegieen werden wir Ueber-
reste dieser Schulmanier wiederfniden. Alles das zeigt nur dass
Tibuli kein einfacher Naturdichter ist, dem die Lieder unbewusst
entströmen, ohne dass er dabei ein anderes Verdienst hätte als
das des Werkzeuges; nicht zu Tage lag für ihn das Gold der
Poesie, dass er nur darnach zu greifen hatte, sondern er musste
es durch Studium und Fleiss allmählich aus dem gemeinen Stoffe
losschälen mit dem es noch verwachsen war, und die Schlacken
abscheiden, neben denen anfänglich die Ausbeute an echtem
Golde so gering war. Indessen fehlt es auch dem Panegyrikus
bei allen seinen grossen und in die Augen springenden Fehlern
nicht an Spuren von Talent, wohin Gruppe mit Recht eine ge-
wisse Schärfe der Auffassung und Plastik der Anschauung, sowie
ein Streben nach dem präcisesten Ausdrucke gerechnet hat. Sonst
ist freilich Alles in hohem Grade jugendlich unfertig, unklar und
unbehülflich. Eine völlig prosaische Disposition liegt zu Grunde,
innerhalb welcher die Gedanken ganz einförmig in die Breite
getrieben sind , und namentlich eine unglückliche Wut des Theiiens
den Leser peinigt. Aber einen Beweis der Unechtheit können
wir in dieser Schülerhaftigkeit des Gedichtes nicht erblicken, und
ein anderer Grund als dieser ist von den Gegnern nicht bei-
gebracht worden.^) Wir haben daher dieses Epos unbedenklich
für die Darlegung von TibulFs Lebensumständen benützt, für
*) Auch Lachmann (in der Recension von Bissen, S. 254) sagt nar:
„ dass Tiballas damals (723) nichts so Kindisches dichten konnte hätte nie
zweifelhaft sein sollen *S und meint es rühre von dem im J. 711 gebore-
nen Verfasser des dritten Buchs her: „als die Arbeit eines Zwölf-
jährigen wird es seinen Lehrern in der Poetik nnd Rhetorik alle Khre
machen.*' W. Hertzberg, Zeitschr. f. Alt.-Wiss. 1864, S. 3ö2, stimmt
eventuell dem bei, während M. Haupt (Obss. critt. p. 49) sagt: hoc
Carmen neque Tibullo neque Lygdamo tribuendum esse plerisque assentior
Gedichte. Panegyricus und B. I. 355
welche es werthyoile und zu allem Uebrigen vollkominen stim-
mende Beiträge bietet.
2. Das Mittelglied zwischen jener Jugendarbeit und den
späteren vollendeteren Gedichten bildet die siebente Elegie des
ersten Buches, ein Gelegenheitsgedicht, veranlasst durch den
Triumph des Messala im J. 727 und gleichfalls dem Preise des
Messala gewidmet. Der Dichter war in der unmittelbar voraus-
gegangenen Zeit mit Messala im Felde (in Gallien) gewesen, und
hatte da begreiflicherweise für seine künstlerische Ausbildung
wenig thun können. Daraus erklärt es sich dass diese Elegie,
trotzdem dass sie volle vier Jahre später fallt als der Panegyrikus,
doch diesem gegenüber keinen sehr grossen Fortschritt der dich-
terischen Behandlung zeigt. Auch hier sucht der Dichter noch
durch die Masse des Stoffes zu wirken, statt durch die Schön-
heit der Verhältnisse. Eine Menge von Gegenständen, zum Theil
fruchtbare und bei denen ihm eigene Anschauung zu Gebote stand,
wird mit eintönigen Wendungen eingeführt, mager abgehandelt
und dann fallen gelassen, bis mit einem Male ein einzelner Punkt
willkürlich aufgegriffen und mit grosser Umständlichkeit und
mit Aufgebot rhetorischer Figuren ausgeführt wird. Von der
Digression findet der Verfasser nur mühsam den Weg zu seinem
eigentlichen Gegenstande zurück, zu dem er noch einen sehr
fatalen Nachtrag macht« Dazu im Einzelnen Ueberladungen des
Ausdrucks (v. 13 f.), spielende Gegensätze (v. 12), zweckloses
Pathos (v. 44ff.), ungeschickte Wendungen (v. 9 ff., 13, 15, 17,
21, 23. 57), Wiederholungen (v. 12 u. 14; 30, 33 u. 46; 40 u.
43; 44 u. 48), prosodische Härten (v. 2, 40, 9j, entlegene
mythologische Anspielungen (bes. v. 54), neben der bedenklichen
Identificierung des Osiris und Bacchus.
3. Seinen nunmehrigen Aufenthalt in Rom scheint der
Dichter zu Studien nicht nur auf dem Gebiete des Lebens son-
dern besonders auch der Kunst benützt zu haben. Die ersten
Früchte derselben liegen uns in den drei Marathuselegieen
vor. Dass sie Tibulls Lehrjahiren angehören und älter sind als
die übrigen erotischen Elegieen schliessen wir theils aus dem
Vergreifen im Stoffe das sie kundgeben theils aus den Mängeln
der Ausführung. Was zuerst den Stoff betrifft so besteht er in
der Liebe zu einem Knaben, welcher Marathus genannt wird.
Darin erkennen wir einen Beweis dass der Dichter selbst noch
dem Jünglingsalter nahe ist: sein Verhältniss zu Marathus ist
23*
356 TibuUufl.
eigentlich das der Freundschaft, es nimmt jedoch^ gemäss der
Richtung des Alterthums überhaupt, einen zärtlichen Anstrich an.
Aber die Erfahrungen welche er in diesem Verhältnisse machte,
dass ihm der Geliebte entfremdet wird dadurch dass in diesem
selbst die Liebe — zu einem Mädchen — erwacht, wiesen den
Dichter von selbst auf den naturgemässen Weg, den wir ihn in
keinem der späteren Gedichte mehr verlassen sehen. Dass diese
Liebe zu Marathus seinen anderen Liebesverhältnissen vorausgeht
schliessen wir auch daraus dass sich in diesen Elegieen der
Dichter niemals auf die Erfahrungen beruft welche er selbst mit
dem weiblichen Geschlechte gemacht habe, so nahe ein solcher
Gedanke durch den ganzen Inhalt dieser Elegieen gelegt wäre:
aber er hat solche Erfahrungen noch nicht gemacht. Auch
die für TibuU so charakteristische Vorliebe für das Landleben,
der idyllische Zug in seinem Wesen, ist in diesen Elegieen noch
nicht zu entdecken: ihr Boden ist die Weltstadt mit ihren raf-
finierten Genüssen und ihren Lastern. Unter sich stehen sie
in einem sachlichen Zusammenhang und stellen einen psycho-
logischen Verlauf dar, welchen zuerst Gruppe a. a. 0. S. 199 — 206
nachgewiesen hat. Die erste unter denselben (I, 4) ist eine
Art Satire, dem Inhalt, zum Theil auch der Form nach nahe
verwandt mit der wenige Jahre zuvor (724) erschienenen fünften
Satire des zweiten Buchs von Horaz. Wie dort die Kunst gelehrt
wird sich die Gunst kinderloser Alten zu erschleichen, so hier
die sich die Liebe schöner Knaben zu erwerben, ein Gegenstand
wobei dem Dichter die Wahrnehmungen welche er in den letzt-
verflossenen Jahren im Kreise seiner Altersgenossen zu machen
Gelegenheit gehabt hatte zu Gute kamen und ihn vielleicht mit
zur Wahl desselben bestimmten. Wenn bei Horaz die Mittheilung
der betreffenden Anweisungen nur den Zweck hat das Treiben
der Erbschleicher aufzudecken und lächerlich zu machen, ein
Sittenbild zu geben , so ist diese Tendenz bei TibuU schon durch
die Natur der Kunstgattung ausgeschlossen und auch persönlich
dem Dichter fremd ; wiewohl die» objective Wirkung davon nicht
wesentlich verschieden ist. Um so mehr aber erinnert wieder
die Einkleidung des Gedichts an Horaz. Wie dort die ganze
Lehre von der Erbschleicherei dem Tiresias in den Mund gelegt
ist, so hier dem Priapus (eine Erfindung welche vielleicht der
achten Satire des ersten Buches von Horaz entnommen ist).
Freilich erreicht hierin der Elegiker bei Weitem nicht die Kunst
Gedichte. Buch I (Marathus), 357
des Satirikers. Schon das ist ungeeignet dass bei Tibull die
zweite Person des Dialogs nicht gleichfalls eine mythische Person
ist (wie bei Horaz Ulysses), sondern eine wirkliche und der
Gegenwart angehörige, nämlich der Dichter selbst, neben welchem
noch die abstracte Figur eines Titius vorkommt, welchen Namen
die römischen Juristen in dem Sinne von N. N. gebrauchen. Sodann
ist bei Tibull der einmal gewählten Einkleidung viel zu wenig
Folge gegeben. Bei Horaz ist (sowohl Sat. I, 8 als II, 5) die
Person des Redenden von wesentlichem Einfluss auf die Anlage
und Haltung des Gedichts und verleiht diesem einen besonderen
Reiz; Tibull sieht von der speciflschen Eigenthümlichkeit des
Redenden so ganz ab und identificiert sich selbst mit ihm so
unverhohlen dass er den Priapus sentimental werden (I, 4, 35 f.)
und die Dichter und die Dichtkunst empfehlen und preisen lässt
(v. 61 ff.). Die Behandlung betreffend, so erinnert diese Elegie
noch beträchtlich an die Schule und die Manier von Eleg. I, 7.
Nicht nur enthält sie gleichfalls sehr viel Mythologisches, — ein
Element das Tibull in den späteren Gedichten immer mehr ab-
gestreift hat, — sondern namentlich auch viele rhetorische Figuren,
insbesondere die der Anaphora; und die Fortbewegung des Ge-
dankens ist einförmig. Jeder einzelne wird erst durch eine
Mehrheit von Beispielen ausgeführt ehe zu einem anderen weiter
gegangen wird; der Dichter tritt immer eine Weile „auf der
Stelle" oder bewegt sich um sich selbst herum ehe er einen
Schritt vorwärts thut. Daneben aber zeigt diese Elegie schon einen
bedeutenden Fortschritt in der Kunst gegenüber von El. I, 7:
wenn auch die Anlage im Ganzen noch Mängel hat, so ist doch
die Ausführung des Einzelnen lebendig, warm und geistreich.*)
Die zweite in dieser Elegieenreihe (I, 9) hat zum Haupt-
gegenstBud einen Gedanken der in der vorigen (I, 4, 59 f.) nur
beiläufig ausgesprochen gewesen war: der Verdacht der Untreue
des Gellebten hat tieferen Grund und festere Gestalt gewonnen,
er ist zur subjectiven Gewissheit geworden und entflammt des
Dichters Zorn, in welchem er dem Verführer wie dem Verführten
zur Strafe anwünscht dass sie die gleiche Erfahrung machen
möchten. Der Gegenstand ist somit eigentlich ein schmieriger:
ein lüderlicher Knabe der sich einem alten Podagristen preis-
gibt, worüber nun der bisherige Liebhaber jammert und tobt.
♦) Zu obiger Ausführung vgl. F. Ritschi, über Tibull I, 4, in deu
Berichten der sHchs. Ges. der W. vom J. 1866, 20 S,
358 TibuUus.
Doch bat der Dichter aus diesem Stoffe sehr viel zu machen ge-
wu88t, so dass man in der Elegie seihst jene Beschaffenheit des
Grundgedanl&ens vergisst. Denn die Behandlung zeigt nur noch
schwache Reste von dem Fehler der vorigen Elegie und besitzt
dabei deren Vorzuge in gesteigertem Masse. Hier zum ersten
Hai begegnen wir auch der dem Tibuli so charalcleristischeH
Beweglichkeit der EmpOndung, dem raschen und doch natürlichen
Ueberspringen von einer Stimmung in die andere. — Die dritte
Elegie (I, 8) enthält dann den Abschluss dieses Verhältnisses und
damit dieser Reihe von Gedichten, und In Bezug auf die un-
mittelbar vorausgegangene ebenso deren Berichtigung wie ihre
Erfüllung. Berichtigt wird thatsächlich der Verdacht welchen in
der vorigen die Eifersucht ausgesprochen hat: nicht verführt ist
der Knabe, sondern er liebt, und liebt ein Mädchen, und liebt
ohne Erwiderung. Damit ist zugleich der Fluch der vorigen
Elegie in Erfüllung gegangen, und der Dichter bat jetzt Gelegen-
heit bekommen Verzeihung zu üben und für den Ungetreuen
Fürbitte einzulegen. Auch hier wieder ist aufgenommen und
zum Hauptthenia gemacht was in der vorausgegangenen Elegie
(I, 9, 39 ff.) nur flüchtig berührt war; und dieser Zusammen-
hang macht es auch wahrscheinlich dass die spröde Pholoe von
f, 9 eben die uxor ist durch welche I, 8, 54 ff . dem vermeint-
lichen Verführer von Marathus Rache angewünscht wird, somit
der iuvenis quidam, für welchen sie sich mit unschuldiger Ge-
fallsucht schmückt (1 , 8 , 65 — 72) , eben unser Marathus. Damit
dass der Geliebte nun selbst zum Liebenden geworden ist hat
das erstere Verhältniss sein natürliches Ende gefunden. Die
Feinheit womit dieser Uebergang dargestellt ist hat Gruppe
(S. 203 — 205) mit grosser Wärme gepriesen, und das Gedicht
ist unleugbar von hoher Vollendung. Indessen können wir Gruppe
nicht beistimmen wenn er die Marathuselegieen noch über die
auf Delia setzt, und S. 206 (vgl. S. 265 f.) sagt: „wir haben
hier Erfindungen und Kunstgriffe welche denen im Buch Delia
vollkommen analog sind; allein im Marathus ist die Kunst noch
viel feiner und kühner und mitunter fast bis auf eine schwind-
lige Höhe getrieben; auch ist das Colorit wohl noch feuriger,
und in der Daristellung der wogenden Leidenschaft fast noch
schöner jenes stete Abgleiten ^u dem Gedanken an den Geliebten
und das unruhige Schwanken der Empfindung zwischen schmach-
tendem Verlangen und trostloser Angst, besonders aber ein noch
Gedichte. Buch I. 359
schnelleres, noch festeres und überraschenderes Einsetzen in den
Uebergängen.*' Einmal können wir nicht so völlig absehen
von der Beschaffenheit des Stoffes, sodann finden wir dass auch
in dieser dritten Elegie der Dichter von einem Fehler seiner bis-
herigen Gedichte noch nicht völlig losgekommen ist. Man darf
nur die Art wie der gleiche Gegenstand, die Macht von Zauber-
mitteln, hier (I, 8, 19 ff.) und me er I, 2, 43 ff. behandelt
ist vergleichen um die Deliaelegieen als eine höhere Stufe der
Kunstentwicklung zu erkennen. Während in I, 2, 43 ff. die
betreffende Auseinandersetzung organisch verwachsen ist mit dem
ganzen Gedankengange, einen integrierenden Bestandtheii dessel-
ben bildet, und in persönlichster Weise gehalten ist, so macht
sie in I, 8 den Eindruck eines Excurses, der für den Zusammen-
hang nicht nur nicht unentbehrlich sondern eher störend ist;
denn wenn Pholoe so ganz durch sich selbst gefallt (v. 15 f.] , so
braucht das weiter hinzukommende Mittel um so weniger mächtig
zu sein , und um so weniger also ist eine Ausfuhrung über dessen
Macht gerechtfertigt.
4. Noch zu derselben Kunststufe rechnen wir die zehnte
Elegie des ersten Buchs. Wir stellen sie nach den Gedichten
auf Marathus, weil in ihr die Liebe nur in der naturgemässen
Weise gefassl ist; andererseits aber halten wir sie für älter als
alle Deliaelegieen, weil in ihr von der Liebe erst im Allgemeinen
die Rede, dieselbe noch nicht auf die Person des Dichters selbst
bezogen ist, und dessen Verhalten zu ihr noch in der Sehnsucht
besteht. Auch ist an ihr mehr nur das Aeusserliche, auf der
Oberfläche Liegende dargestellt als dass dieses Gebiet schon in
seiner ganzen Fülle und Tiefe aufgeschlossen wäre. Auch die
übrige Beschaffenheit der Elegie scheint zu dieser Einreihung am
besten zu passen. Die Manier ist die gleiche wie in den Mara-
Ihuselegieen : auch hier die Neigung einzelne Punkte unverhält-
nissmässig auszuführen und besonders stark zu beleuchten, das
Hineilen auf Gedanken die sich zu rhetorischer Behandlung eignen :
wie in den beiden letzten die Ghrien über die Macht der Zeit
und die des Zaubers, so hier die über den Frieden, nur dass
letztere dem Inhalte der Elegie vollkommen gemäss ist. Dass in
anderen Beziehungen dieselbe hinter dem Glänze und der Manch-
faltigkeit der Marathusgedichte zurücksteht erklärt sich daraus dass
ihr ein positives Pathos abgeht. Ihr Inhalt ist eine Klage des
Dichters darüber dass er in den Krieg müsse, Wohl beruht die
360 TibuUus.
Klage auf dem positiven Grunde der Liebe zum Frieden und Land-
leben; aber diese Liebe ist keine Leidenschaft, sondern ein sanftes
Gefühl , sie äussert sich erwärmend , nicht aber entflammend. Den
idyllischen Zug im Wesen des Tibull gewahren wir in dieser
Klegie zum ersten Male: bis dahin hatte er vor der Aufregung
der Zeit, der Beweglichkeit der Jugend, den Verpflichtungen
welche das Verhältniss zu Messala mit sich brachte, und den
Genüssen der Hauptstadt nicht zum Durchbruch kommen können.
Jetzt, nach Auflösung der Beziehungen zu Marathus, scheint der
Dichter sich wieder dem Schauplätze seiner Jugendträume, dem
väterlichen Gute, zugewendet zu haben (vgl. die Anrufung der
Laren, v. 15 ff. 25 ff.), und das stille Glück dieses Lebens
stimmte so ganz zu dem Tone seines eigenen Wesens dass er sich
unglücklich fühlte als an ihn die Zumutung ergieng sich wieder am
Kriege zu beiheiligen. Aus dieser Stimmung heraus ist El. I, 10
gedichtet, die wir daher etwa dem Jahre 729 zuweisen möchten.
5. Die erwähnte Zumutung führte den Dichter wohl nach
Rom zurück, und hier fand er denn die Liebe die wir ihn in
der vorigen Elegie noch suchen sahen: er lernte Delia kennen.
Die Liebe erschloss die Schätze seines Innern und seiner Kunst,
in der er jetzt den Gipfel ersteigt. Es beginnen die Meisterjahre
unseres Dichters, aus welchen die übrigen Elegieen des ersten,
sowie die des vierten Buchs stammen (etwa J. 730 — 734).
Zunächst musste die neue Liebe die Wirkung haben den
Dichter um so fester an den Frieden zu ketten. Wir finden
daher in dem ersten Gedichte welches sich auf dieses Verhält-
niss bezieht (I, 1) — und wir befolgen bei ihnen die von Gruppe
(S. 167 ff.) verfochtene Ordnung*) — diese beiden Gedanken in
Beziehung zu einander gesetzt. Abermals lehnt der Dichter die
Aufforderung in den Krieg zu ziehen ab; nur wendet er sich
diessmal nicht gegen den Krieg im Allgemeinen, sondern gegen
die lockende Seite desselben, die Gelegenheit sich zu bereichern,
und es ist jetzt concreter ein Krieg den er an der Seite des
Messala durchzumachen hätte. Als Grund der Ablehnung wird
wiederum zunächst geltend gemacht die Friedlichkeit seiner Natur
und seiner Neigungen, insbesondere seine Begeisterung für ein-
faches genügsames Landleben; aber neu tritt nunmehr als wirk-
*) Lacfamann, und nach ihm O. Richter (Rhein. Mus. XXV. S. 520
Ms 627) ordnen: I, 3. 1. 2, 6, 6,
Gedichte. Bueh I (Delia). 361
satnstes Motiv hinzu die Liebe: aus Jen Armen seiner Delia ver-
mag er sich nicht loszureissen. Die Ausfuhrung beruht auch
hier, wie l, 10, auf dem Prineip des Contrastes: beidesmal wird
der Gegensatz der den Ausgangspunkt bildet, der angesonnene
Krieg, in bestimmten Zwischenräumen zwischen die Bilder des
Friedens und Glückes eingeschoben; s. I, 10, 1. 13. 33. 49. 65,
und I, 1, 25. 49. 75.
Zeigte die vorige Elegie den Dichter im ungefährdeten Be-
sitze von Delia's Liebe, und in dem ruhigen Genüsse seines
Glückes einzig bedroht durch die Aufforderung deines Gönners
und Freundes, so finden wir in der zweiten (I, 3) die Lieben-
den getrennt : den Vorstellungen des Hessala war dauernder Wider-
stand nicht entgegenzusetzen gewesen, und nach langem innerem
Kampfe hatte sich der Dichter denn doch auf den Weg gemacht.
Aber unterwegs, auf Corcyra, hat ihn eine Krankheit ergriffen
und an der Weiterreise gehindert. Der Tod , in welchen er sich
in der ersten Elegie hineinphantasiert hatte, tritt ihm jetzt in
leibhafter Gestalt nahe, und um so mehr beklagt er die Tren-
nung von seinen Lieben allen. War in den beiden vorausge-
gangenen Elegieen der Gejdanke des Glücks die Grundlage, an
welcher der zugemutete Kriegszug fortwährend gemessen, unver-
einbar gefunden und davon abgestossen wurde, so ist hier um-
gekehrt die Grundfarbe eine dunkle, der Schmerz über seine
unglückliche Lage, und zwischen sie abermals in einer gewissen
Regelmässigkeit, neben aller Mancbfaltigkeit, die Bitte um Schonung
und Hülfe eingestreut (v. 5 ff. 27 ff. 51 ff.) Die Gewährung
dieser Bitte setzt dann der schöne Schluss mit seliger Gewissheit
unmittelbar voraus und malt die Wonne der Heimkehr und des
Wiedersehens. Auch im Uebrigen ist der Bau dieses Gedichtes
bewundernswürdig. Die trübe Gegenwart ist der Mittelpunkt von
welchem aus der Dichter seinen Blick zuerst zurückwendet in
die Vergangenheit, und in dieser sein jetziges Unglück vorgebildet
findet durch die Ahnungen welche er wie Delia gehabt habe,
dann aber die Wurzeln seines Leidens tiefer zurückverfolgt in die
entfernteste Vergangenheit, in den Abfall der Welt von dem
früheren Ideale. Auf der andern Seile lässt er ebenso sein Auge
in die Zukunft schweifen, wo gleichfalls wieder der eine Theil
einen mythischen Charakter trägt, der andere der unmittelbarsten
Wirklichkeit entnommen ist. Und zwar ist die Stellung der ein-
zelnen Theile eine chiastische: in der ersten Hälfte zuerst die
362 TibuUuä.
wirkliche, nahe Vergangenheit, dann die mythische; in der zweiten
zuerHt die tnythisclie Zultunft (in den Vorstellungen von der Unter-
welt), dann die wirkliche (das Wiedersehen). In beiden Bälfteo
ist wiederum der Farbenwechsel zu beachten : bei der Vergangen-
heit zuerst die traurige des Abschieds, dann die schöne des gol-
dmien Zeitalter«; noch reicher bei der Zukunft: zuerst die schöne
des Lebens im Elysium , dann die düstere des Zuetandes im Tar-
tarus, zuletzt die wonnige des Wiedersehens. Auch dieses Ge-
dicht enthält längere Beschreibungen, aber sie sind nicht ganz
oder halb müssige Digressionen, sondern fort und fort durch-
woben von Beziehungen auf die Gegenwart. Namentlich die
Ausmalung der Schrecken des Tartarus lässt uns von Weitem
die Wolke der Eifersucht erblicken die am Liebeshimmel unseres
Dichters aufgestiegen ist, und welche in der dritten Elegie dieser
Iteihe den Hauptgegenstand ausmacht.
Diese dritte Elegie (l, 5) steht demnach zu der zweiten
in demselben Verhältnisse wie diese zur ersten. Wie der Gedanke
des Todes, der in der ersten schon angeschlagen war, in der
/weiten zum Hauptthema geworden ist, so ist eine Situation
welche in I; 3 nur von ferne angedeutet und als blosse Möglich-
keil dargestellt war (v. 79 — 84), die Untreue der Geliebten, in
1, 6 als Gewissheit und nach ihrer ganzen Reichhaltigkeit aus-
geführt. Der Dichter ist genesen und nach Rom zurückgekehrt;
aber in seiner Abwesenheit hat Delia den Lockungen Anderer
Gehör gegeben. Wenn sie gleich auch jetzt dem alten Liebhaber
Zutritt gönnt und in einer Krankheit sich seine Pflege gefallen
lässt, so ist sie doch nicht mehr die Frühere: sie hört auf eine
Kupplerin, welche ihr von einem reichen Liebhaber vorschwatzt
und sie dem Dichter entfremdet. Anfangs trotzig auch sie seiner-
seits aufgebend fühlt dieser doch bald wie tief er mit ihr ver-
wachsen ist, und sucht sie durch Erinnerung an das was er für
sie gethan, durch reizende Ausmalung des Glückes das er ihr
zugedacht gehabt habe, und Darlegung der Innigkeit womit er
noch immer an ihr hänge, wieder für sich zu gewinnen. Die
Verführerin verwünscht er und sucht ihr gegenüber zu zeigen
dass ein armer Liebhaber den Vorzug verdiene vor einem reichen,
freilich ohne sich davon grossen Erfolg zu versprechen. Durch
die Manchfaltigkeit und den lebendigen Wechsel der Stimmungen,
sowie die farbenreiche Ausführung jeder einzelnen ist auch diese
Elegie ausgezeichnet (vgl. Gruppe S. 173 — 177).
Gedichte. Buch I (Delia). 363
Iq der vierten Elegie dieses Cyklus (I, 2) finden wir den
reichen Liebhaber der vorigen nunmehr als Gemahl von Delia.
Es ist ein ehemaliger Soldat, der sich im Kriege ein Vermögen
erworben hat, auf demselben Wege es zu vermehren beabsichtigt,
und welcher einer Frau bedarf damit in seiner Abwesenheit sein
Eigenthum gehütet sei. Aeusserlich wie das Verhältniss bleibt
bildet es für Delia keine Schranke das zu ihrem alten Geliebten
nach kurzer Unterbrechung wieder aufzunehmen. In ausgedehn-
terem Masse könnte dieses Statt finden nachdem ihr Gemahl wirk-
lich sich wieder in den Krieg begeben hat: aber er hat ihr
strenge Wächter gesetzt. Gegen diese unerwartete Schranke
rennt der Dichter in dieser Elegie an, indem er Delia zu be-
stimmen sucht dieselbe mit List zu umgehen, ein Thema bei
welchem wir uns — um nicht an unserem Dichter irre zu werden
— vergegenwärtigen müssen dass für den Römer die Ehe zunächst
nur ein Rechtsverhältniss war, und dass in der damaligen Zeit
des Sittenverfalls der ohnehin schon im Charakter der südeuro-
päischen Völker liegende Hang, das Bestehen eines solchen Ver-
hältnisses nicht als Hemmniss für die sinnliche Neigung zu be-
trachten, in hohem Grade genährt und gesteigert worden war.
Als Ausgangspunkt bei dem Gedichte ist ein Gelage angenommen,
bei welchem der Dichter sein Liebesweh in beredten Worten
und namentlich mit der rhetorischen Figur einer Anrede an
die Thüre darstellt; doch wird diese Einkleidung keineswegs
streng festgehalten, sondern in die Situation welche die Ent-
wicklung der Gedanken und Empfindungen mit sich bringt so
lebhaft eingegangen dass die Elegie dadurch ganz dramatisch
wird und die ursprüngliche Einkleidung dabei aus dem Gesicht
entschwindet.
Die Rathschläge von I, 2 blieben nicht fruchtlos: aus der
fünften dieser Elegieen (I, 6) erfahren wir dass der alte Lieb-
haber nicht nur Zutritt erhalten hat sondern dass das Verhältniss
auch dann noch fortgesetzt wurde als der Gemaiil wieder zurück-
gekehrt war. Der Dichter spielte da den Hausfreund, den cavaliere
servente, den cicisbeo, und wusste sich mit dem Manne auf einen
leidlichen Fuss zu setzen. Aber einmal von der Bahn der Pflicht
abgewichen scheint Delia immer tiefer in Leichtsinn gerathen zu
sein: neben dem alten nimmt sie nun auch neue Liebhaber an.
Diese Entdeckung macht des Dichters Zorn und Eifersucht auf-
flammen : er identificiert jetzt sein Interesse mit dem des Gatten,
364 TibiilluB.
will sich mit ihm in die Hut der Treulosen theilen, deckt ihm
alle die Schliche auf welche er selbst in Anwendung gebracht,
und sucht belia durch Drohungen die auf ihren Aberglauben be-
rechnet sind wieder zu sich zurückzuführen, aber, wie es scheint,
vergebens, da diese Elegie die letzte ist welche von Delia
handelt. Das bisherige Verhältniss zu dieser wird erst jetzt vollends
ganz klar ; insbesondere tritt nunmehr in den Vordergrund Delia's
alte Mutter, welche eine warme Freundin und Beschützerin des
Dichters ist und zum geheimen Verkehre mit ihrer Tochter ihm
hülfreiche Hand gereicht hat. Motiv und Situation dieser letzten
Elegie ist dem der vorigen entgegengesetzt: die Schleichwege
werden dort Delia angegeben, hier dem Manne verrathen; dort
verbindet sich der Dichter mit Delia um gegen deren Mann zu
operieren, hier mit dem Manne um gegen Delia ins Feld zu
rücken. Die Ausführung ist wieder von hoher Vorzüglichkeit,
voll der anziehendsten und anschaulichsten Darstellungen. Der
Gang ist sehr kunstreich: die manchfaltigsten Windungen des
Weges führen doch immer zu dem gleichen Ziele , an dessen Er-
reichung dem Dichter besonders viel gelegen ist (s. v. 23 und
37; 55 und 67; 75. 85). In Bezug auf den Ton aber besteht
ein auffallender Unterschied zwischen den drei ersten Elegieen,
in welchen Delia noch frei steht und ungehemmt über sich ver-
fügen kann, und den beiden letzten, in welchen sie die Frau
eines Andern ist. In jenen warm, gemütlich und herzlich, wird
er in diesen leidenschaftlich, bald ungeduldig bald bitter, und
dabei schimmert, namentlich durch eine gewisse Ueberspannung
des Eifers, der Mangel einer tieferen innerlichen Grundlage hin-
durch. Man glaubt dem Dichter anzufühlen dass er selbst die
Schiefheit seines jetzigen Verhältnisses zu Delia von Weitem
empfindet, daher nicht mehr mit ungetheilter Seele und voller
Unbefangenheit bei der Sache ist, und um so mehr nun sich
künstlich steigert, um sich und Anderen den Mangel wirklichen
Ernstes zu verdecken. Aber die Verschrobenheit der Situationen
in die er allmählich hineingeräth ist von der Art dass man an
des Dichters Geschmacke wie an seinem sittlichen Tacte ver-
zweifeln müsste wenn er dieselben in ungemindertem Ernste zu
behandeln vermocht hätte, und nur der Anflug von Humor, der
oft ganz unverkennbar ist (z. B. I, 6, 41 f.), mit dec Frivolität
des Gegenstandes versöhnt. Mit diesem Sachverhältniss hängt es
wohl auch zusammen dass Messala s Name nur in den drei ersten
Gedichte. Buch I u. IV. 365
Elegieen geDaunt ist: mit den zwei letzten und ihrem verfäng-
lichen und anrüchigen Inhalte ist er nicht in Berührung gebracht.
Andererseits glauben wir in dem Umstände dass das Verhältniss zu
Delia einen so wenig dramatischen Ausgang nimmt und eigent-
lich in den Sand verrinnt einen Beweis zu erblicken dass dieser
Roman keine freie Dichtung ist, sondern in seinen Grundzügen
wenigstens Erlebtes darstellt. Aber denselben mit den Auslegern
ins J. 723 zu setzen hindert uns nicht nur die hohe Kunst-
voUendung dieser Gedichte sondern auch die Erwägung dass dann
gerade für die reiferen Jahre unseres Dichters, die letzten zehn
seines Lebens, viel zu wenig übrig bliebe. In diese Periode ver-
legen wir ferner
6. die Sulpiciaelegieen (IV, 2 ff.), und zwar in die
Zeit nachdem das Verhältniss zu Delia gelöst und ein neues
(Glycera, Nemesis) noch nicht wieder begonnen war. Denn der
Dichter verräth in diesen Elegieen einerseits ein tiefes Verständ-
niss des weiblichen Herzens, auf der andern Seite aber ist er
selber frei genug von Leidenschaft um ein derartiges Verhältniss
eines Andern mit künstlerischer Objectivität darzustellen. Diese
Elegieen haben nämlich zu ihrem Gegenstande die Liebe zwischen
Sulpicia und Cerinthus. Sulpicia ist eine junge, schöne und
hochgebildete Römerin aus edlem Hause, dem altpatricischen
Geschlechte der Sulpicii, vielleicht die Tochter desjenigen Servius
(Sulpicius) welcher von Horaz (Sat. I, 10, 86) als Angehöriger
seines Freundekreises aufgeführt wird und der vielleicht selbst
wiederum identisch ist mit dem Ser. Sulpicius welchen der jüngere
Plinius (Ep. V, 3, 5. vgl. Ovid Trist. H, 441) als Verfasser las-
civer Gedichte erwähnt. Wenigstens würde uns letzterer Umstand
den freien Ton und das ganze emancipierte Gebaren der Tochter
erklärlich machen. Dem Kreise des Messala gehörte Letztere
jedenfalls an; doch ist sie schwerlich die von Messala in Ge-
dichten besungene puella (Virgil. Catal. 11, 23). Sulpicia liebt
den schönen Cerinthus. Wäre dieser Name der wirkliche, so
würde er beweisen dass der Betreffende ein Grieche war. Der
Name kommt auch in einer räthselhaften Stelle des Horaz (Sat.
I, 2, 81) vor. Indessen bei TibuU eleg. II, 2 und 3 haben die
Handschriften Cornute, und Gornutus war daher, wie es scheint,
der wahre Name von Sulpicia's Geliebtem. In den Kreis des
Messala scheint dieser erst durch Sulpicia gekommen zu sein ; sonst
würde sich der Conflict in IV, 8 sehr einfach gelöst haben. Dessbalb
366 TibuUuB.
finden wir ibn auch ?on unserm Dichter selbst erst in den
Elegieen des zweiten Buches angeredet (II» 2 und 3), was zugleich
eine Bestätigung unserer Datierung der Gedichte des vierten Buchs
ist. Cerinthus war nach TibuH nicht hohen Standes, um so ge-
wisser also wohl von hoher Schönheit und durch geistige Bildung
der Sulpicia ebenbürtig. Die Standesverschiedenheit war wohl
der Grund warum das Verhftltniss von Sulpicia's Eltern lange Zeit
nicht geduldet wurde und daher ein geheimes blieb. Aber in
der Glut ihrer Leidenschaft setzt sie sich über alle Schranken
hinweg. Sie ist es welche dem schüchternen Geliebten entgegen-
kommt, wie überhaupt eine kräftige Sinnlichkeit sie charakterisiert
So erscheint sie insbesondere in den Elegieen deren Verfasserin
sie selbst ist. Gruppe hat nämlich (S. 47 ff.) zuerst mit Evidenz
nachgewiesen dass die Sulpiciaelegieen in zwei Reihen zerfallen,
IV, 2 — 7 und 8 — 12, von welchen jede ein in sich abgeschlos-
senes Ganzes bildet, die zweite wirkliche Briefe von Sulpicia selbst
enthält, welche den Gedichten des TibuU (IV, 2 — 7) gleichsam
als Thema gedient haben , über welches er nun seine Variationen
abspielt. Gegen die Urheberschaft von Sulpicia lässt sich Nichts
einwenden, wohl aber wird diese Annahme begünstigt durch die
Ueberschrift Sulpicia welche eine vorzügliche Handschrift (F von
Lachmann) vor der achten Elegie bat, ferner dadurch dass Sulpicia
als docta puella bezeichnet wird, endlich durch gewisse Eigen-
thümlicbkeiten der Sprache in diesen Elegieen, durch welche sie
sich ebenso von den tibuUischen Gedichten unterscheiden als die-
selben zu der Voraussetzung einer weiblichen Verfasserin stimmen.
Dahin gehört zuerst die Häufigkeit von Flickwörtern, insbesondere
iam, das nur in IV, 11 fehlt, sodann eine gewisse Unsicherheit,
Ungewandtheit und Verschwommenheit des Ausdrucks, ein Mangel
an Schärfe und Klarheit des Gedankens oder der Darstellung,
dergleichen ist propinque (8, 6), die Auslassung von me (8, 8),
die Wendung iter ex animo sublatum (9 , 1) , nee opinanti (9, 4),
die Unbestimmtheit des de me permiltis (10, 1), das Fehleu
einer festen Ausprägung des logischen Verhältnisses von Satz-
theilen (10, 3 ff.), die Undeuüichkeit von 10, 5 f., der Plural
mea corpora 11, 2 (anders als bei Tibull I, 9, 73. 8, 52), die
knäuelartig verwickelten Verse 12, 1 ff. Fasst man Alles dieses
zusammen, so kann man Gruppe nicht Unrecht geben wenn er
von einem weiblichen Latein dieser Briefchen spricht; nur dass
der Charakter der Weiblichkeit überhaupt in der ganzen Denk-
Gedichte. . Buch IV (Sulpicia). dffJ
und Sprechweise sich kundgibt.^) Ihrer sonstigen Beschaffenheit
nach verrathen diese Elegieen entschiedene Nachahmung der Art
des TibuU und bieten ein nicht gewöhnliches literarhistorisches
und psychologisches Interesse. Die erste derselben (IV, 8) ist
an Messala gerichtet und bittet in sehr lebhaftem Tone um Dis-
pensation von der Beise aufs Land , wegen der Nähe von Gerinthus'
Geburtstag. Die zweite (IV, 9) gibt dem Geliebten Nachricht
dass sie nun seinen Geburtstag in Bom feiern dürfe. IV, 10
ist ein eventueller Absagebrief an Cerinthus, von glühender Eifer-
sucht und altrömischem Stolze eingegeben, aber, wie es scheint,
auf einem Missverständniss beruhend, das sich bald aufhellte.
Denn im vierten Briefchen (IV, 11) finden wir die Liebenden
völlig ausgesöhnt: Sulpicia ist krank und fragt ihren Cerinlhus mit
ängstlicher Dringlichkeit ob er sie auch liebe und ihre Genesung
wünsche, — ein Stück von grosser Wärme und Lieblichkeit,
jedoch von Gruppe S. Ö3 f. gar zu überschwänglich gepriesen.
Im letzten dieser kleinen Briefe (IV, 12) bittet Sulpicia den Ge-
liebten um Verzeihung dass sie ihn bei einer heimlichen Zusam-
menkunft blöder Weise im Stich gelassen habe, — bezeichnend
genug für die glühende Empflndungsweise der Verfasserin.
Dieser Beihe von wirklichea Briefen stehen dann also gegen-
über die Elegieen IV, 2 — 7, in welchen jener Briefwechsel zu
einem freien Kunstwerk ausgeführt ist. In beiden Beihen sind
dieselben Personen und Charaktere: der schüchterne Cerinthus und
die leidenschaftliche Sulpicia, wie auch die Schaar der Freier
um sie her (4, 20 vgl. 10, 5). Auch derselbe Verlauf wieder-
holt sich auf beiden Seiten: hier wie dort ein Liebesverhältniss
von steigender Wärme und Offenheit, hier wie dort Cerinthus'
Geburtstag und Sulpicia's Krankheit. In IV, 7, 7 f. ist noch
überdiess eine Art von Anspielung auf jenen Briefwechsel und
dessen ^Oeffentlichkeit, als sollte damit erklärt werden dass der
Dichter von demselben Kenntniss erhalten hat. In dieser zweiten
Beihe von Elegieen hat die erste (IV, 2) einen einleitenden
Charakter: es spricht darin der Dichter und bringt die Heldin
des folgenden Bomans zur Anschauung , indessen noch ohne directe
Beziehung auf ein derartiges Verhältniss. Aber eine — wenn
*] Lachmann (in der Recension von Bissen, S. 254): „wir finden
diese Gedichte wahr und glühend gefühlt, aber ohne Poesie im Ein-
zelnen, ohne Stil, ungeschickt und hart in den Fügungen: mit einem
Worte, es sind die eigenen Gedichte von Sulpicia/'
868 TibuUus.
auch nur verineinüiche — Gefahr von Cerinthus, auf einer Jagd,
deckt ihre ganze Glut auf (IV, 3), und eine Krankheit von Sul-
picia giht ebenso dem Cerinthus Anlass sein Interesse für sie an
den Tag zu legen (IV, 4). Was eben im Widerschein der Gefahr
sichtbar wurde, das tritt in den beiden folgenden Elegieen in
milderer Beleuchtung zu Tage, mittelst einer frohen Feier; und
zwar ist es, nach dem gleichen Parallelismus und in derselben
Ordnung wie in den beiden vorausgegangenen, zuerst (IV, 5)
Cerinthus* und dann (IV, 6) Sulpicia's Geburtstag was den Gegen-
stand bildet und dazu dient Sulpicia's Empfindungen darzustellen.
Von IV, 6 gehen dann zwei Wege aus: der eine von v. 11 f.,
sofern hienach die letzte leihliche Vereinigung der Liebenden,
wie sie IV, 7 andeutet, sich als nahe bevorstehend voraussehen
lässt; der andere Weg nimmt vom Schlüsse (v. 19 f.) seinen
Ausgangspunkt, indem dort auf die Legalisierung des Verhält-
nisses und das nächste Jahr hinausgeblickt wird. In beiden Be-
ziehungen schliesst sich hieran II, 2 unmittelbar an, in welcher
wir den Widerstand der Eltern gebrochen, Sulpicia und (jetzt
mit seinem wahren Namen) Cornutus als Neuvermählte treffen,
gemeinsam des Letzteren Geburtstag begehend. Neben dieser
sachlichen und ästhetischen Nothwendigkeit gebietet aber auch
eine ethische das letztgenannte Gedicht (II, 2) an den bisherigen
Cyklus anzureihen: eine so rückhaltslose Hingabe wie IV, 7 sie
voraussetzt erfordert, um nicht unsittlich zu sein, zum Mindesten
die nachträgliche Sanction des thatsächlich geschlossenen Bundes
durch die bürgerliche und religiöse Weihe, und diese ist in II, 2
eingetreten. Dass dieses Gedicht, trotz seiner nachgewiesenen
Unentbehrlichkeit im Zusammenhange der Elegieen des vierten
Buchs, doch in das zweite eingereiht wurde mochte theils durch
den Anfang von II , 3 (wo gleichfalls Cornutus angeredet ist) ver-
anlasst sein, theils bestimmte den Sammler dazu die scheinbare
Verschiedenheit des beiderseitigen Namens (Cerinthus und Cornutus)
und dass II, 2 ein legales Verhältniss behandelt, die Elegieen des
vierten Buchs aber ein geheimes und von Sulpicia's Eltern noch
bekämpftes, und dass letztere nach dem Briefwechsel von Sulpicia
gearbeitet und wohl mit einander entstanden sind, II, 2 aber ein
etwas später durch das künstlerische Bedürfniss liinzugedichteter
Abschluss ist. Uebrigens passt diese Elegie auch schon nach
ihrem äusseren Umfange nur zu denen des vierten, nicht unter
die des zweiten Buchs, und ist an letztererstelle uberdiess sachlich
Gedichte. Buch IV. 369
störend, sofern sie den Zusammenhang zwischen fl, 1 und II, 3
unterbricht (vgl. Gruppe S. 68. 75 f.). Die des vierten aber
haben mit II, 2 eine innere Abgeschlossenheit und Abrundung
welche ihrer sachlichen Grundlage, den Briefchen der Sulpicia,
abgeht, und sind auch damit gegenüber von diesen Erzeugnissen
der Gelegenheit als ein Kunstwerk bezeichnet. Andererseits ist
^iese Entstehungsweise, aus einem gegebenen Thema und Muster-
bilde, wohl zugleich eine Erklärung der verhäitnissmässigen Ein-
förmigkeit der Situationen und Wendungen in diesen Elegieen.
Ausserdem aber sind sie ganz und gar in TibulFs Art, nach
Sprache und Anlage; namentlich haben IV, 4 und 6 ganz die-
selbe Gliederung wie I, 10 und 1. Wahrscheinlich hatte der
Verfasser der vita diese Elegieen des vierten Buchs im Auge
wenn er von kurzen Liebesbriefen spricht welche Tibull verfasst
habe (epistolae eius amatoriae, quamquam breves).
7. Endlich gehören in diese Kunstperiode unseres Dichters
noch Elcg. IV, 13 und 14. So viel ist allgemein zugegeben,
sowohl von denen welche sie auf das Verhältnlss zu Glycera
beziehen als den Bestreitern dieser Ansicht. Letztere (wie Fr.
Passow und Dielerich, de Tib. amorr. p. 61 — 63) nehmen einen
Bezug auf Delia an und dass dieselben bestimmt gewesen seien
ein neues Buch anzufangen — weil die des ersten in sich ab-
geschlossen waren — , aber nicht mehr vollendet wurden; und
da sie ebenso wenig zu denen des zweiten Buchs stimmten, so
habe der Herausgeber der tibullischen Gedichte sie denen des
vierten zugewiesen, mit denen sie auch im äusseren Umfange
Aehnlichkeit haben. ^j Indessen ist psychologisch unmöglich dass
IV, 13 sich an I, 6 anschliesse und beide derselben Person gelten.
I, 6 lässt das Abbrechen des Verhältnisses zu Delia mit Bestimmt-
heit voraussehen, und in IV, 13 ist Nichts enthalten was eine
Wiederanknupfung andeutete. Wurden sich die Gedichte auf
Delia beziehen so mussten sie vielmehr aus der ersten Zeit dieses
Verhältnisses sein, IV, 13 etwa gleichzeitig mit I, 1 und ein
freier lyrischer Erguss, selbständig neben dem kunstvoll ausge-
arbeiteten Cyklus hergehend und daher nicht in ihn aufgenommen ;
das zweite (IV, 14) ein epigrammatischer Seufzer aus der Zeit
zwischen I, 3 und I, 5, in des Dichters hinterlassenen Papieren
*) „Es scheint der Sammler setzte sie ans Ende, weil er sie nicht
unterzubringen wusste oder weil er bestimmteren Deutungen vorbeugen
wollte.'* Lachmann, Haller A. L. Z. 1836. Juni S. 255.
Tenffel, Studien. 24
370 TibuUus.
gefunden und der Aufnahme in die Sammlung seiner Gedichte
för würdig erachtet. Bei der Beziehung auf Glycera fallen diese
Elegieen in die Mitte zwischen die auf Delia und die von Nemesis
handelnden, da jene nach Ovid (s. oben S. 348 f.) des Dichters
erste Liebe war, diese aber (vgl. Amor. lü, 9, 58) seine letzte.
Zu dieser Datierung aus der Meisterperiode unseres Dichters
stimmt auch vollkommen die innere Beschaffenheit. IV, 13 ist
von ergreifender Innigkeit und Zartheit, wie kaum ein zweites
Erzeugniss der römischen Literatur, der Gedankengang und Aus-
druck ebenso einfach und wahr als lebendig; jeder neue Vers
bringt einen Fortschritt des Gedankens, der sich in der grössten
Klarheit vorwärts bewegt. Den Inhalt bildet das Gelöbniss un-
wandelbarer Liebe und Treue, selbst wenn dieses Gelöbniss die
Geliebte veranlassen sollte gegen ihn um so grausamer zu sein.
IV, 14 ist dazu das Gegenstück, die Klage dass die Geliebte
ihrerseits die Treue nicht bewahre, worauf von ferne schon in
IV, 13, 5 f. hingedeutet war. Dieser Zusammenhang mit der
vorigen macht wahrscheinlich dass auch hier der Dichter die Ab-
sicht hatte einen ganzen Cyklus von Elegieen auszuarbeiten, aber
diese Absicht — etwa in Folge der zeitigen Auflösung des Ver-
hältnisses — nicht ausführte.
8. Die Elegieen des zweiten Buchs, mit Ausnahme der
zweiten, beziehen sich alle auf das Verhältniss des Dichters zu
Nemesis (s. oben S. 348 ff.), die aber in dem ersten und
einleitenden Gedichte dieser Reihe (II, 1) noch nicht mit Namen
genannt ist. Der Dichter hat bei seiner Geliebten vorzugs-
weise mit ihrer Habgier zu kämpfen, vermöge deren sie einen
reichen Freigelassenen bevorzugt und mit diesem auf seine
Güter geht. Diese Erfahrung veranlasst den Dichter zu einer
Verwünschung des Landlebens (II, 3), welche freilich so wenig
ernsthaft gemeint ist dass auch in diesem Buche wieder das Land-
leben dem Tibuli die schönsten und wärmsten Züge leiht (bes.
in II, 1). Ueberhaupt hat das ganze Buch vielfach eine launige^
humoristische Färbung, und nimmt so ziemlich den Ton wieder
auf mit welchem das Verhältniss zu Delia geendet hat (in I, 2
und 6), nur leidenschaftsloser, freier und heiterer: den Ton des
reiferen Mannes, der in diesen Interessen nicht mit seinem ganzen
Selbst untergeht. Uebrigens fehlt diesen Nemesis -Elegieen die
letzte Feile. Bei II, 3 und 5 fällt diess schon bei oberflächlicher
Betrachtung in die Augen: beide bestehen aus Bausteinen zu
Gedichte. Buch Tl. 371
einem Gedichte, zum Theil schon für sich behauen, aber noch
nicht ineinandergefügt; die einzelnen Bestandtheile stehen noch
nicht im richtigen Verhältniss zu einander, haben auch noch
manche Unebenheiten, und die Uebergänge fehlen noch. Von
11, 5 hat Gruppe diesen Sachverhalt besonders ausfuhrlich nach-
gewiesen (S. 76 — 95). Es ist ein Gelegenheitsgedicht, verfasst
als Messala's Sohn, Messalinus, die Würde eines Quindecemvir
sacrorum erlangte, als welcher er es besonders mit den sibyl-
linischen Buchern zu thun hatte. Da nun über die Person des
jungen Priesters selbst und dessen Amt an sich wenig zu sagen
war, so machte der Dichter den Orakelgott Apollo und die Sibylle,
sammt deren Weissagungen, besonders über Borns künftige Grösse,
zu seinem Hauptgegenstand, und gewann dadurch einen ebenso
bedeutsamen als nationalen Inhalt. Die Ausführung ist freilich
von der Vollendung noch sehr weit entfernt. Da aber doch ein
bestimmter Anlass, etwa ein Familienfest bei Messala zur Feier
der Beförderung seines Sohnes, vorgelegen sein muss, so ist
wahrscheinlich dass der Dichter, ehe er das hiefür bestimmte
Gedicht fertig hatte, erkrankte und starb, was aber den Heraus-
geber seiner nachgelassenen Gedichte nicht abhielt auch dieses,
in der Gestalt wie er es vorfand, in seine Sammlung aufzunehmen.
Wir haben also an dieser Elegie ohne Zweifel die letzte Arbeit
Tibuirs, also aus der zweiten Hälfte des J. 735 d. St. Neben
ihr muss H, 3 wegen ihrer Unfertigkeit (vgl. Gruppe S. 95 — 99)
zu den spätesten Gedichten gehören: sie enthält gleichfalls eine
grosse Manchfaltigkeit von Gedanken und Wendungen, und vieles
glückliche Detail ; aber die Lückenhaftigkeit und Zusammenhangs-
losigkeit ist hier wo möglich noch grösser als in H, 5, in welcher
doch äusserlich keine Löcher wahrzunehmen sind. Vollendeter
sind El. H, 4 und 6; doch ist zur Ehre unseres Dichters anzu-
nehmen dass er die hässliche Geschmacklosigkeit am Schlüsse
der vierten noch getilgt haben würde ehe er das Gedicht ver-
öffentlicht hätte. Am nächsten steht der Vollendung die erste
mit ihrer lebendigen Schilderung des Landlebens, ausgehend von
der Feier des Ambarvalienfestes, und in ihrer Anlage, nament-
lich der Aneinanderreihung von Landleben, Messala und Liebe,
der ersten des ersten Buchs vielfach ähnlich. Dass die einzelnen
Elegieen sich zu einem Ganzen zusammenzuschliessen bestimmt
waren ist auch bei ihrer jetzigen unvollendeten Gestalt erkennbar :
an die begeisterte Darstellung des Landlebens iq H, i schliesst
24 •
372 Tibullus.
sich als Contrast II, 3 die scherzhafte Verwünschung desselben
an, und der Entschluss mit welchem II, 3 endet, bei Nemesis
Sklave zu werden, wird im Anfange von II, 4 aufgenommen und
weitergeführt. Gemeinsam ist diesem Buch auch die briefartige
Haltung, vielleicht durch den Einfluss der Episteln des Horaz
veranlasst: alle diese Elegieen sind an Einzelne gerichtet und
ketten die persönlichen Erlebnisse und Empfindungen an die eines
Andern. SoII^ 1 an Messala, II, 2 u. 3 an Cornulus, II, 5 hat Mes-
salinus zum unmittelbaren Gegenstand, und II, 6 redet seinen
Freund Aemilius Macer an. Nur II, 4 macht hievon eine Aus-
nahme, wiewohl auch sie eigentlich an Nemesis gerichtet ist.
Bemerkenswerth ist ferner wie auch diese unvollendeten Elegieen,
gleich den Gedichten aus den früheren Jahren des TibuU, den
Beweis führen dass unser Dichter alexandrinische Neigungen und
Schulmanieren in sich zu bekämpfen und zu überwinden hatte
um zur reinen und getreuen Darstellung seiner Eigenthümlichkeit
zu gelangen : auch diese Gedichte haben einen Hang in mythische
Zeiten zurückzugehen (1, 37 ff. 67 ff. 3, 11 ff. 69 ff. 4, 55 ff.
und 5 ganz) und sich auf einzelne abstracte Gedanken zu werfen,
die dann mit unverhältnissmassiger Rhetorik ausgeführt werden,
wie die Lobrede auf rus und agricola 1, 37 ff., die Ausführung
über die Wirkungen des Geldes 3, 36 ff. und die Macht der
Hoffnung 6, 21 ff. Ebenso erinnert II, 5 durch die ganze Art
der Behandlung des Themas und die Sprödigkeit der Theile gegen
einander an El. I, 7. Auch hier also finden wir die Wahr-
nehmung bestäligt dass es sich der Dichter treuen Fleiss und
unverdrossene Feile hat kosten lassen um seine Gedichte auf die
Stufe der Vollkommenheit zu bringen die wir in den von Sulpicia
und Delia handelnden Elegieen gewahren.
9. Nachdem wir die künstlerische Thätigkeit des Tibull bis
zu seinem Tode fortgeführt haben bleibt uns noch übrig auch
denjenigen Theil der auf uns gekommenen Gedichtsammlung in
Betracht zu ziehen welcher Elegieen enthält die nicht von Tibull
herrühren. Diess sind (ausser den schon besprochenen IV, 8 — 12)
die im dritten Buche vereinigten. Von den sechs Elegieen
dieses Buchs haben fünf das Verhältniss zwischen Lygdamus und
Neära zu ihrem Gegenstande. Lygdamus erscheint als ein
Römer (s. 1, 2) von gutem Hause (6, 60), welcher mit Neära,
wie es scheint hauptsächlich auf Betreiben von deren Eltern
(vgl. 2, 13. 4, 93), verlobt gewesen war, aber mit seiner warmen
Gedichte. Buch III (Lygdamus). 373
Liebe keine Erwiderung gefunden hatte, indem ihm bei Neära
eine romantische Neigung zu einem Manne von niedrigerer Stel-
lung (6, 60) im Wege stand (vgl. 4, 58 — 60). In Folge dessen
hatte sich die Verbindung mit Lygdamus wieder gelöst (1, 23
vgl. 2, 4. 30), und dieser sucht nun durch ruhrende Gedichte
und Betheuerung seiner fortwährenden Liebe das Herz seiner
ehemaligen Verlobten zu gewinnen, um eine Wiederherstellung
des alten Bundes (reditus 3, 35 vgl. 27) zu bewirken. Dass dieser
über das Verlöbniss noch nicht hinausgediehen war erhellt daraus
dass von der Ehe als einer erst zu schliessenden, nicht aber zu
erneuernden, die Rede ist (vgl. 1, 6 und 26 ff. 3, 7 ff. und 31 f.)
und die Ausdrucke vir, coniux und nupta, welche von dem bis-
herigen Verhältnisse wiederholt gebraucht werden (1, 23. 2, 30),
beweisen hiegegen Nichts, da diese, insbesondere bei den Ele-
gikern, unzählige Male auch von den lockersten sexuellen Ver-
bindungen in Anwendung gebracht werden; für diese Elegieen
geht es überdiess daraus hervor dass 2, 4 coniux ganz offenbar
als Wechselbegriff für das 2, 1 gesetzt gewesene puella gebraucht
ist (vgl. 4, 58), sowie 4, 31 maritus vom Bräutigam, und v. 52
vir vom Liebhaber, abgesehen davon dass 1, 23 vir quondam
ebenso gut auf die Zukunft gehen kann (s. Heindorf zu Hör. Sat.
II, 2, 82) wie auf die Vergangenheit. Die erste dieser Elegieen
nun (HI, 1) hat einen ähnlichen Ausgangspunkt wie IV, 2: sie
dient den andern als Einleitung und Vorwort. Der Dichter über-
reicht seiner Neära als Neujahrsgeschenk (zum ersten März) seine
Gedichte an sie (HI, 1—4) in eleganter Ausstattung und trägt
dabei sein Anliegen vor. In der Elegie nimmt die Beschreibung
der äusseren Ausstattung des Buchleins einen grossen Raum ein,
und dass diese Buchbindersvorkehrungen den Musen in den Mund
gelegt sind ist nicht eben ein glücklicher Gedanke. Wenn Ovid
in der Dedication seiner Tristia an August eine ähnliche Be-
schreibung der Aussenseite seines Buches gibt, so hat diese dort
ihren vollkommen passenden Platz, indem dieselbe als ein Abbild
der Stimmung des Verfassers dargestellt ist, eine Parallelisierung
welche der Dichter nach seiner Weise bis ins Kleinliche und
Spielende hinein verfolgt (vgl. W. Herlzberg, Hall. Jahrbb. 1839.
I. S. 1018). Bei unserem Verfasser aber ist von einer solchen
geistigen Deutung keine Rede, und dieses Aeusserliche bleibt so
sehr Selbstzweck dass v. 18 sogar den Musen, als ob sie nasse
oder schmutzige Hände hätten , anempfohlen wird dafür zu sorgen
374 TibuUuB.
dass die Farbe an der Aussenseite nicht verwischt werde. Diess
zu verhüten beschwört der Verfasser die Musen gar bei dein
kastalischen Lorbeerhain und den pierischen Seen. Die zweite
Elegie (III, 2) spricht aus dass der Verfasser die Trennung von
seiner Neära nicht überleben werde und trifft desshalb Verfügungen
wie es mit seiner Bestattung gehalten werden solle. Die Motive
sind sämmtlich aus Tibull entlehnt: der Anfang aus dem von
I, 10, aber so dass dessen Lebhaftigkeit bedeutend abgeschwächt
ist nicht blos durch den nüchternen Relativsatz sondern auch
durch das Herabstimmen des ferreus ille fuit zu einem matten
durus et ille fuit. Sodann die Situation dass die Geliebte am
Grabe des Dichters weint ist aus I, 1, 62 ff., und ebenso un-
passend angebracht als ausgeführt. Bei Tibull ist die Vorstellung
berechtigt und von grosser Wirkung: denn dort herrscht zwischen
dem Dichter und Delia vollkommenes Einverständnisse ihre Liebe
ist eine gegenseitige und eben jetzt in schönster Blüte. Dagegen
Neära verschmäht den Lygdamus, der sie mit seiner Liebe ver-
folgt, und es ist daher von diesem eine sonderbare Voraussetzung
dass sie bei seinem Tode so gar untröstlich sein werde, noch
wunderlicher aber die Zumutung selbst auf sein Grabmal schreiben
zu lassen dass sie an seinem Tode Schuld gewesen sei (v. 29 f.),
mit welcher Grabschrift abermals eine tibuUische Stelle (I, 3, 55 f.]
zur Unzeit nachgeahmt ist. Ausserdem sind die Leichenfeierlich-
keiten, welche Tibull (1, 3, 6 ff.) nur kurz andeutet, weise ver-
theilt und vollständig beseelt, hier wiederum zu einer selbstän-
digen, umständlichen Beschreibung ausgeführt, in welcher sogar
das Waschen der Hände und die Sorte von Leinwand welche zum
Abtrocknen der Gebeine genommen werden soll für Neära und
ihre Mutter vorgeschrieben sind, sowie das Zugiessen von Oel und
— Thränen bestellt wird. Die dritte Elegie (IH, 3) behandelt
den Gedanken: nicht Reichthum wünsche ich mir, sondern deine
Liebe; ohne dich hat Alles, auch das Leben, keinen Werlh für
mich. Mit Recht sagt Voss von dem Gedicht es sei ein ewiges
Rundum auf einem zertretenen Gemeinplatz, wobei einem der
Kopf tummlig werde. In der Weise der unvollkommensten Crst-
lingsarbeiten von Tibull ist ein abstracter Gedanke rein quantitativ
ausgeführt, durch eine Reihe von Beispielen, in der eintönigsten
Form (v. 1. 11. 13. 17), und mit zahlreichen Wiederholungen,
Ungeschicklichkeiten und Geschmacklosigkeiten (z. B. v. 14. 22.
23. 25. 26. 29 f. 34. 36). Um nicht Vieles weniger schülerhaft
Gedichte. Buch III (Lygdamus). 375
ist die vierte Elegie (III, 4), worin gleichralls mit äusserster
Breite berichtet ist dass dem Verfasser Apollo im Traume er-
schienen sei und gesagt habe Neära wolle ihn nicht, doch solle
er darum noch nicht alle Hoffnung aufgeben und sich aufs Bitten
legen. Dieser sehr magere Inhalt ist in 48 Disticha ausgesponnen,
indem zuerst — in Nachahmung von TibulFs Gewohnheit, aber
sehr ohne seinen Geist — den Empfindungen über den Traum
Worte gegeben, sowie die Bedeutung der Träume überhaupt er-
örtert wird (v. 1 — 16), und dann erst, abermals unter langen
Vorbereitungen, der Traum erzählt wird: nach einer schlaflosen
Nacht erschien mir gegen Morgen .(v. 17 — 22J Apollo (v. 23 --41)
und sprach (v. 42 — 80); ich kann aber nicht glauben und hoffe
und wünsche nicht dass seine Mittheilung richtig sei (81 — 96).
Auch im Einzelnen ist Vieles unbeholfen, geschraubt und unpas-
send (v. 3. 9. 11 f. 17 f. 26. 36. 39 f. 41. 45 f. 50. 59 f. 68.
71. 77.84. 85 ff. 87), die Erfindung selbst aber eine sehr wohl-
feile und mit wenig Geschick durchgeführte (z. B. v. 61 f. im
Munde des Apollo). Als gelungen ist nur etwa das Bild v. 33
hervorzuheben. Neära Hess sich aber durch das Gewinsel dieser
Elegieen nicht erweichen , und beharrte ebenso in ihrer Zuneigung
zu dem ignotus vir als in ihrem Entschlüsse das Verhältniss zu
dem Verfasser dieser Elegieen nicht wieder aufzunehmen. Dieses
Ergebniss hat das fünfte Gedicht dieser Reihe (III, 6) zur Vor-
aussetzung. Die Situation desselben ist — in Nachahmung von
Tibull (I; 2) — ein Gelage, bei welchem der Gedanke an sein
Liebesunglück wiederholt und in mancherlei Gestalten auftaucht,
aber bekämpft und schliesslich besiegt wird. Es ist dabei das
tibullische Auf- und Abwogen der Empfindungen und ihr rascher
Wechsel und Umschlag nachzumachen gesucht, aber ohne dass
die Uebergänge psychologisch begründet wären und es über ein
planloses Herumfahren in verschiedenen Stimmungen hinauskäme,
wobei der Zusammenhang öfters völlig ausgeht (v. 39. 43). Auch
sind es eigentlich nur zweierlei Gedanken und Stimmungen welche
einander fortwährend ablösen: die Heiterkeit, ausgedrückt durch
die Aufforderung zum Trinken, welche theils an die Freunde
Iheils au den Redenden selbst gerichtet wird, und der Schmerz
über die definitive Zurückweisung durch Neära, welcher zuletzt
durch die zwar ganz verständige, aber wenig poetische Wendung
beseitigt wird: sei's drum! ich werde mich desshalb nicht zu Tode
grämen. Mit dem Abspringenden und Zickzackähnlichen des Ge-
376 TibulluB,
dankenganges wollte der Verfasser vielleicht auch die trunkene
Weinlaune des Redenden zeichnen, was jedoch jedenfalls nicht
in entsprechender Weise durchgeführt wäre. Im Einzelnen ent-
hält die Elegie neben manchem Belfallswerthen (v. 29 f. 53. 56)
noch weit mehr in Gedanken oder Ausdruck Verfehltes, wie v. 3.
5. 8. 9. 13. 17. 19. 23. 32. 36. 41 f. 46. 48. 54. 55; auch
Wiederholungen (v. 7. 37. 52) und ungehörige Ausführungen
(v. 13 ff.), endlich viele »Reminiscenzen aus Tibull (v. If. = 11,
5, 121 f. V. 13f. = II, 1, 72. V. 27 = IV, 13, 16. v. 45 = 1,
4, 15. V. 60 = IV, 10, 6. V. 62 = 1, 2, 1). Zwischen die Be-
werbungen in den vier ersten Elegieen und das Schwinden der
letzten Hoffnung, wie es das letzte Gedicht darlegt, fällt El. III, 5,
in welcher von Neära nicht die Rede ist. Dagegen wiederholt
sie ein anderes Motiv von TibulFs I, 3, dass nämlich der Ver-
fasser krank zu Hause liegt, während seine Freunde entfernt von
ihm sich vergnügen. Und zwar sind diese in einem etruskischen
Bade, ohne dass jedoch ihre Persönlichkeiten klarer werden. Der
Verfasser aber furchtet seiner Krankheit zu erliegen, trotzdem
dass er durch keine schwere Sünde den Tod verschuldet habe und
auch noch viel zu jung sei zum Sterben. Er legt ausführlich dar
was er Alles nicht gethan habe und nicht sei, bittet desshalb um
Schonung und verabschiedet sich von seinen Freunden. Ueber-
haupt ist diese Elegie ein wirklicher Brief und enthält manche
gute Stellen (bes. v. 19 f. 30 f.), daneben aber freilich auch
wieder unnöthlge Weitläufigkeiten (v. 7 — 14) und Wiederholungen
theils innerhalb des Gedichtes selbst (v. 29 f. == v. 1) theils gegen-
über von anderen (v. 7 ff. = 4, 15 f.), wie ohnehin auch im Ein-
zelnen der Ausführung viel Nachgeahmtes (z. B. v. 2u. 8 = 1, 6,
22. V. 7 ff. = I, 2, 81 ff. v.28 = I, 10, 44. v. 30 = 1, 4, 46).
Bei der Darlegung dass der Verfasser noch jung sei erfahren wir
gelegentlich dessen Geburtstag (v. 17 f.), dass er nämlich im
J. 711 d. St. geboren sei, wodurch zugleich Tibull aufs Bündigste
von dem Verdachte befreit wird als ob er der Verfasser dieser
sechs Elegieen wäre. Wie dieser wichtigste Theil der äusseren
Verhältnisse des Verfassers nicht auf Tibull passt, so auch nicht
die Situation welche diesen Elegieen zu Grunde liegt, und noch
weniger die Beschaffenheit der Gedichte selbst. Tibull müsste
sich selbst — und zwar durchgängig verschlechternd — nach-
geahmt haben, und es wäre zudem nicht zu begreifen wann diess
geschehen sein sollte, da TibuH's Leben so kurz war dass er
Gedichte. Buch III (Lygdamus). 377
nicht einmal die unzweifeihari von ihm herrührenden Gedichte
alle ganz fertig brachte. Indessen erstreckt sich diese Äehnlich-
keit mehr nur auf das Aeussere, auf die Motive der Gedichte
und zahlreiche einzelne Gedanken und Wendungen; in allem
Änderen aber besteht eine sehr wesentliche Verschiedenheit zwischen
den beiderlei Dichtern und Gedichten. Einmal in Beziehung auf
den Stoff und den Gedankenkreis besteht kein Berührungspunkt
zwischen Beiden: keine Spur namentlich von der dem Tibull so
eigenthümlichen sanften Schwärmerei für die Reize des Land-
lebens findet sich im dritten Buche (vgl. Voss S. XV. Gruppe
S. 108), vielmehr ist hier der Boden ausschliesslich die Stadt,
die Bilder fast einzig diesem Kreise und der Gelehrsamkeit ent-
nommen (s. bes. El. 3. 4) , und nur sehr selten erinnert sich der
Verfasser dass es auch ausser der Stadt eine Welt gibt, insbe-
sondere eine Natur (4, 33 f.). Auch die Sinnesart der beiden
Verfasser ist eine grundverschiedene: während Tibull gefühlvoll,
warm und oft leidenschaftlich ist, so zeigt sich der Verfasser des
dritten Buchs süsslich schmachtend und weinerlich und so tact-
verlassen dass er eine klägliche Situation, aus der er sich je
eher je lieber reell hätte befreien müssen , gar noch zum Gegen-
stande von Versen macht, seine Schmach veröffentlicht, und durch
armseliges Seufzen und Flehen seine Manneswürde so gründlich
verleugnet und herabwürdigt dass wir schon darum Neära's Ver-
halten zu ihm vollkommen berechtigt finden müssen. Schon durch
diese Wahl eines Stoffes welcher poetische Behandlung geradezu
ausschliesst zeigt der Verfasser seinen Mangel an dichterischer
Befähigung; ebenso ferner durch die gleichmässige Geschraubtheit
seines Tones, die Mühsamkeit womit er offenbar diese Verse
zusammengebracht hat und die namentlich auch darin sich kund-
gibt dass der beabsichtigte Gedanke manchmal mehr errathen
werden muss als dass er durch die Worte klar ausgedrückt wäre,
wiewohl es dem Gedanken selbst auch manchmal an Schärfe und
Richtigkeit fehlt (1, 7. 2, 26). Zu diesen Beweisen von unzu-
länglicher Begabung gehört weiter die Hast womit dieser Dichter
von der traurigen Gestalt dem Fahrwasser mythologischer Gelehr-
samkeit und der Beschreibungen sich zuzuwenden liebt, und seine
Abhängigkeit von Tibull, von dem er aber die Schwächen weit
mehr sich zu eigen gemacht hat als seine Vorzüge. Namentlich
die zwecklose Häufung desselben Begriffs (1, 3. 3, 38. 4, 93),
die Sucht zu (heilen (1, 6 und 19. 4, 11 f.), und besonders die
378 Tibulluß.
Manie für FarbengegeosäUe (1, 9. 2, 10. 18. 3, 37 f. 4, 30.
5, lö« 33 f.) haben diese Elegieen n)it den unvolll&ommensten
Arbeiten des TibuU (IV, 1 und I, 7) gemeinsam. Ausserdem ver-
räth der Verfasser eine wenig geschmackvolle Vorliebe für Wort-
anklänge (4, 10 saliente sale; 69 f. sonora — sonos; 5, 2 unda
— adeunda ; 25 f. senecta — senex). Sein Sprachschatz ist beschränkt
und wiederholt namentlich die Worte niveus, candidus, Yanus,
sowie die Wendung mit volo mit lästiger Häufigkeit (auch genus
4, 9. 61. 6, 7; rubente 4, 32 und rubent 4, 34); überdiess
zeigt er gegenüber von TibuU charakteristische Abweichungen.
Prosaische Partikeln wie autem (andererseits), ergo, etenim, quare
(4, 49) finden sich bei Tibull nicht, wohl aber wiederholt im
dritten Buche; quam vis ist hier (6, 29) mit dem Indicativ ver-
bunden, bei Tibull stets mit dem Conjunctiv; postquam — viel-
leicht — mit dem Plusquamperfect (4, 41), bei Tibull mit dem
Perfectum, u. dgl., Eigenheiten welche, je unbewusster sie her-
vorzutreten pflegen, um so mehr Beweiskraft haben. Endlich im
Bau der Verse hat das dritte Buch, mit alleiniger Ausnahme von
zwei Stellen (4, 57 und 6, 17), einförmig die Cäsur nach dem
fünften Halbtheile, während Tibull in dieser Beziehung seinen
Versen eine grosse Mancbfaltigkeit, rasche Bewegung und oft
einen malerischen Charakter zu geben weiss; das Uebergreifen
des Sinnes und der grammatischen Construction über das Distichon
findet sich im dritten Buche häufig und zum Theil in einer Aus-
dehnung welche aller Kunst und allem Geschmacke Hohn spricht
(vgl. bes. 3, 1 — 10. 4, 51 — 60); die Pentameter sind selten
mit dem Hexameter organisch verbunden, wohl aber ist für sie
sehr oft der Gedanke ausgegangen, so dass sie leer, wo nicht
störend, nachhinken (z. B. 1, 2. 14. 2, 26. 3, 4. 14. 26. 34.
36. 4, 36. 50. 6, 36. 48).
Durch dieses Alles wird es hinlänglich festgestellt sein dass
Tibull der Verfasser dieser sechs Elegieen nicht ist, und es fragt
sich nur noch wer denn sonst es sei? Ovid, antwortet Gruppe
5. 133 If. Um dless wahrscheinlich zu machen hat Gruppe in
Bezug auf Lebensverhältnisse, dichterischen Charakter und Sprache
eine Uebereinstimmung zwischen beiden Dichtern nachzuweisen
gesucht. In ersterer Beziehung ist allerdings merkwürdig das
Zusammentrelfen beider im Geburtsjahre; denn auch Ovid ist im
J. 711 geboren, ja er berichtet diess Trist. IV, 10, 6 eben mit den
Worten unseres Verfassers (5, 18) ; indessen kann diese Altersgleicb-
Gedichte. Buch III (Lygdamus). 379
heil ebensogut bioser Zufall sein. Ferner behauptet Gruppe, Neära
sei Ovid's zweite Frau, von welcher dieser Trist. IV, 10, 71 'j sagt:
Ganz untadelig war die welche darauf ich zur Frau nahm;
Doch nicht lange vermählt sollte sie bleiben mit mir.
Diese Combination ist aber bereits dadurch beseitigt dass sich
uns das Ergebniss herausgestellt hat Neära sei nicht die Frau,
sondern die Verlobte des Lygdamus gewesen; wir brauchen uns
daher auch nicht auf Gruppe's unrichtige Deutung von 4, 83
(vgl. 59) und anderen Stellen einzulassen. Weiter soll aus 1, 2
hervorgehen dass der Verfasser des dritten Buchs gleichfalls, wie
Ovid; römischer Kitter sei, während der Vers nur beweist dass
er römischer Burger ist; und ebenso ist die Vermutung, die in
III, 5 angeredeten Freunde seien Messala und TibuU, die sich
auf des Ersteren Gute bei Arretium (vielmehr in einer etruskischen
Therme) beßnden, ohne alle Beweiskraft. Sodann die Ueberein-
slimmung des dichterischen Charakters soll (nach Gruppe S. 136)
darin bestehen dass auch Ovid ein städtischer Dichter sei, was
aber z. B. auch Propertius ist; dass sie gewisse rhetorische
Figuren , namentlich Antithesen , gemein haben (aber die Rhetorik
ist ein Gemeingut aller römischen Dichter, und überdiess die
Zahl der rhetorischen Figuren des Ovid welche sich bei unserem
Verfasser nicht flnden eine weit grössere); dass das dritte Buch
die Rundung, Ebenheit, Glätte, leichte Grazie und spielende
Eleganz des Ovid, sowie seine Unmittelbarkeit der Versification
•
theile, — wovon wir nur das Gegentheil zu entdecken im Stande
sind. Noch dürftiger ist Gruppe's Beweisführung in Betreff der
Gleichheit der Sprache beider Verfasser (S. 137), welche darin
besieht dass Lygdamus postquam mit dem Plqpfct verbinde, Ovid
aber diese Conjunction überhaupt gar nicht habe (welche letztere
Angabe überdiess vollkommen grundlos ist); Lygdamus quamvis
(in dem einzigen Falle wo das Wort bei ihm vorkommt) mit dem
Indicativ setze, Ovid aber sowohl mit dem Indicativ als mit dem
Conjunctiv; dass auch Ovid ergo oft (vielmehr blos manchmal)
Im Anfange von Versen gebrauche (was auch Propertius thut);
dass bei Lygdamus viel weniger Conjunctionen sich finden als
bei Tibull (nämlich dum^ quod und ubi fehlen), wie auch Ovid
hierin „viel delicater und gewandter '* sei; „er bindet die Sätze
I lieber durch die Stellung der Worte selbst und durch die Natur-
lichkeit des Gedankenfortgangs als durch besondere Conjunctionen"
(S. 137 f.). Aber bei Lygdamus hängt diese Eigenheit vielmehr
380 TibuUus.
mit seiner Spracharmut, Einförmigkeit und aggregaliven Anein-
anderreihung der Gedanken zusammen. Endlich die Stellen in
welchen Ovid Wendungen, Bilder und ganze Verse des dritten
Buchs uachgeahmt, beziehungsweise abgeschrieben hat (Gruppe
S. 127 — 132), zeigen nur dass Ovid diese Elegieen kannte und
sind ein Beweis wohl von seinem ausserordentlichen Gedächtniss
und seiner Leichtfertigkeit im Versemachen, nicht aber seiner
Identität mit dem Verfasser derselben. Ohnehin hat W. Hertzberg
(a. a. 0. S. 1019 f.) gezeigt dass ein grosser Theil der angeführten
Beispiele zu den stehenden Bildern und Redeweisen der römischen
Dichter gehört, und auf diese Art sich die Identität des Lygdamus
sowohl als des Ovid mit jedem andern römischen Elegikev beweisen
Hesse. Auch benützt Ovid nicht blos die Gedichte des dritten
Buchs — weil er auf diese nach Gruppe ein Eigenthumsrecht
hatte — sondern ganz ebenso namentlich auch die des TibuH,
und zwar keineswegs so „verschämt" und „hauptsächlich da wo
es (wie Amor. III, 9, 58) offenbar dichterische Absicht war
dessen Worte zu geben" (S. 132 f.). Denn z. B. A. A. III, 447 f.
O quater et quoties numero comprendere non est
Felicem de quo laesa pnella dolet!
ist doch wohl nicht blos ein „ verschämter Anklang ** an die Worte
von TibuU (1, 10, 63 f.):
qaater ille beatas
Quo tenera irato flere puella potest.
So stimmt auch der unglückliche Ausdruck vitreo . . madentia
rore tempora noctis eunt (Am. I, 6, 55 f.) wohl nicht zufallig
zusammen mit dem ebenso verfehlten des Tibull (II, 4, 12)
omnia iam tristi tempora feile raadent, und so Unzähliges.^)
Ist es hienach Gruppe nicht gelungen wahrscheinlich zu
machen dass Ovid der Verfasser des dritten Buches sei, so hat
dagegen W. Hertzberg (a. a, 0. S. 1024 f.) nachgewiesen dass eine
derartige IdentiGcierung positiv unmöglich ist. „ Diess erhellt vor
Allem aus der ganz von Ovid's Weise verschiedenen Sprache des
Lygdamus, natürlich innerhalb der gemeinsamen Grenzen in denen
sich überhaupt das römische Gedicht und besonders das elegische
bewegt. Hier ist Nichts von Ovid*s übertriebenen rhetorischen
Effecten, die in den kaum der Declamatorschule entwachsenen
Jugendgedichten namentlich uns überall in spitzigen Antithesen
*) Vgl. jetzt A. Zingerle , Ovidias und sein Verhältniss za den Vor-
gliugem und gleichzeitigen röm. Dichtern, Innsbruck 1869. 1871.
Gedichte. Buch III (Lygdamus). 381
und dir den künsüichen Figuren der Anaphora, Epiphora, Ploke,
selbst bis zu Wortspielen gesteigert, entgegenspringen. Ovid zer-
stückelt die Perloden und geht höchst selten im elegischen Masse
über die Grenzen des Distichons hinaus, was Lygdamus so oft
thut; dagegen würfelt Ovid mit Keckheit die Wörter im Satze
durcheinander bis zur Unverständlicbkeit, Wagnisse wdvon der
bescheidene Lygdamus keine Spur zeigt. Im Versbau hüpft und
tanzt Ovid so dass sein Hexameter, selbst in den ernsteren Ge-
dichten (Tristia und Fasti), beinahe in der Hälfle der Verse
lauter Daktylen hat, ausser wo nach der Hauptcäsur die Senkungs-
länge des dritten Fusses sich leicht versteckt, Lygdamus aber
hat unler 290 Versen nur sechs von überwiegend daktylischem
Gang, mit reinen Daktylen nur vier. Von dem Extreme dagegen,
dass der Hexameter durch lauter Spondeen (ausser im fünften
Fusse) gehemmt und schwerfallig wird, hat Ovid unter den 1582
Versen der zehn ersten Herolden nur zwölf, Lygdamus dagegen
unter seinen 290 sechszehn. Das sind aber lauter Eigenthüm-
lichkeiten welche gerade in der Jugend (und diesem Alter des
Ovid sollten nach Gruppe die Lygdamus -Elegieen angehören) am
schärfsten hervortreten, wie denn auch gerade die Jugendgedichte
Ovid's die reichste Fundgrube für jene Eigenthümlichkeiten bilden."
Wenn also Ovid der Verfasser dieser sechs Elegieen ebenso
wenig ist als Tibull, so erneuert sich die Frage: wer es denn
sonst sei? Einen Namen wissen wir nicht zu nennen; denn dass
Lygdamus der wirkliche Name des Helden — a non *lucendd —
dieser Elegieen (und damit zugleich ihres Verfassers) sei'^) können
wir bei der unrömischen Beschaffenheit dieses Namens ebenso
wenig glauben als wir eine Trennung zwischen der Person des
unglücklichen Bräutigams und der des Verfassers zulässig finden
(was schon durch die prosaische Nüchternheit der behandelten
Verwicklung, sowie durch EI. 5 ausgeschlossen ist) oder einer
der Vermutungen beipflichten können welche über den hinter
Lygdamus versteckten wirklichen Namen aufgestellt worden sind
(Passow, Dissen u. A.: Lygdamus sei Uebersetzung von Albius,
F. Haase: von Lucius, nämlich Messalla; Gruppe: Publius). Auf
*) So Hertzberg S. 1025: Lygd. war „ein Römer, gleichviel welches
Standes, dessen Familie nach römischer Weise als Cognomen den
Namen des ersteh — vielleicht zu unvordenklichen Zeiten freigelassenen
oder zu Born sonst in das Bürgerrecht gekommenen — griechischen
Stammherrn fortführte/*
382 TibuUas.
Valgius würde die Sylbenmessung passen, sowie der Umstand
dass er zum Kreise des Messala gehörte (Tib. IV, 1, 179 f.) und
Elegieen verfasste. Indessen gebt aus der angeführten Steile des
Tibull bervor dass Vaigius zum Mindesten ebenso alt war als
Tibull, nocb wahrscheinlicher aber älter als dieser. Noch weniger
aber kdnn der Verfasser sein Cassius von Parma ^ auf welchen
Oebeke gerathen bat, einer der Mörder Caesar's und daher viel-
leicht um 20 Jahre älter als TibulL Wir begnügen uns daher
in Bezug auf den Verfasser der fraglichen sechs Elegieen die
beiden Merkmale hervorzuheben dass er ein jüngerer Zeitgenosse
des Tibull war und wie dieser (und z. B. auch der Verfasser
der Ciris) zum Kreise des Messala gehörte. Was das Erste betriflt
so war er zwar jünger — wie sein Geburtsjahr und die That-
sache der Nachahmung beweist — aber doch ein Zeitgenosse,
da schon Ovid diese Elegieen kannte und benätzte, und zwar
nicht erst in seinen späteren Werken (z. B. Trist.) , sondern z. B.
schon in seinen Amores und der Ars amandl. Dass er aber zum
Kreise des Messala gehörte erhellt hauptsächlich daraus dass seine
Elegieen, ebenso wie die Briefchen der Sulpicia, der tibuUischen
Gedichtsammlung einverleibt wurden. Denn gewiss mit Recht
hat F. Haase (in den Berlin. Jahrbb. f. wiss. Kritik 1837. I. S. 40),
unter Zustimmung von W. Hertzberg (a. a. 0. S. 1026), diese Samm-
lung als eine Art von „Familienbuch" bezeichnet „das im Hause
des Messala entstanden ist, in einem um ihn sich sammelnden Kreise
gebildeter ' Freunde von Geschmack und warmem Interesse für
Poesie, unter denen Tibull ohne Zweifel die bedeutendste Stelle
einnahm und als Muster galt und einwirkte, ohne dass wir diesen>
Kreise gerade den förmlichen Charakter einer poetischen Gesell-
schaft oder Schule beilegen möchten." Zu dieser Annahme, dass
der Verfasser dem Kreise des Messala angehörte, sehen wir uns
auch dadurch gedrängt dass demselben die sämmtlichen Gedichte
des Tibull, auch die des zweiten und vierten Buchs, die doch
Tibull unmöglich selbst herausgegeben haben kann, zu Gebote
standen; denn auf das vierte weist z. B. ganz deutlich 6, 60
hin, auf das zweite 4, 18 (=0, 5, 60), 55 (=n, 2, 89). 69
(=n, 5, 2 IT.), 82 (=n, 4, 7) u. A. Man könnte desshalb
auf die Vermutung kommen dass der Verfasser eben der Heraus-
geber der tibuUischen Gedichtsammlung sei, falls damit irgend
etwas gewonnen wäre. Aus dem angegebenen Charakter dieser
Sammlung erklärt es sich auch dass weder Ovid noch Properüus
Gedichte. Buch HI und Priap. 383
noch sonst Jemand unsern Verfasser als Elegiker namhaft machen,
was mit J. H. Voss und W. Hertzherg einzig aus der Unbedeutend-
heit desselben (dass er ein „Dilettant war der unter dem grossen
Schwärm des versemachenden Publikums auch einen Beitrag von
sechs Elegieen sehr bedingten Werthes geliefert hatte " Hertzberg
S. 1026) zu erklären ungerecht und ungenügend scheint; denn
wie vielä unbedeutende Namen hat Zufall und Kameraderie uns
erhalten! Vielmehr finden wir den Hauptgrund jener Erscheinung
darin dass der Verfasser desshalb zu keiner selbständigen Geltung
gelangte weil seine Gedichte von Anfang an mit den tibullischen
zusammengeworfen wurden und in dieser bedeutenden Dichter-
persönlichkeit die unbedeutende untergieng, ein Schicksal das er
mit Sulpicia theilte. Uebrigens erscheint das Verfahren des ersten
Herausgebers der tibullischen Gedichtsammlung hienach jedenfalls
als ein ziemlich gedankenloses, wie denn wohl auch ihm zur Last
fällt „die Ungeschicklichkeit dass (im vierten Buche, nicht aber
H, 2) Sulpicia durchaus mit ihrem eigenen Namen genannt wird,
ihr Geliebter aber mit seinem nom de guerre Cerinthus. Diess,
wie die Vermischung der Gedichte TibuH's mit denen seiner
Freunde , ist wohl nicht denkbar ehe Messala gestorben war oder
wenigstens ehe er das Gedächtniss verloren hatte" (Lachmann,
Rec. von Dissen, S. 255).
10. Schliesslich ist der Vollständigkeit halber noch zu er-
wähnen dass auch aus der Sammlung der priapeischen Ge-
dichte zwei Stücke dem Tibull zugeschrieben werden (Nr. 81
und 82), das eine aus drei Distichen bestehend, das andere aus
45 iambischen Senaren. Die Zutheilung gründet sich darauf dass
die vorzügliche Handschrift des Cuiacius (Lachmann's F) beide
nach dem Zeugniss von Scaliger mitenthielt. Das erste ist wenig
bedeutend; das iambische in schmutzig scherzhaftem Tone ge-
halten, doch der Form nach elegant. Diese ganze Literatur will
mit ihrem eigenen Masse gemessen sein. Sogenannte innere Gründe
verfangen zum Beweise der Unechtheit nichts, so wenig als sie
zureichen um das unverfängliche Gedicht am Schlüsse derselben
Sammlung (Nr. 85 =^ Anthol. lat. 775 Rse.) dem Tibull zuzusprechen,
was Gruppe (S. 236 — 248) zu beweisen versucht hat, wegen
der „grossen Vortreffllchkeit, Feinheit und Zartheit des Gedichts *'
(S, 243), seiner ,^ heiteren Ländlichkeit«' (S. 244) und „weil fast
jede einzelne, poetische Intention desselben sich bei Tibull nach-
weisen lässt, und weil in dessen Werken auch vielfache Anklänge
384 TibullüB.
an Ausdruck und Wort unseres Gedichtes begegnen" (S. 244),
Argumente welche doch höchstens auf einen Nachahmer des Tibull
als Verfasser führen können.
3. Tibnll'8 Kunstart.
[Ter Stoff des Tibull ist an sich ein beschränkter: es ist
theils das Landleben theils die Liebe. Das erstere ist dabei
Idealisch aufgefasst, als ein Leben voll Einfachheit und herzlicher
Frömmigkeit, voll harmloser Freuden und anmutiger Geschäfte;
auf dem Gebiete der Liebe aber fehlt es zwar keineswegs an
Verwicklungen und Leidenschaft, im Ganzen aber tritt mehr die
Seite des Leids hervor als die der Lust und erscheint die letztere
überwiegend in der Form der Sehnsucht und der Phantasie.
Aber dieser enge Kreis — welche Manchfaltigkeit von Stimmungen,
welche Fülle von Anschauungen schliesst er ein; dieser einfache
Stoff — mit welcher Farbenpracht weiss Tibull ihn auszuschmücken,
welchen Beichthum von Tönen weiss er ihm zu entlocken ! Nament-
lich von den grösseren Elegieen des ersten Buchs durchläuft jede
die ganze Tonleiter der Empfindungen, jede ist ein ganzes Stuck
Leben, eine. Symphonie. Dabei ist jeder einzelne Accord so voll-
stimmig, mit solcher Liebe und Wärme ausgeführt dass man
meint er solle der Mittelpunkt des Ganzen werden; kaum aber
ist er verklungen, so löst ihn ein anderer ab, in derselben
Weise durchgeführt und doch von ihm völlig verschieden, wo
nicht ihm entgegengesetzt und scheinbar ihn ausschliessend. Und
so geht es immer fort, in ruhelosem Wellenschlag, wo eine Woge
die andere verschlingt, wo Furcht und Hoffnung, Freude und
Schmerz, leidenschaftliches Verlangen und wehmütiges Entsagen,
Ruhe und Verzweiflung, Leben und Tod rasch und kühn, aber
doch völlig ungezwungen und natürlich mit einander abwechseln.
Während wir eben noch mitten im Sturme auf der hohen See
zu sein glauben sehen wir uns mit einem Male sanft und sicher ans
Land gesetzt, und wenn wir von hier aus den weiten windungs-
reichen Weg überblicken, so gewahren wir mit freudiger Ueber-
raschung dass in demselben die schönste Ordnung und der feinste
Plan geherrscht hat. Und doch war Alles so einfach, so ruhig
zugegangen: kein lärmendes Gommandorufen, kein geschäftiges
Hin- und Herrennen, kein geräuschvolles Segelaufziehen : mit den
kleinsten Mitteln und scheinbar ohne Kunst wurde das in seiner
Kunstart. 385
Art Grössle und Küusllichste erreicht. ,,So sein* Tibull die Ein-
fachheit und Zuruckgezogenheit des Landlebens preist, so hat
doch seine Kunslstufe hiemit Nichts gemein ; hier gehört er einer
hochgebildeten, verfeinerten Zeit an, die an dem Gesammtertrage
griechischer Kunst ihren Geschmack gebildet hatte, die sich nur
an dem Auserlesensten genügte und deren Aufmerksamkeit man
nur durch die uberlegteste Berechnung der Effecte und Contraste
gewinnen konnte" (Gruppe S. 22). Wenn sich nichtsdestoweniger
Tibull von allen andern Dichtern seiner Zeit dadurch unter-
scheidet dass diese Kunst sich nie zu fühlen gibt, dass der Ein-
druck vielmehr der der vollsten Natürlichkeit ist, so hat er diess
dadurch bewirkt dass er die feine Grenzlinie zwischen Kunst und
Künstlichkeit aufs Strengste einhielt und mit den gewöhnlichen
Mitteln der Sprache und des Versbaus auszureichen wusste. - Seine
Gedichte sind nicht, wie die des Propertius und Ovidius, Beispiel-
sammlungen der rhetorischen Figuren: er wendet fast nur die
der Anaphora an, diese dann aber mit um so grösserer Manch-
faltigkeit und Wirkung. Ebenso ist bei ihm , w enigstens in seinen
vollendeteren Gedichten, keine Spur von Gelehrsamkeit, von An-
spielungen auf entlegene Mythen und Geschichten: er gibt nur
sich selbst, er spricht nur die Sprache der wirklichen Empfindung.
Diese Durchdringung von Kunst und Natur und Gemüt, dieses
Verschmelzen der di^ei an sich disparaten Elemente zu einem
untrennbaren Ganzen, so dass jedes in jedem ist, bildet die
innerste Eigenthümlichkeit der tibuUischen Dichtung. Tibull hat
sich zu der Stufe emporgeschwungen welche auch die Griechen
nur in ihren vollendetsten Erzeugnissen erreicht haben, wo die
Kunst von der Natur nicht mehr zu unterscheiden ist; aber ihm
ist noch ausserdem etwas eigen was den Griechen zwar keines-
wegs abgebt, aber in dieser Fülle und Innigkeit doch fremd ist:
die Seele, das Herz, das in jedem einzelnen Theiie pulsiert
uud Alles mit gleichmässiger Wärme durchströmt. Durch diese
harmonische Mischung der drei Elemente ist Tibull nicht nur
ein grosser Dichter geworden, welchen innerhalb der römischen
Literatur an Selbständigkeit, künstlerischer Abrundung und Tiefe
kein anderer überragt, sondern zugleich ein überaus ansprechen-
der, bei welchem auch der moderne Leser ohne lange Vorbe-
reitung bald sich völlig heimisch fühlt. Diese Eigenthümlichkeit
zeigt sich bei ihm im Grossen wie im Kleinen, in der künst-
lerischen Anlage des Ganzen wie in der Ausführung der Theiie,
Tenffel, Studien. 25
386 TibaU*8 Knnstaii.
in den Gedanken wie in der Sprache und im Versbau: überall
die wahrste, ungeschminkteste Natur, aber veredelt und verklärt
durch die bewussteste Kunst, und i>eseelt durch das innigste
Gefühl.*) Im rein Formellen tritt diess besonders hervor in dem
vollen Einklang welchen der Dichter zwischen dem Gedanken und
dem Verse herzustellen weiss: die rythmische Bewegung schliesst
sich genau der jedesmaligen Stimmung an, Satzbau und Versbau
decken sich vollkommen, ohne dass dadurch Einförmigkeit ent-
stünde, und auch die verhältnissmässige Seltenheit der Synalöplien
trägt dazu bei den Versen den Charakter der Natürlichkeit und
Leichtigkeit zu geben. Mit welcher Anmut der Dichter nament-
lich den Pentameter zu bauen versteht, so dass er zum Hexa-
meter einen wohlthuenden Parallelismus bildet und doch dabei
neu und spannend bleibt, hat Gruppe S. 15 — 22 im Einzelnen
nachgewiesen.
*) Dahin gehört auch die instinctive Symmetrie in der Hänfigkeit
der trichotomischen Gliedemng, dnrch Gedankencompleze von je drei
Distichen. Ritschi über Tibnll 1,4. 8. 15 f. 18 f.
XIV.
Zu Curtius.*)
lieber das Zeitalter des Curtius entscheidet vorzugs-
weise die Stelle X, 9 (s=28), 3 — 6, und ich bin überzeugt dass
eine unbefangene und scharf eindringende Auslegung der Worte
des Curtius nur die Beziehung auf Claudius für möglich erklären
kann. Hier heisst es nämlich, nach Erwähnung des Schicksals
welches das makedonische Reich nach Alexander*s Tod betroffen
habe: dieses Beispiel zeige welches unschätzbare Gut die Einheit
sei ; um so wärmeren Dank schulde daher das römische Volk dem
Fürsten der durch sein Auftreten die Gefahr der Zersplitterung
für das römische Reich beseitigt, dessen Einheit gerettet habe,
dem princeps qui noctis quam paene supremam habuimus novum
sidus illu&it. huius hercule, non solis ortus lucem caliganti red-
didit mundo, cum sine suo capite discordia membra trepidarent.
quot ille tum extinxit faces, quot condidit gladios, quantam
tempestatem subita serenitate discussit! non ergo revirescit solum
sed etiam floret imperium. absit modo invidia, excipiet huius
saeculi tempora eiusdem domus utinam perpelua, certe diuturna
posteritas. In dieser Stelle ist es vor Allem unmöglich nox als
allgemeine, unbestimmte, figürliche Bezeichnung einer Unglücks-
zeit aufzufassen **}, Das verbietet schon der Relativsatz quam
paene supremam habuimus. Für die letzte Nachrt kann man doch
nur eine einzige Nacht halten, nicht aber ein Jahr oder gar
Jahrzehnt. Eben so ist nur von einer bestimmten, wirklichen
Nacht die Rede in den ähnlichen Stellen Cic. p. Flacco 40^ 102:
0 nox illa quae paene aeternas huic urbi tenebras attulisti, cum
*) Aus Fleckeisen's Jahrbb. 77, S. 282—284.
**) Etwa wie bei Cic. Brat. 330: in hanc reip. noctem incidisse
nnd dagegen in hac beatissimi saeculi luce bei Tac. Agr. 44.
25*
388 Q. CurtiuB Rufus.
Galli ad belluiu, Calilina ad urbein vocabaiur, uud Livius VI,
17, 4: memoriain uoclis illius quae paene ultima atque aeterua
iiomini Romano fuit. Zu demselbeu Ergebnisse führt auch das
nachfolgende nou solis onus, sowie weiterhin tum (das sp^ciell
auf den Tag des Auftretens hinweist, nicht auf die Regierungs-
zeit überhaupt), auch subita. Als Bild wird der BegrilT des
Duukels verwendet erst in caliganti. Ferner wenn nach Ver-
gleichung des princeps mit einem sidus im sogleich nachfolgenden
Satze gleichsam berichtigend gesagt wird dass nicht das Erscheinen
der Sonne, sondern nur das des princeps Licht gebracht habe,
so kann diess, seiner poetisch - rhetorischen Hölle entkleidet, nur
besagen : ohne das Auftreten dieses einzig berechtigten , legitimen
(suus) princeps hätte die Noth (bildlich caligo, erläutert durch
cum . . trepidarent) auch noch nach Sonnenaufgang, noch am
folgenden Tage — und wer weiss wie lange? — fortgedauert. Diess
deutet auf Vorgänge bei der Thronbesteigung des fraglichen
princeps wie sie einzig bei der des Claudius, hier aber auch
ganz genau und wörtlich, zutreffen (vgl. Suet. Claud. 10 f. Dio
LX, 3. loseph. Anliq. XXIX, 1 ff. ß. lud. II, 11 f.), wo nach
Caligula's Ermordung sich im Senate Stimmen für die Republik,
andere für verschiedene Thronprätendenten erhoben , das Militär
entfesselt zu wüten begann, sodass die Römer eine unruhige und
bange Nacht erlebten, worauf dann aber am Morgen mit der
Ausrufung des Claudius zum Kaiser alles wieder in Ordnung, kam.
Eben darüber dass die Gefahr so schnell vorübergieng, dass die
trepidatio sich nur auf eine einzige Nacht beschränkte uud nicht
zum terror, tumultus^ bellum anwuchs, enthält unsere Stelle ein
dankbares „Gottlob!'* Sie ist olTenbar geschrieben unter dem
frischen Eindrucke der ausgestandenen Angst, gleich im Anfange
von Claudius' Regierung, ehe dieser noch seine grossen Schwächen
an den Tag gelegt hatte und als eine solche schmeichlerische
Huldigung noch wirklich berechtigt war. Die Wahl des Wortes
trepidare schlies'st alle diejenigen Regierungen aus die aus förm-
lichen Burgerkriegen hervorgegangen waren, stimmt aber um so
besser zu der Zeit unmittelbar nach Caligula's Ermordung, wo
mit ihrem Haupte die membra wirklich den Kopf verloren hatten
und nicht wussten wie weiter. Ebenso sagt Curtius im Folgenden
blos dass damals die Fackeln schon brannten, die Schwerter
schon gezogen waren, nicht aber dass sie bereits erheblichen
Schaden angerichtet hatten, ein Bürgerkrieg schon völlig aus-
Zeitalter. 389
gebrochen war. Und wie jene Hauptstelle mit Nothwendigkeit
auf Claudius hinführt, so ist unter den übrigen keine einzige
welche dem bestimmt entgegenträte und nicht vielmehr es unter-
stützte. Heisst es IV, 20, 21 vonTyrus: multis casibus defuncta
. . nunc tamen, longa pace cuncta refovente, sub tutela Romanae
mansuetudinis acquiescit, so schliesst diess die Ansicht aus welche
den Curtius unter Vespasian setzt, da unter Letzterem keine
longa pax war; denn cuncta gestattet nur die Beziehung auf den
Zustand des ganzen römischen Reiches; aber selbst in dem Falle
dass es einseitig auf Tyrus bezogen werden könnte wurde es
dennoch die Datierung unter Vespasian verbieten, weil durch den
jüdischen Krieg das so nahe gelegene Tyrus wenigstens in so
weit milberührt werden musste dass unmittelbar nach demselben
nicht von einem langen Frieden der es gefördert habe gesprochen
werden konnte. Andererseits machen diejenigen Stellen (V, 23,
8. VI, 6, 12) wo von dem Partherreichc als einem in der Gegen-
wart bestehenden die Rede ist unmöglich als diese Gegenwart
die Zeit des Auguslus aufzufassen, da bekanntlich alle augusteischen
Schriftsteller darin . unermüdlich sind die Erfolge des Augustus
über die Parther ins Grosse zu malen. Ohnehin ist mit der
Beziehung auf Augustus die erstbesprochene Stelle (X, 28) unver-
einbar, schon weil dieser die Regierung gar nie förmlich er-
grxfifen hatte, kein Tag sich als der seines Regierungsantritts'
bezeichnen liess, sondern er allmählich wurde was er war. Worauf
sollte also bei ihm ortus bezogen werden und tum? Wie Hesse
sich subitus rechtfertigen? Wie der Ausdruck trepidatio für die
Greuel der Bürgerkriege? Wie halte eiusdem domus u. s. w.
gesagt werden können nachdem Gaius und Lucius Caesar todt
waren und ohne den Tiberius tödllich zu verletzen? Dazu noch
alle die Gründe welche in der Denk- und Schreibweise des Curtius
liegen und an Augustus nicht denken lassen. Etwas mehr liesse
sich für Vespasian sagen, und in F. Kritz* Rec. von MützelPs
Ausgabe (Hall. A. L. Z. 1844. S. 726 f. 733 ff.) ist diese Ansicht
mit vieler Wärme, wenn auch unhaltbaren Gründen, verfochten
worden. Am ehesten könnte einen Augenblick blenden die Aehn-
lichkeit von Orosius VH, 9, wo sich der Verfasser in Bezug auf
Vespasian fast der gleichen Ausdrücke bedient welche sich bei
Curtius X, 28 finden. Bei Orosius heisst es nämlich: brevi illa
quidem, sed turbida tyrannorum tempestate discussa Iranquilla
sub Vespasiano duce serenitas rediit. Indessen ist das ein häußges
390 CurtiuB* Zeitalter.
Bild und die Ausdrüclie dafür slationär, die Uebereinstimraang
hierin die in einem untergeordneten Punkte; and selbst wenn
man grössern Wertli darauf legen wollte, so könnte man aus
den Worten höchstens ersehen dass Orosius die Stelle des Curtius
auf Vespasian gedeutet habe , was für uns nichts Bindendes hätte.*)
*) Vielmehr würde es beweisen dass Orosius die Worte in seiner
Quelle auf Vespasian bezogen fand , was für uns ziemlich viel Binden«
des htttte. Ueberhaupt möchte ich die Datierung unter Vespasian nicht
mehr mit der frühem Bestimmtheit zurückweisen. Nach der Schreib-
art des Curtius ist dieselbe ebenso möglich wie die unter Claudius,
und in Curt. X, 28 passt zwar auf die Vorgänge bei Vespasian^s Thron-
besteigung (die Kämpfe auf dem Capitol] besonders subita nicht gleich
gut wie auf Claudius, dafür aberdomus besser auf Vespasian , der zwei
Höhne besass, als auf Claudius, der nur den einen Britannicus hatte.
mm
XV.
Zu Petronius.*)
Niebuhr's erster Beweis für die Abfassung des sog. Satiricon
in der Mitte des dritten christlichen Jahrhunderts ist die Sprache
des Romans. Von dieser meint er sie weise in die Regierungszeit
Maximin's, „der, ein thrakischer Bauer, wahrscheinlich selbst
gebrochen lateinisch sprach und, wie es zu gehen pflegt, bald die
unschuldige Ursache einer verdorbenen mit allerlei fremden Ele-.
menten geschwängerten Sprache am Hofe der Cäsaren wurde".
Abgesehen davon dass solche Wirkungen nicht über Nacht ein-
zutreten pflegen, kann diess schon darum nicht richtig sein weil
dann die Volkssprache bei Petronius mit neuen unerhörten bar-
barischen Wörtern und Wendungen getränkt sein müsste, während
sie doch vielmehr in Wahrheit ganz an die frühere Volkssprache,
wie wir sie bei den Komikern finden, sich anschliesst und die fremd-
artigen Elemente überwiegend hellenische sind. Die Archaismen
gehören eben dieser Volkssprache an, denn wie das Leben des
Volkes und seine Sitten ungleich zäher, starrer und unveränder-
licher ist als das der höhern Stände, so auch seine Sprache.
Niebuhr aber sieht in den Archaismen unnatürlicherweise viel-
mehr Zeichen der Gesunkenheit und Verkommenheit der Sprache.
Dass überhaupt der Einfluss des Orientalischen und Barbarischen
auf die Volkssprache ganz und gar unbedeutend war beweist die
jetzige italienische Sprache, welche von Elementen dieser Art nur
germanische kennt, und zwar solche die nachweislich erst im
Mittelalter bei Gelegenheit der Römerzüge, wo die Deutschen die
Sieger und Befehlenden waren, in die Sprache gekommen sind.
Der zweite Hauptbeweis Niebuhr's ist der bekannte abenteuerliche
*) Ans dem Bhein. Mus. IV (1846). S. 512 ff.
392 Petronius.
von der Idenütäl der Personen auf einer angeblich aus dem
drilten Jahrhundert stammenden Inschrifl mit einigen im Satiricon
vorkommenden. Schon die Datierung jener Inschrift beruht Iheil-
weise auf einer Erschleichung, indem Niebuhr ohne Weiteres
annimmt dass die „corrupte Voliissprache", wie sie sich sovsobl
auf der Inschrift als im Satiricon flnde, auf das dritte Jahrhundert
weise. Noch willkürlicher ist die Formulierung auf die Zeit des
Alexander Severus. Für Letzteres führt Niebuhr die Erwähnung
der Mammaea c. 69 an. Aber Orelli hat das handschriftliche
mammeam viel richtiger als Vulgärform für mammam meam und
als schmeichelnde Benennung der Haussklaven gegen ihre Herrin
gefasst.''') Die Identität zwischen den Personen der Inschrift und
des Romans ist schon von Orelli Inscr. Lat. I. p. 258 genügend
beseitigt. Ohnehin ist die Ausführung Niebuhr s phantastisch und
ganz und gar unwahrscheinlich; z. B. die Fortunata soll der Dichter
offen genannt haben, ohne Furcht vor einer Injurienklage, die doch
in diesem Falle mindestens ebenso gegründet war als bei Tri-
malchio; Apelles* Name soll gleichfalls geblieben sein, um die
Leser auf die rechte Spur zu leiten, in Wahrheit aber nur um
Niebuhr auf die falsche Spur zu fuhren; auch ist Apelles eine so
untergeordnete Figur dass aus ihm vielmehr Nichts zu erkennen
war.**) Wir können daher die Niebuhr'sche Ansicht nicht für
begründet halten , und da neben ihr nur von derjenigen noch die
Rede sein kann welche den Roman in das neronische Zeitalter
setzt, so ist diese gleichsam auf negativem Wege neu bestätigt.
Aber auch der positiven Beweise Hessen sich zu den von Studer
ausgeführten***) noch manche beibringen. So verdiente das Ver-
*) Da aber vielmehr ipsum ammeam überliefert ist^ so hat Bücheier
daraus mit vollster Sicherheit hergestellt ipsumam meam, d. i. meine
Herrin.
**] Auch Habinnas ist ebenso wenig historisch als irgend ein anderer
der Interlocutoren des Romans; die Unerklärbarkeit des Namens beweist
zu viel , daher Nichts. Denn keineswegs sind alle Namen dieses Romans
mit Rücksicht auf die Charakteristik der Person gewählt, nur von
Trimalchio und Eumolpus hat diess Wahrscheinlichkeit.
***) Von welchen freilich auch manche nicht stichhaltig sind. So
setzt er den letzten Scaurus, der im J. 787 gestorben sei, unter Nero
statt unter Tiberius, wodurch die Sache ganz verändert wird. Auch
dass Trimalchio Freigelassener ist enthält keine Hindeutung auf die
Zeit der ersten Kaiser, wo der Uebermut derselben besonders gross ge-
wesen sei; denn Uebermut in dem Sinne wie er von Narcissns, Pallas,
Petronius. 393
hällniss des eingeflochtenen Gedichts de hello civili zu Lucan's
Pharsaiia eine genauere Untersuchung.''') Ist das fragliche Gedicht
und die Einleitung dazu wirklich gegen Lucan gerichtet, so folgt
daraus dass heide Dichter Zeitgenossen sind. Denn so indirect
und verdeckt^ so ohne Namennennung würde Petronius nicht gegen
Lucan polemisieren, wenn er sein Werk geschrieben halte als
dieser schon todt und der Kritik der Geschichte verfallen war.
Auch durfte die Beziehung einzelner Zuge auf Zeitereignisse nicht
so ganz von der Hand zu weisen sein als neuerdings, in Folge
der Uebertreibungen des Gegentheils durch Gonsalas de Salas,
Sitte geworden ist. Wenn z. B. c. 29 im Hause des Trimalchio
aufgeführt wird pyxis aurea non pusilla in qua barbam ipsius con-
ditam esse dicebant, so ist die Aehnlichkeit mit dem was Gas-
sius Dio LXI, 19 von Nero erzählt zu gross als dass sie eine
zufällige sein könnte. Unser Verf. verspottet dieses Thun des
Kaisers dadurch dass er es einem so abgeschmackten eiteln Gecken
wie Trimalchio ist beilegt; zweifelhafter ist ob exsectaque viscera
ferro in Venerem fregere (c. 119) eine Anspielung auf Suet. Ner.
28 (exsectum puerum Sporum etiam in muliebrem naluram trans-
figurare conalus) ist.
Jedenfalls also gehört der Roman dem Zeitalter des Nero an.
Hievon ist aber wohl zu unterscheiden die Frage ob der Verf.
desselben der bei Tacitus vorkommende G. Petronius, und sodann
ob das Satiricon die von Tacitus erwähnte Schrift des G. Petronius
sei. Diese Unterscheidung hat Fr. Ritter gemacht, aber vielleicht
nicht vollständig. Nach dem Vorgange von Paldamus (röm. Erotik
S. 85, Anm. 118), aber unabhängig von diesem, hat nämlich Ritter
(Rhein, Mus. H. S. 561 ff.) die Identität beider Personen bejaht,
die der Schriften verneint. Ritter ist in Folge unbefangener Aus-
legung der Worte des Tacitus zu der Ansicht gekommen dass
es unmöglich sei die Angabe des Tacitus über eine Schrift des
Petronius auf das Satiricon zu beziehen, und unterscheidet daher
zwei Schriften desselben, von denen er die eine grössere, das
Satiricon, geschrieben habe als er noch bei Nero in Gunst stand
Tigellius ansgesag^ werden muss ist keine Eigenschaft des Trimalchio.
Reich konnten Freigelassene zu allen Zeiten werden, daher konnte es
auch Figuren wie Trimalchio allezeit geben.
*) Diese ist später geliefert worden von Mössler in drei Hirschberger
l^rogrammen vom J. 1857, 1865, 1870.
^394 Petronios.
und lu dessen Belustigung, die andere im Gefangnisse, in den
Tagen vor seinem Tode, welche letztere Schrift ein Verzeichniss
der geheimen Schändlichkeilen Neros, eine Art Tagebuch darüber
enthielt, und welche an Nero versiegelt übersandt» von diesem
aber nach genofiraener Einsicht vernichtet wurde, so dass nur
die Kunde davon auf uns kam durch Tacitus, für den sie durch
Freunde des Petronius oder durch Hofleute erhallen worden war. *)
Durch diese Annahme werden manche Schwierigkeiten hervor-
gehoben und beseitigt; aber sie regt zugleich selbst wieder andere
Schwierigkeilen auf, welche vielleicht zu einer weiteren Anwendung
derselben Methode des Unterscheidens Anlass geben. Es drängt
sich nämlich die Frage auf, wie es denn komme dass Tacitus,
der von dem Inhalt der kleineren, geheimen und sogleich ver-
nichteten Schrift so genauen Bericht hat, von der grösseren ver-
öfTentlichten und von Nero sogar begünstigten auch nicht das
Geringste weiss? Ja, wenn man die Worte des Tacitus genau
betrachtet, so verhalten sie sich zu einer solchen Annahme sogar
ausschliessend. Führt Tacitus nicht gleichsam die Lebensordnung,
die ganze Beschäftigung des Petronius auf; sagt er nicht: Uli dies
per somnum, nox officiis et oblectamentis vitae transigebatur?
Gibt er nicht als Ursache der Berühmtheit des Petronius, in aus-
drücklichem Gegensatze zu der Anderer, ausschliesslich das Nichts-
Ibun an (ut alios industria, ita hunc ignavia ad famam protulerat]?
Und warum hat er neben den dicta factaque eius, die er als
soluta bezeichnet (quanto soluüora), nicht auch der denselben
Charakter an sich tragenden Schrift desselben erwähnt, wenn er
von einer solchen irgend etwas wusste? In der Thal, Tacitus
musste in diesem Zusammenhang der Schrift gedenken, wenn
sie den Petronius zum Verfasser hatte, und dass er es nicht ge-
than hat ist ein Beweis dass er von dieser Autorschaft seines
C. Petronius Nichts wusste. Zwar wird Ritter einwenden wollen**),
unter den officia, oblectamenta vitae, Aeusserungen der ignavia
und den facta des Petronius sei eben auch das Satirlcon milbe-
griffen. Aber es ist nicht wahrscheinlich dass Tacitus einen so
*) Wahrscheinlicher durch die UDtersuchung die darüber angeBtellt
wurde woher Petronius all diese Dinge erfahren habe.
♦♦) Vgl. Rhein. Mus. II. S. 667: „es wird die Vermutung gestattet
sein dass gerade diese Schrift mit zu den Mitteln gehörte wodurch es
Petronius gelang sich bei Nero vorzüglich beliebt und angesehen zu
machen'*.
Petronius. 395
wesentlichen Punkt nur stillschweigend, als etwas ganz Unter-
geordnetes, unter Anderem mitbegriffen, als ein Glied einer ganzen
Kategorie, nur im Allgemeinen mitbefasst habe, um so weniger
weil er diese Kategorie selbst beredt beschreibt und weil zu den
Aeusserungen der ignavia das Ausarbeiten eines Werks von viel-
leicht zwanzig Büchern nicht gerechnet werden kann, wenn es
auch seinem Inhalte nach als ein Werk der luxuria erscheint.
Wir können uns unmöglich denken dass der Schriftsteller Tacitus
von dem Werthe einer schriftstellerischen Leistung so gering dachte
dass er sie keiner Erwähnung würdigte, dass der Historiker die
Pflicht der Vollständigkeit auf diese Weise hintansetzte. Vielmehr
scheint man genöthigt zwischen dem taciteischen Petronius und
dem Verfasser des Saliricon wie die Identität der Schrift so auch
die Identität der Person . fallen zu lassen und nur die Identität
der Zeit festzuhalten. Dass der taciteische Petronius unter Nero
gelebt hat, auf welche Zeit man von jeher durch viele Spuren im
Satiricon gefuhrt worden ist und worüber sich eine Tradition
erhalten haben konnte, dass jenem die Abfassung einer an Nero
gerichteten Schrift zugeschrieben wird, dass endlich zwischen
dem Verfasser des Satiricon und dem taciteischen Petronius eine
unverkennbare Geistesverwandtschaft Statt findet, eine Gleichheit
der Weltanschauung, eine Aehulichkeit des geistigen Tones, —
alle diese Aehnlichkeiten können Veranlassung gegeben haben die
beiden Seiten überhaupt als congruent zu betrachten und den
unbekannten Verfasser des Romans Petronius zu benennen , woraus
sich auch das späte Auftauchen dieser Benennung erklären würde,
wie hinwiederum eben der Zeitabstand zwischen der Abfassung
des Romans und seinen (für uns) ersten Erwähnern es um so mög-
licher macht dass der Name nur durch aposteriorische Combination
gewonnen sei. Auch dass weder Quintilian noch Plinius noch
Sueton der Schrift gedenken ist so nicht mehr auffallend; denn
da dieselbe keinen ins Gewicht fallenden Namen an der Stirne
trug , somit in keiner Weise als Vorgang und Autorität zu benutzen
war, hatten sie keine Veranlassung davon Notiz zu nehmen; ja
es ist sehr glaublich dass der Roman ausserhalb Roms entstand
und aus einem Kreise hervorgieng der jenen so fremd, vielleicht
von ihnen so missachtet war dass der Strom der Literatur dieses
Werk gar nicht an ihr Ufer hingeschwemmt hat, dass sie gar
Nichts von seinem Dasein erfahren haben.
XVI.
A. Persius Flaccu s.*)
1. Ueber den Charakter des Persius können wir aus seinen
Handlungen niclit urteilen ; denn ihn charakterisiert vielmehr ge-
rade die Zurückziehung vom handelnden Leben ; auch hat er zu kurz
gelebt, zu wenige Prüfungen durchgemacht (eine der schwersten,
Thrasea's letzte Schicksale , ersparte ihm sein frühes Ende), ist in
zu wenige Collisionen gekommen als dass er sich vielseitig hätte
bewähren können. Indessen bietet sein Biograph doch manche
dankenswerthe Notiz darüber, und seine eigenen Gedichte, so
wenige ihrer sind und so wenig darin seine Persönlichkeit in den
Vordergrund tritt, geben uns ein hinreichend deutliclies Bild von
seinem Wesen, das nicht so zusammengesetzt, so reich, so
jrroteusartig ist wie das des Horaz, und daher weit weniger
Schwierigkeit für das Verständniss, aber auch weit weniger In-
teresse darbietet.
Was wir über seine Freunde wissen zeigt dass sich Persius
entschieden auf der Seite der Guten befand , dass er zu der kleinen
Zahl derjenigen hielt weiche in einer Zeit der greulichsten Ver-
dorbenheit, der schnödesten Selbstwegwerfung das heilige Feuer der
Sittlichkeit und der freien Gesinnung in ihrer Mitte nicht erlöschen
Hessen. Und so stellt er sich auch in seinen Gedichten durchaus
dar. Für die Tugend zieht er, ein begeisterter, rüstiger Streiter,
ins Feld, Jedem den Handschuh hinwerfend welcher die Unver->
gleichüchkeit seiner Dame durch Wort oder That zu bezweifeln
wagt. Aber freilich ist diese Tugend theils eine beschränkte,
sofern sie die stoische ist, theils in eine ideale, phantastische
Höhe geschraubt, und seine Glut für sie ist eine abstracte. un-
^) Aus der Kitiloitnng zn der metrischen ITcbersetznng, Stuttgart 1844.
Persius' Charakter. 397
reife, nicht das Ergebtiiss langer und tiefer ßeobachlung, allseitiger
Vergleichung, unbefangener Beurteilung«, es ist das Glühen für
ein kaltes, lebloses ßild, anstatt für eine wirkliche, lebenswarmc
Gestalt. Er kann die Tugend die er liebt nicht in Fiuss bringen,
sie nicht in die Vielheit der Tugenden auseinan||erlegen ; überall
hin nimmt er das ganze schwere und schwerfällige Gölterbild mit
sich. So ist auch seine eigene Tugend eine gediegene, aber un-
gewandte , welche sich nicht messen mag mit dem einzelsten Detail
des Lebens, mit der Manchfaltigkeit der sittlichen Verhältnisse;
sie hat sich noch nicht gestossen , noch nicht abgerieben an .den
Zuständen der Gegenwart, es sind noch ungemünzte Barren Goldes
und Silbers. Und ist nicht ebenso auch sein Freiheitssinn ein
Slubengewächs , unfähig den rauhen Lüften die draussen wehen
die Stirne zu bieten? Man fühlt es überall hindurch dass es diesem
Manne unmöglich war je den niedrigen Schmeichler zu machen,
einzustimmen in die schamlosen Huldigungen welche man den Ver-
worfensten darbrachte; aber wenn der Sturmwind der Tyrannei
gegen ihn daherbrauste, hätte er nicht scheu das Haupt gesenkt,
sich zu Boden geworfen? Er hat viel Gemüt, viel natürlichen
Sinn für das Gute, aber Charakter hat er nicht; dazu ist er zu
weich , zu weiblich ; grossen Katastrophen war er nicht gewachsen,
darum hat er sich selbst von solchen ferne gehalten, und würde
es wohl, auch fortan gethan haben, und wäre mit seinen Satiren,
wenn sie irgend einen Stachel hatten , wohl nie von selbst hervor-
getreten; davor aber dass er wider seinen Willen in Kämpfe und
Gegensätze hineingezogen worden wäre hat ihn ein günstiges Ge-
schick bewahrt. Dass es uns auch nicht an individuelleren Zügen
aus dem Charakter des Persius fehle, dafür hat sein Biograph
gesorgt durch die Angabe: er war von sehr sanftem Wesen
und jungfräulicher Keuschheit, und sein Benehmen gegen Mutter,
Schwester und Tanten wahrhaft exemplarisch. Wir haben hierin
ausser der natürlichen Beschaffenheit des Persius namentlich den
Einfiuss einer überwiegend weiblichen Erziehung zu erkennen.
Was die jungfräuliche Züchtigkeit betrifft, so scheinen ihr zwar
einige Stelleu aus den Satiren dieses Dichters, namentlich seiner
vierten und sechsten , zu widerstreiten. Aber einmal bezieht sich
jene Keuschheit zunächst und vorzugsweise auf das Handeln, da
die Prüderie der Worte dem Süden fremd ist; sodann aber sind
jene Stellen mit einem gewissen moralischen Ingrimm, mit ent-
schiedener innerer Entfremdung von der Sache selbst, mit einer
398 Penius.
Verachtung derselben, vfie aus der Person eines Andern heraus,
gesprochen; schlüpfrig sind sie durchaus nicht, wohl aber sehr
plump, und Verstössen weit mehr gegen den guten Geschmack als
gegen die Sitten.
2. In welcher Reihenfolge Persius seine sechs Satiren
verfasst habe lässt sich bei dem völligen Mangel untrüglicher
Anhaltspunkte nicht mit Sicherheit bestimmen. Indessen scheint
es dass die Ordnung in welcher wir sie haben wirklich die
chronologische ist. Diess hat schon an sich viele Wahrscheinlich-
keit für sich; denn da die Ordnung in allen Handschriften un-
verändert dieselbe ist, so wird sie die ursprungliche sein, die-
jenige in welcher die Stucke von Bassus herausgegeben wurden.
Hätte nun dieser irgend ein anderes Princip der Anordnung zu
Grunde gelegt als das chronologische, so hätte er ohne Zweifel
die an Cornutus gerichtete Satire, sowohl in dem Sinne ihres
Verfassei'S als auch aus Rücksichten persönlicher Dankbarkeit gegen
den der auch sein Freund war und der ihm gefällig den Ruhm
der Herausgabe dieser Satiren abgetreten hatte, an eine ehren-
vollere Stelle gerückt. Ausserdem aber ist es augenscheinlich dass
die Satiren des Persius ihrer inneren Beschaffenheit nach in zwei
Arten auseinanderfallen : auf der einen Seite steht die erste Satire,
welche kritisch-ästhetischen Inhaltes ist, auf der andern die übrigen,
stoische Sätze ausführenden. Zwar ist ein Band zwischen beiden,
indem die erste dazu dient dem Dichter gleichsam Raum zu machen
in der Literatur, seine Stellung in dieser festzusetzen, also den
weiteren Satiren den Weg zu bahnen; aber der Unterschied
ist doch in einer Weise vorhanden dass die Annahme unmöglich
ist, Persius habe zwischen die stoischen Satiren hinein jene
ästhetische verfertigt. Vielmehr muss diese entweder zu einer
Zeit verfasst sein wo Persius von jenen noch Nichts als den festen
Plan und den bestimmten Willen hatte, oder erst dann als die
doctrinellen Stücke fertig waren und ihr Verfasser nun über das
Verhältniss derselben zu der Zeitliteralur Reflexionen anstellte und
in dieser (ersten) Satire niederlegte. Nun ist aber die letztere
Annahme unmöglich , da wir ganz bestimmte Nachricht haben dass
Persius an der persönlichen Vollendung seiner Satiren durch den
Tod gehindert wurde; somit bleibt nur die erstere übrig, dass
Sat. I. zuerst verfasst sei. Diess wird dann auch von mehreren
Seiten her bestätigt. Einmal erklärt sich daraus dass das Pro-
gramm vor der wirklichen Ausführung verfasst worden ist die
Satiren. 399
manchfache Incongruenz beider, da offenbar Sat. I. ganz Anderes
erwarten lässt als dann folgt; sodann, dass Sat. I. einen Prolog
hat ist nur dann begreiflich wenn mit diesem Stucke ein Ziel
schon erreicht schien, wenn es sich als etwas in sich Abge-
schlossenes darstellte. Wenn aber Sat. II — VI. nach der ersten
verfasst sind, so fragt sich, in welcher Ordnung die Abfassung
dieser fünf erfolgte? Hier gibt die sechste Satire einen Anhalts-
punkt, sofern diese wirklich die von Persius zuletzt verfasste ist.
Nehmen wir denn an dass auch die übrigen in chronologischer
Ordnung stehen, so lässt sich dieses zwar aus der näheren Be-
schaffenheit derselben nicht weiter bestätigen, da innerhalb so
kürzer Zeit, bei so gleichem Gegenstande und so wenigen Stücken
das Vorhandensein eines auffallenden Unterschiedes, etwa eines
Fortschrittes, nicht erwartet werden kann; aber der Inhalt der
einzelnen Stücke selbst ist doch jener Annahme günstig, sofern
sich an denselben ein immer unbedingteres Hingeben an die
stoische Philosophie darstellt. Sat. II. behandelt noch einen
Gegenstand der nicht unmittelbar und ausschliesslich stoisch ist;
Sat. HI. aber fordert schon zum Anschluss an diese Philosophie
auf; hierbei geht der Dichter gleichsam mit gutem Beispiele voran,
indem er im Folgenden den Mittelpunkt der stoischen Ethik , die
Lehre von der wahren Freiheit, ausführt (Sat. V.), und als Vor-
bereitung und Einleitung hierzu in Sat. IV. die Selbstprüfung und
Selbsterkenntniss einschärft; Sat. VI. endlich macht den stoischen
Grundsatz des Anschliessens an die Natur zunächst nach Einer
Seite geltend , und es hätten sich hieran wohl später andere ähn-
liche Ausführungen angeschlossen.
Was endlich die Herausgabe der Satiren betrifft, so haben
wir hierüber wieder bestimmte Angaben des Biographen. Hienach
hat Persius dieselben nicht selbst vollendet, sofern er weder die
Sammlung mit sechs Stücken abschllessen wollte, noch auch das
sechste schon vollständig ausgearbeitet hatte. Hier half Cornutus
dadurch dass er einige noch ausgearbeitete Verse wegliess und
mit einem Satze endigte welcher einen scheinbar befriedigenden
Schluss bildet. Cornutus hatte anfänglich die Absicht die Heraus-
gabe der Satiren des Persius selbst zu besorgen ; als aber Caesius
ßassus ihn bat, an dieser Gelegenheit dem gemeinsamen Freunde
einen Liebesdienst zu erweisen auch ihn theilnehmen zu lassen,
so überliess er diesem die Herausgabe. Es scheint aber nicht
dass Bassus ausser der Anordnung der Stücke^ der Besorgung
400 Persius.
der ei*sleii Abschriftcu und der Verhandlung uiil einem Buch-
händkr über die Veranstaltung der weiteren Copien, irgend etwas
Anderes an den Satiren gelhan habe.
3. Persius als Satiriker. Wenn wir die Art betrachten
wollen wie Persius sich in seinen Saliren darstellt, so müssen wir
das was ihn als Menschen charakterisiert unterscheiden von dem
was über ihn als Dichter und Kunstler zu sagen ist. Der sittliche
Ernst, der Hass gegen das Schlechte, die Begeisterung für das
Gute, welche sich allenthalben ausspricht, muss uns für den
Menschen Achtung einflössen, darf uns aber für die ästhetischen
Mängel seiner poetischen Productionen nicht blind machen. In
jener Beziehung zeigt sich seine Tüchtigkeit darin dass er sich
mit voller Seele an die Stoa ergeben; aber darin liegt zugleich
ein grosser Theil seiner Mängel. Zwar wollen wir kein Gewicht
darauf legen dass er so auf die Originalität und Selbständigkeit
des Denkens verzichtet habe ; denn es findet sich in seinen Satiren
Manches was nicht unmittelbar auf die stoische Philosophie zurück-
zuführen ist, mancher schöne und tiefe Gedanke (z.B. II, 52 ff.
HI, 35 ff.) von dem wir wenigstens keinen anderweitigen Ursprung
nachzuweisen vermögen. Aber indem er so gleichsam Parteimann
wurde hat er sich den unbefangenen, klaren Blick ins Leben ge-
trübt; er sieht Alles durch die Brille der Schule an, und indem
er sich seine Lebensansichten nicht durch Anschauung des Lebens
selbst bildete, sondern vor dieser und ohne sie, und in das Netz
seiner vorher festgestellten Sätze die concreten Verhältnisse hinein-
zwängte, so ist seine Weltansicht eine trockene, leblose geworden.
Dass er aber durch die Philosophie den Humor verloren habe,
dass diese die Ursache sei warum wir in seinen Satiren vergebens
spähen nach dem bunten Farbenspiel des Witzes, kann man nicht
mit Recht sagen; denn jene Vorzuge hatte ihm die Natur von
Anfang an versagt, sie waren durch den Ernst seines Wesens von
vornherein ausgeschlossen; die glänzende geistige Beweglichkeit
des Horaz, sein keckes, mutwilliges Spielen mit allen Objecten und
allen Interessen , fehlt ihm ganz und gar. Und ebenso wenig darf
man meinen^ er sei zu früh gestorben als dass er über den Stand-
punkt der Schule hätte hinauskommen können; er starb in einem
Alter wo er dem Höhepunkte seiner geistigen Entwickelung nahe
war, und die Beurteilung muss sich jedenfalls an das halten was
vorliegt, und kann unwirkliche Möglichkeiten nicht mit in Rech-
nung nehmen. In dem Grade nun in welchem sich Persius der
Eigenthümlichkeit als Satiriker. 401
Stoa hingegeben hat hat er sich des Anspruchs auf den Namen
eines Dichters begeben ; denn ein Dichter der seinen Sloff nicht
aus sich selbst nimmt, sondern äusserlich Ueberkommenes in
Vörse bringt, ist kein Dichter, sondern ein Versmacher. Persius
ist kein reicher und kein gewandter .Geist; seine dichterische Be-
gabung ist klein, von schöpferischer Kraft ist wenig bei ihm zu
verspüren, und Leichtigkeit und Freiheit der Bewegung geht ihm
durchaus ab. Für seinen Ruhm ist er daher gewiss nicht zu
frühe gestorben: schon in den wenigen Stücken welche wir von
ihm haben zeigt sich ein gewisser Kreislauf in Gedanken, Wen-
dungen, Ausdrücken und Bildern"^); er hätte sich bald erschöpft
gehabt, hätte sich bald in eine Manier verrannt von der nicht
mehr loszukommen gewesen wäre; und fragen wir uns, wenn wir
statt fünf solcher stoischer Betrachtungen zehn und zwanzig hätten,
ob sich damit unsere Achtung vor dem Dichter verdoppeln und
vervierfachen würde, so werden wir diess wohl verneinen müssen.
Es liegt in der Natur einer solchen Richtung dass sie an Kurz-
athmigkeit leidet; der Dichter dieses Schlags ist zu Ende wenn
der Stoff von dem er sich nährt ausgeht, und diess um so ge-
wisser wenn es eine einzige Richtung ist die er verfolgt. Und
wie der Stoff des Persius ein begrenzter war, so war er auch in
formeller Hinsicht leicht zu erschöpfen. Denn schon jetzt, zu diesem
Wenigen, wie viel hat Horaz beisteuern müssen! Zwar nur in
Aeusserlichem , in einzelnen Ausdrücken und Wendungen, in allem
dem was sich ins Gedächtniss aufnehmen lässt, denn von dem
horazischen Geiste hat unser Dichter fast keinen Anflug, so sehr
er jenen kennt, versteht und zu würdigen weiss (vgl. 1, 116).
Aber gerade dieses Aeusserliche war am leichtesten zu erschöpfen,
wahrend der Geist eine unendliche Dehnbarkeit hat; und dass er
in jener Beziehung so gar Vieles aus Horaz her übergenommen hat
ist ein Beweis wie schwach er sich selbst fühlte, wie mühsam
er mit der Form zu ringen hatte. Zugleich ist sein Verhältniss
zu Horaz noch in anderer Beziehung für Persius charakteristisch.
Er lässt sich nämlich mit Horaz in einen Wettkampf ein, er will
ihn besser, schöner, poetischer machen. Horaz hat mit feinem
Tact und grosser künstlerischer Sicherheit Licht und Schatten
vertheilt, der Geist und Gedanke durchströmt bei ihm das Ganze,
♦) Z. B. das Bild von der Wage findet sich I, 7. 86. IV, 10 f. V,
100 f. 121. Vergleichung der psychischen Krankheit mit der physischen
III, 87 ff. 107 ff. ; mit V, 189 ff. vgl. HI, 77 u. dgl.
Teuf fei, Studien. 26
402 Persius.
daher der Leser von Anfang bis zu Ende gefesselt ist, ohne je
überspannt und ermüdet zu werden. Aber Persius hält dieses
weise Masshalten für Mangel an Kraft und Poesie, und sucht daher
nachzubessern, indem er das uas Horaz auf naturliche Weise aus-
gedrückt hat auf Stelzen stellt, was bei Jenem fein ist noch mehr
spitzt, bis es ganz abbricht, und wo Jener kräftig auftritt ihm
noch einen Sack auf den Rucken bindet, damit er noch kräftiger
einherschreite. Wir sehen also: um ein eigentlicher Künstler zu
sein, dazu fehlt es Persius an der erforderlichen Freiheit des
Geistes, an Selbständigkeit, Unbefangenheit, Geschmack, Takt
und Reichthum, Vorzüge welche freilich in seiner Zeit selten
waren. Aber das kann uns nicht hindern zu sagen: Persius hat
sie nicht.
4. Die Objccte der Satiren des Persius. Es liegt
in dem Regriffe der Satire dass sie ein Spiegel der jedesmaligen
Zeit ist; das Leben der Gegenwart, wie es einem denkenden
Kopfe, sittlichen Gemüte und künstlerischen Talente in ihr sich
darstellt, ist der Inhalt der Satire, und in je höherem Grade
oder je nach der Mischung in welcher der Satiriker jene Eigen-
schaften besitzt, wird auch seine Satire ein treueres und voll-
ständigeres Rild seiner Zeit liefern. Legen wir diesen Massstab
an die Satiren des Persius an, so finden wir dass dieselben in
dieser Hinsicht sehr wenig Ausbeute gewähren. Nur für die
Kenntniss des Geschmacks in seiner Zeit liefert Persius in seiner
ersten Satire einige Reiträge; aber dasselbe thut er auch un-
bewusst durch seine eigenen poetischen Productionen , in welchen
er selbst, mehr als er weiss und Wort haben will, dem Ungeschmacke
seiner Zeit huldigt. Bei ihm fehlt das Rand zwischen Subject
und Object, die Richtung von jenem auf dieses, die Beobachtung,
das Leben. Er kennt nicht die wirkliche Welt, sondern die
Rächer; die Theorie, die Philosophie ist seine Welt. Er deckt
keine Geheimnisse seiner Zeit auf, die Grundgebrechen derselben
berührt er nicht, und was er berührt ist kein wesentliches Ge-
brechen oder nichts aus seiner Zeit. Die ungeheure Entsittlichung
der damaligen Welt, die freche Heuchelei aller Verhältnisse, die
Schändlichkeiten und Lächerlichkeiten eines Nero, den nieder-
trächtigen Knechtssinn des Volkes und Senates, das verruchte
Treiben der Denuncianten, Alles das was uns Juvenaiis, was uns
Tacitus in so brennenden Farben schildert, wo finden wir ein
Wort davon bei Persius? Vergesset was die Riographie uns meldet.
Gegenstände seiner Satiren. 403
streichet die Namen des Cornutus und Bassus, ignoriert ein paar
kleine Notizen» und iiir seht diesen Satiren nicht mehr an aus
welcher Zeit sie sind, ihr seid verlegen ob ihr sie in die Zeit
des Lucilius oder des Trajanus, des Augustus oder des Justinianus
zu setzen habet. In schwindelnder Höhe hat sich Persius seine
Kanzel, errichtet, so hoch dass ihm die Menschen unter ihm als
ein grosser dunkler Fleck erscheinen , an dem er keine einzelnen
Personen zu unterscheiden vermag, und dass seine Declamationen
unvernommen über die Häupter der Menschen hingrollen. Das
Gebiet des Individuellen, die manchfachen Verwicklungen und
Verstrickungen des Lebens, diess ist das Feld für den sittlichen
oder ästhetischen Künstler, hier gibt es etwas zu ordnen, zu ge-
stalten, hier ist Widersland, Kampf, Arbeit, aber auch Lohn und
Genuss. Aber eben hievon hält sich Persius ferne, er sagt uns
was wir schon längst wissen, dass man gut handeln solle; aber
dass es eine Unzahl von Fällen gibt wo die sittliche Entscheidung
nicht so auf der Hand liegt, davon hat er keine Ahnung; er thut
nur einzelne Griffe in das individuelle Leben hinein, aber man
weiss nicht ob er es wirklich aus erster Hand hat, und er ver-
wendet es nur als Mittel der Darstellung, um einen abstracten Ge-
danken mit Fleisch und Blut zu umkleiden, einen allgemeinen
Satz anschaulich zu machen. Um was es' ihm eigentlich zu thun
ist, das ist die Doctrin, das Philosophem; das Leben hat für ihn
untergeordnete Bedeutung, ist nur Mittel zum Zwecke. Man über-
blicke die Reihe der Themata welche er in seinen Satiren be-
handelt: es sind lauter abstracte, theoretische, es sind stoische
Sätze, bei deren Durchführung er — aber wieder nach dem
Muster anderer Stoiker — das individuelle Leben zu Hülfe nimmt
und bei weicher er gelegentlich polemische Blicke auf allgemein
menschliche oder allgemein (und zu allen Zeiten) römische Zu-
stände wirft; Satiren im strengen Sinne sind somit seine Dich-
tungen nicht. Diess gilt von seinen fünf letzten Stücken vorzugs-
weise; in der ersten beröhrt er zwar Gebrechen seiner Zeit, aber
es sind keine wesentlichen, nicht die ursprünglichen, ausweichen
die andern erst hervorgehen, nicht die eigentlich wunden Stellen
des römischen Staatslebens, sondern solche die am ehesten noch
zu ertragen gewesen wären, die für sich, ohne Zusammenhang
mit dem sittlichen Zustande der Zeit, wenig zu bedeuten hätten,
nur literarische, ästhetische Gesunkenbeiten. Endlich sind die
Gebrechen die er etwa berührt, die Personen welche seine Rüge
26*
404 Persius.
betrifft, nicht aus seiner Zeil genommen. Wenn er z. B. (V, 177 ff.)
die Suclit bei dem Volke beliebt zu werden als eine der Arien
der Innern Unfreiheit aufführt, so wäre dieses Beispiel zur Zeit
der Republik allerdings passend gewesen, aber unter einem Nero
ist es ganz unstatthaft^ oder wenn er in demselben Zusammenhang
(V, 132 ff.) den erwerbslustigen Speculanten und Grosshändler er-
wähnt, so ist das nicht nur ein Beispiel das jeder Zeit gleijch
sehr angehört, sondern auch eine Thätigkeit an welcher das
Anerkennenswerthe überwiegt und welche dem weichlichen Ge-
niessen weit vorzuziehen ist. Was dann die Nennung von Personen
betrifft so unterlässt sie Persius entweder ganz und ergeht sich in
allgemeinen Schilderungen und Aussagen, theils communicativ
redend (vgl. z. B. 1, 9. 14 ff.), theils das unbestimmte Du an-
wendend, das Niemand trifft und Niemand wehe thut (z. B. 1, 26),
theils überhaupt einen Namen weglassend (wie I, 93 ff.), macht
auch wohl durch allgemeine Wendungen (wie I, 44. VI, 42) aus-
drücklich darauf aufmerksam dass er keine bestimmte Person im
Sinne habe; oder er nennt nur ganze Stände (1, 61. 111, 77 ff.
V, 189 ff.); oder endlich gibt er zwar Namen an, aber ganz all-
gemeine, typische, oder zwar persönliche, aber nicht aus seiner
Zeit, oder Personen aus seiner Zeit, aber ganz selten und nur
ganz niedrig stehende. Zu der ersten Art von Namen gehören
z. B. Baukis (IV, 21), Vettidius (IV, 25), Pulfennius (V, 190),
Personen bei welchen allen man ganz vergeblich nach irgend
welchen weiteren Notizen fragen würde. Wo er Personen aus
früherer Zeit nennt, da greift er bald iji ganz Abgelegenes zurück,
wie IV, 1 — 22, wo er die Form eines Dialogs zwischen Sokrates
und Alkibiades zur Einkleidung wählt, bald — und diess ist der
häufigste Fall — wendet er horazische Figuren an, also abermals
aus Büchern und nicht aus dem unmittelbaren Leben gegriffene.
Dabei verwischt er aber wiederum die individuelle Lebendigkeit
welche die Personen bei Horaz haben, und mischt Züge ein welche
die Umrisse der Gestalten undeutlich, verschwimmend machen;
so bei Bestius (VI, 37) den Griechenhass, bei Natta (III, 31 ff.)
die sittliche Indolenz. Original ist dagegen Persius in der Er-
wähnung des merkwürdigen Triumphes von Caligula (VI, 43 ff.),
und hiebei streift er nahe an seine eigene Zeit hin, die er wahr-
scheinlich mit Labeo (I, 4. 50) und Messala (II, 72) schon erreicht
hat. Aber diese Personen, sowie Kalliroe (I, 134), Pedius (I, 85),
Glyko (V, 9), sind lauter solche welche, wenn sie wirklich in die
Namennennung. Dunkelheit. 405
Zeit des Persius gehören, diese vorzugsweise Nennung keineswegs
verdienten; da gab es ganz andere Schurken zu brandmarken,
ganz andere Scbändlichkeiten an den Pranger zu stellen. Zwar
hat Persius sich nicht gescheut den Nero selbst zum Gegenstände
seiner Satire zu machen (s. I^ 103 IT.); aber ganz bezeichnender
Weise sind es nur dessen Verse an welchen unser Satiriker etwas
ausstellt.
5. Eigenthü mlichkeiten der Kunst des Persius.
Persius ist wegen seiner Dunkelheit zu fast sprüchwörtlicher
Berühmtheit gelangt» und gilt wirklich mit Recht für den schwie-
rigsten römischen Dichter. Diese Eigenschaft rührt daher dass sich
unser Satiriker über die sprachlichen, logischen und ästhetischen
Unmöglichkeiten kühnen Fusses hinwegsetzt und um jeden Preis
neu, tief, inhaltsschwer sein will. Der erste Grund seiner Dunkel-
heit ist seine Kürze, dass er den Gedanken abbricht ehe er zu
Ende geführt ist oder seine logischen Bezüge nicht ausprägt
(vgl. V, 59). Jedoch ist er nicht so unbedingt kurz dass er nicht
auch manchmal der rhetorischen Natur des Römers seinen Tribut
darbrächte, indem er sich um einen Gedanken herum im Kreise
dreht, anstatt von der Stelle zu kommen, vgl. I, 36 S. V, 30 ff. 96 ff.
und im Kleineren IV, 10. Weitere Quellen seiner Dunkelheit sind das
häufige Einmischen gelehrter Reminiscenzen (wie T, 109. HI, 56 f.
IV, 13), die affectierte Kühnheit und Seltsamkeit seiner Metaphern,
Tropen und Epitheta, die Wunderlichkeit seiner Zusammenstellungen
(z. B. I, 72. III, 81. IV, 49. V, 176. 184. VI, 28). Manchmal
hat es den Anschein als hätte sich der Dichter im Ausdrucke
vergriffen und aus Noth einen undeutlichen gewählt (vgl. IV, 48.
V, 60), häufiger ist aber der Fall dass Persius absichtlich den
gewöhnlichen Ausdruck vermeidet oder einen gewöhnlichen in
ungewöhnlichem Sinne gebraucht , z. B. V, 37. Andere Schwierig-
keiten entstehen duixh das absichtliche Verdecken des Gedanken-
gangs, und dadurch dass man da wo die Rede eine dramatische
Wendung nimmt häufig nicht weiss wo der Dialog anfängt oder
wo er ayfhört, ob der Dichter in eigener Person spricht oder
ein Interlocutor (vgl. z. B. III, 3 mit 58. 8. 19 ff. I, 56). Alle
diese Dinge sind aber keine Vorzüge, und das Ergebnis^ derselben,
die Dunkelheit, ist ebensowenig ein Vorzug. Indessen gewinnt
des Persius Schreibweise an Bedeutung und Interesse dadurch
dass sie eine der verbreitetsten Geschmacksrichtungen der damaligen
Zeit uns veranschaulicht. Nach dem merkwürdigen 114. Briefe
4< n] Per^ius.
Seneca's bewegte man sich oämiich damals in Bezug auf die
Darsleilnogsweise in lauter Eitremen: die Einen charakterisierte
Ueberladenheit, die Andern Rahlheil und Trivialitäl; die Einen
schrieben ganz aUerthümlich, die Andern bildeten nach Belieben
neue Wörter u. s. w. Von dieser Schilderung ist Einiges wie
ausdrücklich auf Persius gemünzt, und dieselbe zeigt uns zugleich
wie wenig Persius Grund halte in Sat. I. sich als strengen Ge-
srlimacksrichter zu gebärden; wenn er sich auch der breiartigen
Verschwommenheit und koketten Geschlecktheit nicht schuldig
machte welche der Schreibart eines Theiles seiner Zeitgenossen
eigen war, so ist doch seine Sucht immer nur Trümpfe auszugeben
in ästhetischer Hinsicht nicht weniger tadelnswerth.
Eine weitere Eigenthümlichkeit des Persius ist seine dra-
matische Haltung. Aber das ist eine ganz andere Art von
Dramatik als wir in den Satiren des Horaz bewundern. Dieser
hat künstlerbche Kraft und Fülle genug um eine gewählte Ein-
kleidung durch das ganze Gedicht mit immer neuem Witze durch-
zuführen; Persius aber ermüdet bald, er hat keine Ausdauer,
seine dramatischen Scenen haben keine Lebensfähigkeit, ilir
Lebensfaden ist ihnen zu kurz zugesponnen ; es reicht immer nur
zu einzelnen Auftritten, nie zu einem ganzen Drama. Auch wo
der Stoff nicht unglücklich gewählt wäre, wie IV, 1 — 22, weiss er
ihn nicht durchzufahren, er lässt ihn alsbald wieder fallen und
gebt zu andern Formen über, keine bat für ihn Werth, mit keiner
macht er Ernst, weil sie ihm immer nur Mittel sind um seinen
abstracten Gedanken aufzuputzen. Das Einzelne hat bei ihm
immer ein Streben sich in sich selbst abzuschiiessen und ab-
zurunden, jedes Stück will gleichsam das andere verdunkeln, .und
das Ganze würde daher auseinanderfdllen, wenn es nicht am Faden
eines allgemeinen Themas nothdurftig aufgezogen wäre. Man kann
daher kein einziges Stück des Persius als Ganzes mit Recht toben ;
was gut daran ist sind immer nur einzelne Theile, welche mit
besonderer Sorgfalt ausgeführt sind. Und hierin hat Persius ein
eigenthümiiches Geschick; er weiss uns Scenen und Figuren mit
solcher Lebendigkeit zu schildern dass es uns ist als ob wir sie
vor Augen sähen. Persius entwickelt hiebe! eine merkwürdige
Gabe psychische und physische Zustände in ihrer äussern Er-
scheinungsweise aufzufassen und darzustellen, eine Art semiotischen
Insiinctes, und einen mit seiner sonstigen unpraktischen Weise
scheinbar nicht zusammenstimmenden Sinn für Volksleben. Wenn
Dramatische Haltung. 407
man nach den Vergleichungen und Bildern welche ein Dichter
wählt den Kreis seiner Anschauungen, die Sphäre des Lebens in
welcher er sich bewegt hat, ausmessen kann, so sollte man Persins
für einen mitten im Volke lebenden Mann halten. Die meisten
seiner Vergleichungen und Ausdrücke tragen den volksthümlichen
Charakter an sich, wo ein an sich kleines und niedriges Verhältniss
zu Veranschaulichung und Belebung eines abstractereu Ausdruckes
auf eine schlagende Weise verwendet wird, vgl. z. B. I, 35. 66.
III, 61. V, 70—72. 138. 159 f. VI, 20. Und so sind auch die
Figuren welche er auftreten lässt, die Scenen welche er schildert,
grossentheils dem gemeinen Leben entnommen, und diesem Ge-
biete entspricht ebenso die Ausdrucksweise, der Gebrauch von
Sprüchwörtern, derben Obscönitäten, vielleicht auch — denn
wir können es jetzt nicht mehr beurteilen — die Wahl mancher
einzelnen Wondung deren Ursprung wir nicht zu verfolgen ver-
mögen. Aber jene Zuge sind erstens alle dem Stillleben ent-
nommen, das ihm am ehesten nahe treten musste, auch wenn er
sonst noch so zurückgezogen lebte,. und an dem er um so mehr
Merkwürdiges und Auffallendes gewahrte je weniger er sonst ins
Leben hinauskam. Sodann ist es nicht einmal nothwendig dass
Persius diese Zuge durch eigene Beobachtung sich sammelte: nach
einer Notiz des Johannes Lydus (de magistr. I, 41) ahmte er den
griechischen Mimendichter Sophron nach, und dieser musste un-
endlich reich an solchen Zügen sein, da die Darstellungen aus
dem Leben gerade den Inhalt der Mimen bildeten. Ueberdiess
war es eine Eigenthümlichkeit der stoischen Methode ihre Argu-
mentationen durch Beispiele aus dem gewöhnlichen Leben und
aus der Geschichte zu würzen, und die von Persius angewendeten
können daher zum guten Theile schon von seinen Vorgäng^ern
und Lehrern benützt worden sein. Die Natur jener Beispiele selbst
wenigstens verbietet eine solche Annahme nicht, da sie keiner
Zeit speciell angehören, sondern auf alle Verhältnisse gleich gut
passen, daher auch längst schon vorgebracht sein konnten. Mag
nun aber diese Genremalerei, welche den Hauptvorzug der Satiren
des Persius bildet, auf originalem Talente oder auf Nachahmung
beruhen, jedenfalls sind es bei ihm immer nur einzelne kleine
Ausschnitte aus dem Leben, diese sind schulmässig und mit einer
über das Individuelle wegfahrenden Manier ausgeführt und müssen
nur dazu dienen der Unbestimmtheit der allgemeinen Reflexionen
nachzuhelfen , das Ermüdende des e^ig scheltenden und lehrenden
4( )8 PersiuB.
Katliederloiis geniessbar und pikant zu machen, den Ernst der
didaktischen Tendenz zu mildern/ den Zweck des Proselyten-
machens zu unterstützen. Denn diess ist es ja was die Satiren
des Persius bezwecken, wodurch sie aber wiederum die Sphäre
des eigentlichen Kunstwerkes verlassen, dass sie einen einzelnen,
wenn auch wohlgemeinten, so doch ganz unpoetischen Zweck
haben, den nämlich zur stoischen Philosophie zu bekehren, die
Nolhwendigkeit des Anschliessens an sie zu beweisen (vgl. Hl) und
die Sätze derselben als wahr aufzuzeigen (vgl. bes. V).
Betrachten wir die Anlage der Satiren des Persius näher,
so finden wir dass der Dichter es liebt mit einer frappanten
dramatischen Scene zu beginnen, deren Bedeutung und Zusammen-
hang erst im Verlaufe klar wird (HL IV), welche aber nur einen
einzelnen Gedanken oder eine einzelne Seite desselben verkörpert
und, sobald dieser Zweck erreicht ist, wieder aufgegeben wird.
Ebenso macht er es mit den persönlichen Anknüpfungen (11. V.
VI), welche nur dazu verwendet werden 'einen Anfang zu bilden,
das Thema einzuleiten ; ist dieses geschehen , so lässt er sie fallen.
Im weiteren Fortschritte bedient er sich des Dialogs auf eine nicht
nachahmungswürdige Weise. Rasch lässt er ihn eintreten, aber
die redenden Personen gewinnen keine Consistenz, bekommen
keine festen Umrisse, keine Persönlichkeit; mit einem Male schiesst
ein Gegner mit einer Einwendung hervor, aber es ist dabei nur
um die Einwendung zu thun, der Gegner hat nur als Träger
derselben eine momentane Bedeutung; hat er seine Mission voll-
endet ^ seine Einwendung vorgebracht, so zerrinnt er wieder in
die Lüfte, ehe wir ihn recht zu Gesichte bekommen habend Noch
augenscheinlicher stellt sich als blose stilistische Wendung das
immerwährende Du in den Satiren des Persius dar. Es soll da-
durch der Anschein gewonnen werden als habe man es immer
mit einem einzelnen Gegner zu thun, als sei es ein wirklicher
Dialog; aber dieser Du, der immer und ewig haranguiert wird,
heisst Herr Jedermann, oder, was dasselbe ist, Herr Niemand.
Unser Prediger ruft nur im Allgemeinen ins Publicum sein Du
hinein: wer es dann auf sich beziehen will, der kann Notiz da-
von nehmen. Selbst wo der Angeredete einen Gegensatz zu
Andern bildet (wie I, 5 ff.) kann man sich von der nähern Gestalt
desselben kein bestimmtes Bild machen. Manchmal tritt die Un-
persönlichkeit dieser Persohen sehr naiv hervor, z. B. I, 44, vgl.
auch IV, 1. Sonst ist Persius sorgfältig bemüht zu verhüten dass
Anlage seiner Satiren.
409
man iliin in seine Werkstätte schaue; er verdeckt mit Kunst den
#
wirkliclien Gedankengang, fängt immer wieder wie von Neuem
an (vgl. z. B. I, 58. III, 35. 63. .88), lässt Mittelgedanken aus,
verbirgt Bindeglieder, wirft die Partikeln weg welche das logische
Verhältniss bezeichnen, und erschwert überhaupt auf alle Weise
die Einsicht in seinen Plaq. Indem aber Persius so das ur-
sprünglich abstract Gedachte nur in die rhetorisch - poetische Dar-
stellungsweise übersetzt und dabei jedes einzelne Glied der Argu-
mentation für sich heraushebt und mit seien Figuren umhängt,
ist die natürliche Folge dass dadurch die Einheit des Ganzen
gestört wird, dass die Entwicklung wie auf lauter Hügeln fort-
schreitet und das dazwischen Liegende übersprungen werden muss;
die einzelnen Partien sind zu selbständig, zu sehr ins Detail
hinein ausgeführt als dass sie sich recht in einander fügten; der
Dichter hat sie nicht gehörig behauen, bei dem Einzelnen nicht
immer das Ganze im Auge behalten, sondern jenes, als wäre es
selbst ein Ganzes, mit Liebe und Fleiss nach allen Seiten hin
ausgeführt (vgl. z. B. lil, 35 ff. 88 ff.), wodurch bewirkt wird dass
es öfters an der künstlerischen Verknüpfung der Theile fehlt und
diese aus einander fallen.
xvn.
Juvenalis.
1. Verbannnng Juvenars."^)
Dass Juvenal verbannt wurde, und zwar wegen eines Schau-
spielers, erwähnt Apollinaris Sidonius. Auf Histrionen finden sich
bei Juvenal mancherlei Anzüglichkeiten die deren Zorn erregen
konnten ; so Sat. VI, 63 &. auf ihre Beliebtheit bei dem weiblichen
Geschlechte, und VII, 87 ff. auf ihren — insbesondere des Paris
— Reichthum und Einfluss; und letztere Stelle wird von den alten
Lebensbeschreibungen des Juvenal als die Ursache seiner Ver-
bannung bezeichnet, insbesondere der Vers quod non dant pro-
ceres dabit histrio (Sat. VII, 90). Männer des Namens Paris
hat nun Juvenal zwei erlebt**), einen unter Nero, den andern
unter Domitian; da aber in der fraglichen Stelle als Zeitgenosse
des Paris der Dichter Statius genannt wird, so könnte der ge-
roeinte nur der unter Domitian sein, welcher bei diesem Kaiser
in höchster Gunst stand, aber im J. 83 (836 d. St.), weil er ihm
Grund zur Eifersucht in Bezug auf die Kaiserin gab, auf offener
Strasse ermordet wurde. Nur aber stehen der ganzen Combination
grosse Schwierigkeiten entgegen. Vor Allem dass Juvenal seine
Satiren (also auch die siebente) nicht schon unter Domitian ge-
schrieben hat, sondern erst unter Trajah. Zwar suchte man diese
Schwierigkeit zu umgehen durch die Annahme, die betreffenden
Verse seien unter Domitian einzeln erschienen (paucorum versuum
satira oder in Paridem quaedam carmina oder quosdam versus
fecit, die Vitae), und dann später d^r siebenten Satire nachträglich
*) Ans der Einleitang zu der metrischen Uebersetzung Juvenal's
von W. Hertzberg und W. Teuffei (Stuttg. 1865) S. 149 ff.
**) Vgl. meinen Art. in Pauly's Realenc. V. S. 1168 f.
Verbannung. 411
einverleibt worden*); aber diese Hypothese ist nichts als"ein kümmer-
licher Nolhbehelf, bei dessen concretem Ausdenken man überall
auf UnWahrscheinlichkeiten stösst. Noch bedenklicher ist das
chronologische Verhältniss. Wurde Juvenal unter Domitian wegen
seines Angriffs auf Paris verbannt, so hatte diess vor der Er-
mordung des Letzteren geschehen müssen, also spätestens Anfangs
836; diess wäre aber dann in den ersten Regierungsjahren dieses
Kaisers geschehen, nicht in den letzten (extremis), wie die Vitae
sich selbst widersprechend und widerlegend angeben; und dann
wäre — wie ich schon in Jahn's Jahrbb. 1845. XLIil. S, 111
bemerkt habe — die Detailkenntniss welche Juvenal von dem
Leben zu Rom während Domitian's Zeit beweist ganz unbegreiflich.
Auoh ist für Domitian's letzte Jahre JuvenaFs Anwesenheit in Rom
durch Martialis (VII, 24. 91. XII, 18) bezeugt. Ich halte daher
immer noch, wie vor mehr als fünfundzwanzig Jahren (a. a. 0.
S. 109 if.), für unmöglich dass man JuvenaFs Verbannung unter
Domitian setze. Mir scheint dass die betreffenden Gewährsmänner
selber nichts Positives darüber gewusst, sondern ihre Angaben
nur combiniert haben. Fest steht und war auch jenen Gewährs-
männern bekannt dass Juvenal verbannt wurde, und zwar wegen
eines Schauspielers; denn das ist uns durch das ganz bestimmte
Zeugniss des ApoUinaris Sidonius**) überliefert. Sehr glaublich
ist ferner dass es die einstimmig dafür angesehenen Verse in
Sat. Vli, 87 If. waren welche den Zorn des histrio und seines
kaiserlichen Liebhabers erregten; und auch das mag wahr sein
dass der Kaiser, wie erzählt wird, dem Dichter irgendwo die Ur-
sache andeutete durch ein et te Philomela promovit. Aber falsch
ist dass der Kaiser der diess that Domitian gewesen sei; vielmehr
uar es entweder Trajan oder Hadrian***). Von dem Ersteren wissen
wir (aus Dlo LXVIII, 10) dass er einen Schauspieler Pylades leiden-
schaftlich liebte; zu des Letzteren eitlem, reizbarem, feigem, aber
wo seine Eitelkeit verletzt wurde auch wohl gelegentlich malitiösem
Charakter würde die ganze Procedur recht' gut stimmen, wie auch
*) So auch Ribbeck, der echte Juvenal S. 70,
**J Ap. Sid. c. IX, 267 ff.:
non qui tempore Caesaris secundi
aeterno incbluit Tomos reatu;
uec qui consimili deinde casu
ad vulgi tenuem strepentis auram
irati fuit histrionis exsni.
***) S. meine angef. Abh. S. 112 f.
412 Juvenalis.
die meisten Angaben über Juvenafs ielzte Scbicksale und Lebens-
ende; Uberdiess macht es seine bekannte Leidenschaft für Antinous
glaublich dass er auch für einen histrio schwärmen konnte. Ich
denke mir, nach Anleitung der Worte des ApoUinaris Sidonius,
insbesondere des Verses ad vulgi tenuem strepentis auram, den
Hergang folgendermassen. Die Schwäche welche der Kaiser für
einen histrio hatte , und die sich wohl auch manchmal bei Stellen-
besetzungen bekundete, gab dem Publicum Veranlassung einst
öifentlich im Theater jenem histrio die bezeichneten — längst
gedichteten und veröffentlichten, aber nun durch ihre Anwendbarkeit
auf die Gegenwart besonders bekannt und populär gewordenen
— Verse der siebenten Satire zuzurufen, worüber derselbe so
aufgebracht wurde dass er dafür an dem Dichter, so unschuldig
er an der Sache war^), Rache nahm und bewirkte dass derselbe
unter glimpflichem Vorwand — militärischer Dienstleistungen —
aus Rom entfernt wurde. Wohin er entfernt wurde scheinen die
Verfasser der Vitae gleichfalls nicht gewusst zn haben : sie rathen
auf ganz Entgegengesetztes, auf Aegypten und Britannien**). Ilie-
Yon ist die Nennung Aegyptens sicherlich irrig aus Sat. XV, 45
geschlossen, da die Stelle nur beweist dass ihr Verfasser einmal
in Aegypten war. Dieselbe Entstehungsweise auch in Bezug auf
Britannien nachzuweisen will nicht gleich gut gelingen*"^*); auch
war es zum Verbannungsort viel geeigneter als Aegypten, und
uberdiess Schauplatz kriegerischer Verwicklungen und daher ge-
fährlicher; endlich wissen wir dass um jene Zeit die Cohorte bei
welcher Juvenal — nach der erhaltenen Inschrift von ihmf) —
früher Officier gewesen war in Britannien stand. Und so mag
Britannien das Land gewesen sein wohin Juvenal — wahrscheinlich
von Hadrian — verwiesen wurde. Ob er in der Verbannung ge-
storben oder nach Rom zurückgekommen sei^ darüber haben wir
keine zuverlässige Nachricht; für das Erstere könnte aber des
*) Die Worte enthalten in ihrem Zasammenhange keine Beleidigung,
kaum einen Tadel des histrio (vielmehr der proceres), sie können daher
etwas Beleidigendes nur durch die Art ihrer Anwendung erhalten haben.
Dass er aber nichtsdestoweniger sich an dem Werkzeuge rächte, statt an
dem eigentlichen Beleidiger, dem vielköpfigen und unverantwortlichen
Publicum, hat gewiss nichts Unwahrscheinliches.
**) Vgl. meine angef. Abh. S. 113—115.
***) Denn das Erschliessen aus Sat. II, 159 — 161 ist zwar nicht ab-
solut unmöglich, aber doch wenig nahe liegend.
t) Vgl. meine Römische Literaturgeschichte 313, 1.
Verbannung. Satiren. 413
Sidonius Parallelisierung des Falles von Juvenal mit dem des
Ovid (insbesondere auch die Hervorhebung des aelerno) angeführt
werden. Und dass Juvenal ein hohes Alter erreicht hat, darin
stimmen nicht nur alle Angaben überein sondern es geht auch
aus dem ganzen Verlaufe seines Le'bens und den in seinen Satiren
vorkommenden Zeitanspielungen unzweifelhaft hervor. Wenn eine
Vita wissen will Decessit longo senio confectus exsul Antonino
Pio imperatore (J. 891—914 <1. St. ^f» 138 — 161 n. Chr.), so ist
das immerhin möglich, und wenigstens uns nichts bekannt was
dagegen spräche.
2. Jnvenars Satiren.
Dass Juvenal seine Satiren unter Domitian nicht verfasst hat,
sondern erst unter Trajan, ist so selbstverständlich wie von den
Geschichtswerken des Tacitus und geht aus seiner ersten Satire
überdiess positiv hervor. £benso erhellt seine rhetorische Bildung
unzweifelhaft aus dem ganzen Charakter seiner Satiren ; und die
Angabe dass er ad mediam fere aelatem declamavit, animi magis
caussa quam quod scholae se aut foro praepararet, ist innerlich
ganz wahrscheinlich und steht mit keiner anderen sicheren That«
Sache oder Nachricht in Widerspruch.
Auf uns gekommen sind von ihm sechszehn Satiren, welche sich
in den Handschriften in fünf ßücher von ungefähr gleichem Umfange
eingetheilt finden, von denen das erste die fünf ersten Satiren
umfasst, das zweite aus der sechsten Satire besteht, das dritte
aus Sat. VU bis IX, das vierte aus Sat. X — XH, das fünfte aus
Xlil — XVI. Von sonstigen Gedichten des Juvenalis ist keine Spur,
'und auch kein Grund anzunehmen dass er mehr verfasst • habe
als auf uns gekommen ist"^). Wohl aber ist schon behauptet
worden dass das auf uns Gekommene nicht alles von Juvenal ver-
fasst sei. Die Echtheit der letzten Satire hat Heinrich bestritten,
Bd. U. S. 515 ff. 542 R. seines Commeutars, und K. Kempf Observa-
tiones in Juvenal. (Berlin 1843) p. 60 ihm beigestimmt, wogegen
W. E. Weber, in Jahn's Jahrbb. XXXIL S. 151 ff. (vgl. seine Ueber-
setzung, S. 604) die Unhaltbarkeit von Heinrich's Einwendungen ge-
zeigt hat; die Echtheit von Sat. XV hat Kempf angefochten, a/a. 0.
*) Denn bei der letzten Satire ist nicht sicher ob die Nichtvollendung
auf Rechnung des Verfassers zu setzen ist oder des Zufalls, der das
letzte Blatt verloren gehen Hess.
414 Juvenaliß.
p. 81 — 86, mit Gruodeu deren UnzuläDgliclikeit ich zu beweisen
gesucht habe, in Jahn*s Jahrbb. XLlIl. S. 118 — 120, sowie K. F.
Herinauu» ZCschr. f. d. AlL Wiss. 1844, Nr. 10. Neuerdings nun
hal 0. Ribbeck gar die Behauptung aufgestellt dass Sat. X, XII,
Xill, XIV, XV» XVI roHstandig, und auch in den früheren Satiren
ein grosser Theil dem Juvenalis untergeschoben sei. Seine Be-
weisführung beruht hauptsächlich auf dem logischen Fehler dass
die überlieferten Gedichte Juvenafs an einem willkürlich selbst-
geschalfenen Bilde von dei* Eigentliümlichkeit des Dichters ge-
messen und was nicht dazu stimmt kurzweg für unecht erklärt
wird. Indessen stimmen in Wahrheit die angezweifelten Gedichte
und Stellen in allem Wesentlichen mit den übrigen überein und
verratheu nur den Einfiuss der höheren Altersstufe des Dichters
in einem gewissen Nachlass wahrer Productionskraft"^). Wir
werden daher bei unserer nachfolgenden Schilderung der Dichter-
eigeuthumlichkeit des Juvenal die Echtheit aller Satiren — ^ we-
nigstens in ihrem wesentlichen Bestände — voraussetzen.
Dass die Ordnung in welcher die Satiren auf uns gekommen
sind in der Hauptsache die chronologische, die ihrer Abfassung,
sei wird dadurch wahrscheinlich dass die erste sich selbst ßls die
frstverfasste und als Einleitung ankündigt, während die letzten aus
ihrem matteren Tone und verwaschenen Farben schliessen lassen
dass der Dichter sie als Greis verfasst hat; auch ist unter den
— übrigens spärlichen — Zeitandeutungen in den Stücken keine
welche jener Annahme entgegenstünde, vielmehr gehört *die spä-
teste auch wirklich der vorletzten Satirc (XV, 27) an.
3. Juvenal als Satiriker.
Für die Satiren des Juvenal ist es nach verschiedenen Seiten
hin bezeichnend dass ihr Stoff die Zeit des Domitian ist. Juvenal
hal diese Zeit miterlebt und durchgelebt; schweigend hat er die
Greuelthaten und Niederträchtigkeiten unter dieser Regierung mit
ansehen müssen, und sein Gemüt ist dadurch mit Bitterkeit, Hass
und Verachtung erfüllt worden; und jetzt, da unter Trajan's
Scepter die lange gepresste Welt endlich wieder freier athmete,
bricht der angesammelte Stoif von selbst sich Bahn, die lange
*) Bas Nähere hierüber geben die Anmerkungen zu der Ueber-
setzung der Satiren, bes. S. 209. 341 f. und sonst.
Eigenthümlichkeit als Satirikei'. 415
verhaltene Entrüstung schafTl sich Ausdruck. Die nächste Folge
von der Wahl dieses Stoffes ist die dunkle Färbung seiner Satiren.
Schwarz in Schwarz gemalt sind Juvenai's Gestalten, die Manch-
faltigkeit der Farbennoischung , die Kunst der Vertheilung voji
Licht und Schatten vermisst man hei ihm. Nur Schmutz, nur
Gemeinheit und Beschränktheil gewahrt man üherall. Die Zahl
der Guten ist eine unendlich kleine (XIII, 26 L), Keuschheit und
Ehrlichkeit aus der Welt verschwunden (VI, 1 ff. XIII, 60 ff).
Die Welt ist für Juvenal die Hauptstadt; kaum dass vereinzelte
Ausblicke (wie II, 160 ff III, 190 ff. 223 ff IV, 126 f. 147 ff. VI,
83 ff.) uns daran erinnern dass ausser Rom auch noch etwas
existiert. Und dieses Rom ist durch und durch verdorben: kein
Verbrechen, kein Lasier gibt es das nicht hier in Blüte stünde;
die Schurken aller Nationen strömen hier zusammen und lassen
keinen Raum für ehrliche Leute. Rom wie es unter Domitian
war schildert nun aber der Dichter selbst unter Trajan lebend.
Dadurch wurde seine Aufgabe schwieriger, sie erforderte mehr
Kunst und Sorgfalt, mehr Vertiefung und Plan, damit die Zeiten
nicht in einander filiessen; dass aber Juvenal hievon ein klares
Bewusstsein gehabt und danach gehandelt hätte geht ^us seinen
Satiren durchaus nicht hervor. Perspectivisches Zeichnen scheint
seine Sache nicht zu sein; die grössere künstlerische Ruhe, das
Masshalten, die versöhnte Stimmung, den weiteren Gesichtskreis
und die epische Glätte welche sich daraus hätte ergeben sollen
dass es etwas Vergangenes, hinter ihm Liegendes ist was er
schildert, hat er nicht eintreten lassen, sondern den gleichen
Eifer aufgewendet wie wenn er noch mitten stünde in dieser
grauenvollen Zeit und jeden Augenblick dadurch zu leiden hätte*).
Ueberhaupt hat ihn jene Differenz zwischen der Zeit in welcher
er schreibt und der welche er darstellt nicht viel Kopfzerbrechen
gekostet: er ignoriert sie einfach. Hätten wir nicht seine eigene
Erklärung (I, 170 f.) dass er die Gestorbenen zum Gegenstande
seiner Darstellung machen wolle, und merkten wir es nicht aus
manchen geschichtlichen Zügen, so könnten wir wirklich meinen
Juvenal rede von und zu der Gegenwart. Selten wird irgend
welche Zeit ausdrücklich und deutlich bezeichnet (wie II, 29 ff.
*) Einigermassen gemildert wird die Schiefheit dieses Verhältnisses
dadurch dass Juvenal die Zeit des Domitian selbst auch erlebt hat und
so die Empfindungen die er ausspricht wenigstens selbst auch — im
Stillen — gehabt haben kann.
. 416 Juvenalis.
IV, 37 ff. Vm, 212 ff., wogegen VII, 1 ff. unbestimmt genug ist),
in der Rege! hätl sich die Darstellung in eigenthümlicher Schwebe,
im Gebiete des Allgemeinen, Zeitlosen. Diese Vermischung und
Verwischung der Zeit verräth sich ganz besonders auch in den
bei ihm vorkommenden Personen. Nennt er überhaupt solche,
so sind sie entweder fingierte oder willkürlich gewählte oder
typische oder allgemeine oder unbedeutende oder der Vergangen-
heit angehörige, und zwar meist einer recht entfernten, wie der
des Cicero oder gar des Luciiius. Dagegen finden sich ausnahms-
weise Namen welche unzweifelhaft der Zeit angehören in welcher
Juvenai schreibt, wie Marius Priscus (I, 49 ff. Vlii, 120), Isäus
(Hl, 74), Archigenes (Vi, 236 und sonst), Galliens (XIII, 157).
Solche konnten, bei dem einmal gewählten Standpunkte, auch nur
durch Inconsequenz in seinen Satiren eine Stelle finden. Freilich
wurde die Zeitlosigkeit ihm dadurch erleichtert dass es vorzugs-
weise die socialen Gebrechen und Laster sind die er zu seinem
Gegenstande macht, die Krebsschäden der Gesellschaft, welche in
der Zeit des Trajan nicht viel anders sein mochten als in der
des Domitian. Dass Juvenai hiebei mit Vorliebe die eigent-
lichen Laster behandelt, nicht etwa blos die Thorheiten und
Verkehrtheiten, hängt theils damit zusammen dass jene für
declamatorische Behandlung ein ausgiebigeres Thema waren,
theils wohl auch mit der Altersstufe auf welcher Juvenai seine
Satiren verfasste.' Sehen wir ab von der greisenhaften Haltung
der spätesten, so zeigen die Satiren im Ganzen den Dichter als
einen Mann der die Mittagshöhe des Lebens schon erklommen
und den das Leben und die Erfahrung nich^ nur um die Illusionen
der Jugend gebracht hat sondern auch um seinen Glauben an die
Menschheit, um seine Liebe zur Gegenwart und um seine Hoffnung
auf eine bessere Zukunft. Freilich ist bei Juvenai keineswegs
sicher wie viel von seinen Aeusserungen wirkliche Ueberzeugung,
wie viel auf die Rechnung des declamatorischen Pathos zu setzen
ist. Insbesondere die Freundschaft mit Martialis — mit welchem
er auch stofflich wie in einzelnen Gedanken und Wendungen oft
genug zusammentrifft '^) — könnte darauf führen dass es mit der
ernsten düsteren Miene weiche Juvenai in seinen Satiren annimmt
*) Vgl. W. E. Weber zu Sat. III, 220 ff. 267, S. 323. 326. Auch
s. meine Einl. zu Sat. V u. vgl. Sat. II, 3 mit Mart. I, 24, 3; Sat. V,
109. 147 mit Mart. XII, 36, 8. I, 20, 4; Sat. VI, 196 ff. mit Martial. VI,
23; Sat. VI, 184 ff. mit Mart. X, G8; Sat. VI, 492 tf. mit Mart. II, €0.
Eigentliümliclikeit als Satiriker. 417
nichC so gar viel auf sich habe. Indessen auch Martial sagt von
sich: obscena est nobis pagina, — vita proba est; und Juvenal
brandmarkt (Sat. II, 3 vgl. IV, 106) ausdrücklich Solche welche
in ihren Worten und Schriften die Sittenrichter spielen, während
ihr eigenes Leben sehr weit davon entfernt ist dazu irgend welches
Recht zu geben. Auch dass Martial von seinem Freunde Juvenal
voraussetzt^) dass er sich zu Rom in der Suburra umhertreibe
— bekanntlich einem der belebtesten, aber keineswegs tugend-
haftesten Stadttheile — beweist nichts gegen den Charakter unseres
Satirikers, da nach dem ganzen Zusammenhange Martial nicht
die Genüsse, sondern die Beschwerden und Unannehmlichkeiten
Roms hervorhebt und daher auch den Besuch der Suburra nur
als eine fatale Nothwendigkeit zum Behufe der Studien des Sa-
tirikers sich denkt. So sehr daher auch die Person des Dichters
in seinen Satiren zurücktritt, so ist doch kein Grund anzunehmen
dass ein Dualismus besteht zwischen Juvenal dem Menschen und Ju-
venal dem Satiriker, vielmehr ist glaublich dass die ernste Stimmung
welche die Grundlage seiner Satiren bildet ihm selbst auch eigen und
natürlich war, nicht blos eine vorgenommene Maske. Nur dass das
Selbstempfundene künstlich gesteigert, rhetorisch übertrieben ist
wird sich nicht bestreiten lassen. Und jedenfalls ist das gemeinsame
Product aller dieser Factoren eine trübe, pessimistische Anschauung
von den Dingen und den Personen, von den Menschen wie den
Göttern. Juvenal's Welt ist götterlos, seine Lebensluft ist eine
schwüle, beengte, durch greuliche Dünste verpestete; kein Licht
leuchtet ihm in der bangen Unstern Nacht, kein Trost, keine
Hoffnung, keine Erhebung aus dem Greuel, nichts als Schatten
und Verzweiflung. Kein Blick hinaus aus der traurigen Gegen-
wart in eine lichtere Zukunft, nur öfters ein Blick zurück auf
eine bessere Vergangenheit**), aber dieser Blick stimmt ihn nur
noch bitterer und dient ihm nur als Folie für seine Nachtbilder.
Die dunkelsten Partieen sucht er sich mit Vorliebe auf und führt
sie bis ins Einzelste hinein mit solcher Gründlichkeit aus dass
es ist als freute er sich darüber wenn die Menschen recht schlecht
sind, weil sie ihm dann willkommenen Stoff bieten über sie los-
•) Martial. XII, 18 in.:
dum tu forsltan inqaietus erras
clamosa, Juvenalis, in Suburra.
**) Vgl. I, 94 f. II, 73 f. m, 312 ff. VI, 265 f. 287 ff. 342 ff. VIII,
98 ff. XI, 77 ff. XIII, 53 ff. XIV, 160 ff. 179 ff. XV, 166 ff.
Teuffel, Studien. 27
418 JuvenaÜB.
zuziehen. Juvenal hat kein Grauen, keinen Ekel vor dem Häss-
liehen, er spricht davon mit der Rückhaltslosigkeit des Arztes.
So wird er wohl oft kolossal obscön, aber nicht üppig; nicht
im verführerischen Florkleid treten seine Gestalten auf und nur
soweit verhüllt um nach dem Ganzen lüstern zu machen , sondern
sie sind nackt und zeigen Formen die nichts weniger als reizend
sind; wenn er dennoch manchmal Anstoss gibt; so kommt diess
theils von dem Drastischen der Ausmalung her theils davon dass
seine Gestalten nicht ursprünglich nackt sind — wie die des
Aristophanes*) — sondern erst entkleidet. Von Juvenal kann
man mit ganz anderem Recht als von Horaz eine „furchtbare
Realität ohne eigentliche Poesie"**) aussagen, ja sogar einen
materialistischen Charakter seiner Kunst. Darin zeigt er sich
freilich nur als Römer und als Rhetor. Der Römer Weise hat
überhaupt etwas Massiges, Klobiges, die Kehrseite und Ueber-
treibung ihrer Solidität; nimmt man dazu noch vollends die Un-
ersättlichkeit und Plumpheit des Rhetors, so erklären sich Aus-
malungen wie Sat. II, 32 f. IX, 43 f. oder die des Greisenthums
X, 190 ff. oder Widerlichkeiten wie XV, 54 ff. 78 ff. Wenn
Persius in seinen Satiren auf die Wirklichkeit wenig Rücksicht
nimmt, sondern nur ein Ideal darstellt, und zwar ein einseitig
gefasstes***), so ist Juvenal in das entgegengesetzte Extrem ge-
fallen: er gibt nur die Wirklichkeit, und zwar diese grass und
einseitig dargestellt, der andere Restandtheil im Begriff der Satire,
das Ideal, fehlt bei ihm. Nur eine Gonsequenz davon ist dass
er auch die Götter nichts gelten lässt. Zwar dass er auf die
— oft nicht einmal veredelten — Menschengestalten nichts hält
mit welchen der Volksglaube seinen Himmel bevölkert ist sehr
begreiflich: er spricht hier nur mit Offenheit aus was allgemeine
Ansicht in seiner Zeit war (s. II, 149 ff. XIII, 37 — 52). Aber
er behandelt diese Gegenstände des einstigen Volksglaubens mit
einem Sarkasmus, einem Hohne welcher an Frivolität streift und
mit Religion und Religiosität überhaupt unvereinbar ist. So
Sat. H, 31. 131 f. HI, 139. IV, 36. VI, 59. 176 f. 394 f, und
auch XIII, 37 ff. enthält viel Anzügliches. Ein Ausflnss dieses
Mangels an aller Idealität, dieses Nihilismus ist ferner sein Ver-
halten gegen das weibliche Geschlecht, wie es sich besonders
*) Vgl. meine Ausgabe der Wolken (Leipzig, Teubner 1867) S. 17.
**) Vgl. meine Charakteristik des Horaz (Leipzig 1842) S. 14.
•♦♦) Vgl. oben S. 400 flf.
Sein Pessimismus. 419
in der sechsten Satire kundgibt. Eine Art von Weibern nach
der andern nimmt er hier vor und malt sie mit seinem Pinsel,
der lieber karikiert als schmeichelt, und schildert al^ ihre Un-
tugenden und Laster in grösster Ausführlichkeit; aber nachdem er
mit dieser Aufzählung zu Ende ist hält er sein Thema für er-
schöpft: eine gute Frau oder auch nur eine erträgliche Frau
kennt er nicht. Und nicht etwa blos von den Weibern iu Rom
— und dem damaligen Rom — will er diess aussagen, sondern
er behauptet dass das Schlechtsein zum Wesen und Begriff des
Weibes gehöre (VI, 134 f.). Und mit der gleichen Schwarzsichtig-
keit und Bitterkeit spricht er sich auch an andern Stellen (wie X,
321 ff. XI, 168 AT. Xni, 191 f.) über die Weiber aus. Dabei
entschädigt Juvenal für diesen Mangel an Idealität nicht einmal
durch desto grösseren Ernst und grössere Tiefe der sittlichen Be-
griffe. Zwar wird besonders in den späteren Satiren viel moralisiert,
und manchmal (wie IV, 8= XIV. XIII, 86 ff. 249) nimmt er auch
Anläufe zu höheren Standpunkten; aber wie wenig das tief geht
und wie völlig der Dichter beherrscht ist von engen nationalen und
socialen Vorstellungen zeigt namentlich die zweite Satire, wo
V. 65 ff. den widernatürlichsten Ausschweifungen das Tragen eines
durchsichtigen Gewandes an die Seite gestellt und v. 143 gar
als noch schlimmer denn jene Naturwidrigkeiten das Auftreten
eines Vornehmen als Gladiator bezeichnet wird, — ganz in dem
gleichen Geiste aus welchem auch 1, 22 f. VI, 33 f. VIII, 112 ff.
185 ff. gesprochen ist. Wie erquickend ist, mit solchen Grass-
heiten und Missgriffen verglichen, die Satire des Horaz! Heiter
und wolgemut rudern wir mit ihm auf den Wellen des Lebens
umher, und wenn er auch mutwillig den Kahn ins Schwanken
bringt oder wenn er uns in Untiefen führt , in Strudel uns hinein-
reisst^ so sehen wir doch überall seine Hand ruhig und fest, wir
haben in seiner Person eine Gewähr dafür dass es nicht übel
abläuft, dass es so schlimm doch nicht ist; die Klarheit und
Freiheit und Heiterkeit des Geistes, die auch in allen Verwick-
lungen ihn nicht verlässt, flösst uns Vertrauen ein und hält unsere
Achtung vor der Menschheit aufrecht. Juvenal's Satiren dagegen
fehlt es an Erhebung über die schlechte Wirklichkeit, an Licht
zu dem Schatten, an Versöhnung nach all den wehthuenden
Bildern. Nur vereinzelt finden sich bei ihm Gedanken und Züge
an denen man eine ungetrübte Freude haben kann. So spricht
warmes Gefühl für die unverfälschte Natur aus Sat. HI, 18 ff.,
27*
420 JuTenalis.
echter sittlicher Adel aus UI» 54 ff., lebendiges Natiooalbewusstsein
und Hannessloh aus HI, 66 ff. 81 f. 84 f. V, 164 ff. 170 fr.; so
verräth h«nanen Sinn H, 93. VI, 222. XV, 138 ff.; eine edle
Denkweise VI«, 20 ff. 79 ff. XIH, 192 ff.; auch an weiteren Ge-
sichtspunkten fehlt es nicht ganz (wie VI, 292 f.); eine schöne
Schilderung des echten Dichters enthält VII, 53 ff. und ein gol-
denes Wort XIV, 47. Dergleichen Stellen lassen es nur beklagen
dass ihr Einfluss auf die gesammte Anschauuog und den allgemeinen
Ton des Satirikers kein grösserer ist.
Freilich einem Stoffe gegenüber wie Juvenal ihn sich gewählt
hat wäre die lächelnde Halbmoral eines Horaz nicht an ihrem
Platze gewesen; ein solcher Stoff trieb zum Ernste, zum Zorne,
zum Poltern. Aber dass er sich diesen Stoff gewählt hat, darin
eben zeigt sich die Masslosigkeit des Rhetors. Und ein Rhetor
ist Juvenal doch zu allererst und vom Scheitel bis zur Zehe"^}.
Die Gewöhnungen der Rhetorschule, denen er bis weit ins männ-
liche Alter hinein nachhieng, haben ihn auch zur Satire begleitet
und zeigen sich hier theils in der schulmässigen Art wie er seine
Gedichte anlegt theils in dem einförmigen Pathos seines Tones.
Juvenal pflegt ein bestimmtes Thema in nüchterner regelrechter
geradlinigter Weise durchzufuhren, so dass die Disposition mit
wenig Muhe nachzuweisen ist^. So z. B. Sat. Vll, X, XIII. In
der zehnten erörtert Juv. zuerst um was man die Götter nicht bitten
soll (Reichthum, Macht, Beredt samkeit, Ruhm, langes Leben,
Schönheit), zuletzt (v. 346 ff.) positiv, um was. Aber im Einzelnen
ist sein Plan doch wieder manchmal schwer zu erkennen. Nicht
als ob er neckisch auf etwas scheinbar Heterogenes überspränge,
dessen Zusammenhang und Zweck erst im Verlaufe klar wird,
wie Horaz; so viel Kunst besitzt Juvenal nicht; wohl aber stellt
er die einzelnen Glieder und Theile seiner Beweisführung unver-
bunden neben einander und fangt scheinbar von vornen an, so
dass oft wirklich nicht zu ermitteln ist warum dieser Gedanke
gerade diese Stelle einnimmt, was auf ihn geführt hat und wozu
er führen soll. Diese Art der Anlage zieht zwei weitere Nach-
theile nach sich. Einmal dass alle Abweichungen von der geraden
*) Eine Verkennimg dieser Thatsache ist die Bibbeck^sche Unter-
scheidung von Javenalis satnrae nnd Declamationes qnae Javenalis no-
mine feruntur. Als ob jene satnrae nicht auch declamationes wären!
**) Von dieser Wahrnehmang ausgehend hat O. Ribbeck Alles was er
nicht in die Disposition hineinbrachte gutes Muts für interpoliert erklärt.
Rhetorik. Anlage der Satiren.
421
Linie der Entwicklung, die sich denn doch nicht vermeiden lassen,
nun als wirkliche Abschweifungen und als störend erscheinen.
Wenn ein Plan nicht nach dem Princip der Schönheit angelegt
ist, sondern nach der Schnur, so wird jede Abweichung von ihr
widrig und zum Fehler. Juvenal aber sucht solche Abweichungen
öfters auf, vielleicht eben um die selbsterkannte Einförmigkeit
seiner Anlage zu mildern, manchmal abei^ gewiss auch nur um
seine Schulgelehrsamkeit anzubringen. So kann nichts unzeitiger
sein als Sat. XII, 102 ff. mitten in die Erörterung über die Erb-
schleicherei hinein der Excucs über die Elephanten'^); so kann
Juv. X, 220 ff. für einen ganz untergeordneten Punkt nicht Bei-
spiele genug herbeischleppen. Sodann wird ein Plan, je schul-
gerechter er ist, um so sicherer und schneller ermüdend, die
Uebergänge werden mühsam, matt, kahl und trocken — wofür
die sechste Satire die zahlreichsten und stärksten Belege liefert"^^]
— und wiederholen sich in bestimmten Zwischenräumen; künst-
lerische Einkleidungen werden entweder gar nicht versucht oder
werden sie von dem schulmässigen Thema überwuchert und ge-
langen zu keinem Ernste, keiner Consequenz, Anschaulichkeit
und plastischen Abrundung. Eine glückliche Ausnahme hievon
macht nur etwa die dritte Satire , einigermassen (doch mit starken
Einschränkungen) auch IX, XI und XII***); alle andern verrathen
wenig Geschick in ihren Einkleidungen. So nimmt die sechste
Satire die Miene an als sollte einem Heiratslustigen sein Vorhaben
ausgeredet werden durch Hervorhebung der Fehler des weiblichen
Geschlechts, insbesondere ihrer Untreue; dieser Heiratslustige
bleibt aber uns völlig fremd. Ebenso in der fünften Satire ge-
winnt der angeredete Parasit keine persönlichen Umrisse, sondern
bleibt nur ein Parasit überhaupt, gleichsam ein Gattungsbegriff.
Andere Stücke leisten auf die Form und den Anspruch eines
poetischen Kunstwerks geradezu Verzicht, wie namentlich die
späteren Satiren, wo der Dichter die doch vergebliche Be-
mühung lieber vollends ganz aufgibt und ein abstractes Thema
rhetorisch und mit Beispielen aus Geschichte und Leben ausführt,
wie Sat. XIV die Strafe der Sünden, XV den verderblichen Ein-
fluss des Beispieles der Eltern auf die Kinder; XVI die bevorzugte
*) Vgl. Hertzberg'fl Anm. S. 308 und zu XI, 126.
**) Mit ihrem einförmigen Fortschritt durch quantitative Steigerung,
Aehnlich II, 143. VIII, 183 f. 199,f.
♦♦♦) Vgl. Hertzberg's Anm. S. 298 und 308.
I
422 JavenaliB.
•
Stellung des Kriegerstandes. Zu einem wahren Kunstler fehlt
dem Juvenal die Genialität , die leichte geschmackvolle Gruppierung
des Stoffes, die Formbeberrschung; keuchend kommt er daher, und
kaum hat er, von der Natur überwältigt, einen Augenblick Pause
gemacht, so rafft er sich von Neuem auf um seinen muhseligen
Weg fortzusetzen. Denn was seinen Ton betrifft, so ist dieser
einförmig eifernd , erregt, predigend, scheltend, abkanzelnd. Ju-
venal hat ein künstlich gesteigertes, krankhaft erhitztes Wesen,
wie Perslus und viele andere Schriftsteller des ersten Jahrhunderts ;
er redet sich in die Hitze und eine Art Leidenschaft hinein, wird
beredt, ja redselig, und will doch zugleich alles Einzelne energisch
und bezeichnend ausstatten; er spricht lange und viel, ohne darum
weniger laut und pathetisch zu sprechen, und ermüdet dadurch
sich selbst und seine Hörer. Er trägt die Würzen so stark auf
dass seine Gerichte dadurch schwer geniessbar werden ; er steigert
die Eigenschaft des Pikanten — in welche diese Zeit ihren Haupt-
stolz setzte — ins Uebermass, er strebt mit Bewusstsein nach dem
haut-goüt der auch den Tacitus charakterisiert wie andere Zeit-
genossen. Seine Ausdrucksweise^ ist prägnant, gewählt und gehoben,
manchmal sogar wo diess nicht am Platze ist, wie namentlich die
rhetorische Figur der Anrede oft zwecklos angewandt ist; aber das
gehört nun einmal zu seiner Manier , die ihm überallhin nachgeht,
der Kothurn ist seine gewöhnliche Fussbekleidung geworden, die
er auch auf der Strasse nicht ablegt. Ebenso sind seine Verse
markig, schwungvoll und recht absichtlich erhaben und volltönend
gebildet. Indem er daneben aber nicht müde wird zu reden und
Immer neue Züge zu seinen Bildern hinzufügt, bis sie zuletzt
überladen sind, so wirken die entgegengesetzten Eigenschaften
der Gedrängtheit und der Redseligkeit gegenseitig schwächend und
trübend auf einander: declamiert er, so hat er nicht die Leichtig-
keit und den Fluss eines guten Declamators; ist er gedrängt, so
fehlt es ihm an Natürlichkeit und Klarheit. Indessen sind die
Fälle doch auch nicht selten wo er, vom Stoffe fortgerissen, seine
Manier vergisst und lebendig, anschaulich, warm, ja sogar humo-
ristisch wird. So besonders wiederum in der dritten Satire
(namentlich v. 73 ff. 278 ff.), welche vielleicht die Denk- und
Sprechweise seines Freundes Umbricius nachbildet und darum so
originell, so abweichend von dem Grundtone der andern Satiren
ausgefallen ist; doch enthält auch die sechste viel Schelmerei und
heitere Bosheit (z. B. v. 31 ff. 94 ff. 1 10 ff. 272 ff.), nur dass es
Ton seiner Satiren. / 423
viel zu lange fortgeht und neben den sonstigen Uebertreibungen und
Kapuzinaden kaum zur rechten Geltung gelangt; und lebendig ist
auch die Schilderung VI, 481 ff. Gemütliche Wärme und fast
idyllische Vertiefung ins Kleine zeigen Stellen wie lll, 18 ff. 175 f.
226 ff. V, 143 ff. VI, 605 ff. VIII, 149 f. IX, 60 f. und auch der
bittere Humor der siebenten Satire (z. B. v. 150 ff.) ist ansprechend.
Feine sinnige psychologische Bemerkungen finden sich z. B. X,
96 f. 328 f. Aber im Ganzen sind dergleichen Stellen doch nur
Ausnahmen, und beweisen nur dass Juvenal mehr in gelungener
Ausführung einzelner Scenen und Bilder seine Stärke hat als in
künstlerischer Gestaltung des Stoffes im Grossen, etwa wie Persius
und Jean Paul. Am meisten aber erinnert die Weise des Ju-
venalis an die des Tacitus. Beide halten ihrer Zeit die Vergangen-
heit als Spiegel vor und Beide malen auf dunklem Grunde mit
energischen Farben, wobei Tacitus sich überwiegend mit der
politischen Seite beschäftigt, Juvenal mit der socialen. Aber der
melancholische Zug, der den Tacitus so interessant macht, seine
Trauer und Wehmut über all das Schlechte das er berichten
muss, geht dem Juvenal völlig ab, er macht vielmehr den Ein-
druck als ob es ihm ganz behaglich wäre in dieser Atmosphäre,
und als ob er einer starken Emotion bedürfte für seine Gesund-
heit; überhaupt findet sich bei ihm so gut wie Nichts von dem
idealen Zuge, der Sehnsucht nach dem Lichte einer besseren
Zeit, welcher als ein milder Accord die ganze Darstellung des Ta-
citus begleitet. Auch die Kritik geht bei Beiden aus einer diametral
verschiedenen Tonart: wo Tacitus sarkastisch, schneidend, äzend
ist, da schlägt Juvenal geräuschvoll, derb, ja plump darein. Auch
sind seine Gestalten ebenso generisch gehalten wie die des Ta-
citus in das feinste psychologische Detail hinein ausgearbeitet.
Mit seinen Vorgängern innerhalb der Satire, mit Horaz und Per-
sius, verglichen muss Juvenal dem Ersteren in jeder Beziehung
den Vorrang lassen. Horaz steht über Juvenal genau so hoch
wie ein Künstler und Dichter über einem Rhetor und De-
jclamator. Mögen JuvenaFs Beobachtungen umfassender sein als
die des Horaz, aber feiner und tiefer sind sie nicht, und der
Weitblick des Horaz fehlt ihm gleichfalls. Allerdings hat die
wesentlich verschlimmerte Zeit grellere Farbengebung und einen
gröberen Pinsei nöthig gemacht; aber Juvenal hat absichtlich und
ausschliesslich die schwärzesten Partieen sich zum Gegenstande
gewählt und dadurch eine Zeit die an sich schon hässlich genug
424 Juvcnalis.
war noch hässlicher gemacht. Dagegen mit Persius kann sich
Juvenal wohl messen. Was jenem mangelt, das Eingehen auf
das wirkliche Leben, die Beobachtung, das hat dieser im Ueber-
roass; Juvenal ist an Anschauungen ebenso reich als Persius daran
arm ist; aber eben dadurch sind Juvenafs Satiren ins Breite ge-
rathen, fehlt ihnen die Zusammenfassung in einen Grundgedanken,
die klare Beziehung auf einen Mittelpunkt, das Einheitliche, welches
Persius freilich leicht festhalten konnte, weil er aus der Einheit
Oberhaupt nicht herausgieng, in die Manchfaltigkeit und Zer-
streuung der Wirklichkeit sich gar nicht hinauswagte.
4. Doppelrecension der Satiren Jnvenal's^).
So weit ich davon entfernt bin die Annahme einer doppelten
Recension als eine Panacee für alle Schäden der Ueberlieferung
des juvenalischen Textes zu betrachten, so scheint es mir doch
unzweifelhaft dass in einer Anzahl von Stellen dieses Heilmittel die
angemessenste Lösung der vorhandenen Schwierigkeiten bietet*"^].
So gleich Sat. I, 73 — 80. Hier wurde man gewiss nichts
vermissen wenn es blos hiesse:
occurrit matrona potens, quae molle Calennm
porrectura viro miscet sitiente rubetam
institüitque rades melior Lucusta propinquas
per famam et populnm nigros efferre maritos.
ande aliquid brevibns Gyaris et carcere dignnm
81 vis esse aliqnid; probitas laudatur et alget:
criminibus debent hortos, praetoria, mensas,
argentnm vetus et stantem extra pocula caprum.
Aber ebenso wenig würde mau einen Defect empflnden wenn die
Stelle lauten würde:
occurrit matrona potens, quae molle Galenum
porrectura viro miscet sitiente rubetam
institüitque rüdes melior Lucusta propinquas
per famam et popnlum nigros efferre maritos.
♦) Aus dem Rhein. Mus. XX. S. 153 f. 473 flf. XXI. S. 155 ff.
•♦) O. Jahn, Ausg. des Juv. Berol. 1868, p. 10, wendet gegen mich
ein: qui cum de quibusdam locis propter repetitiones molestis ita iudicaret
ut duplicis ab ipso poeta institutae recensionis vestigia agnosceret potius
quid a poeta non repetitum esse optaret declarasse quam quid poeta fecerit
probasse mihi videtur. Diess wäre aber nar dann treffend wenn es sich
in den betreffenden Stellen um einfache Wiederholungen handeln würde
und nicht vielmehr um zweierlei einander ausschliessend^ Darstellungen.
Doppelte Recension seiner Satiren. I, 73 ff. 425
qnem patitur dormire nurus corruptor avarae,
quem sponsae tnrpes et praetextatus adalter?
si natura negat, facit indignatio versum ,
qnalemcnmqne potest, qaales ego vel Glnvienas.
Das AuffalleDde an dem was die Handschriften geben ist ge-
rade dass sie mehr bieten als man erwartet und gebrauchen
kann. Man glaubt mit caprum am Schlüsse der Erörterung an-
gekommen zu sein und sieht sich mit dem folgenden Verse (quem
patitup u. s. w.) wider Vermuten zu neuem Anfangen genöthigt,
ohne dass man doch einen zureichenden Grund erkennen kann, da
mit vier Versen dieser neue Anfang schon wieder zu Ende ist, und
von diesen vier Versen überdiess die zwei ersten an einer beliebigen
andern Stelle der Satire mindestens ebenso gut stehen könnten als
hier. Die vier Verse aude aliquid — caprum haben für sich schon
einen vollkommen abschliessenden Charakter. Nach den beiden
letzten Beispielen, eines Mannes der durch Testamenlsfälschung
zu Reichthum gelangt ist, und einer Frau die ihren Mann ver-
giftet hat und doch noch fortwährend in Ansehen steht, fährt
der Dichter fort: kurzum, im heutigen Rom muss man ein Schuft
sein um es zu etwas zu bringen und Schätze aller Art zu er-
werben. Damit ist die Betrachtung, an einem Ruhepunkte an-
gelangt, und wir finden es um so befremdender dass wir gleich
darauf abermals in Athem gesetzt werden, und vollends gar fast
zwecklos. Und doch enthalten weder jene noch diese vier Verse
irgend etwas was der Weise des Juvenal widerstreitend oder seiner
unwürdig wäre. Diess alles fuhrt mich zu der Folgerung dass
wir hier einen doppelten Schluss der Erörterung vor uns haben,
beide von Juvenal herrührend, aber nicht beide von ihm dazu
bestimmt auf die Nachwelt zu kommen, vielmehr der eine dazu
bestimmt an des andern Stelle zu treten. Welches von beiden
der ältere, verworfene Schluss sei, welches der spätere, darüber
kann man einen Augenblick schwanken. Die in den Handschriften
zuerst stehende Verstetrade (aude aliquid u. s. w.) schliesst sich
besser an das Vorhergehende an , hat aber in den Worten stantem
extra pocula caprum einen rhetorisch und sachlich wenig be-
friedigenden Abschluss. Bei der zweiten Telrade (quem patitur
— Cluvienus) ist das Verhältniss das umgekehrte: der Schluss
ist sehr gut, dagegen der neue Ansatz mit quem patitur u. s. w.
minder entsprechend. Diess scheint mir ein Beweis dass letzterer
Schluss der spätere ist: bei der nachträglichen Hinzufugung ge-
426 Juvenalis.
lang der Anschluss an das Vorhergehende weniger gut, die End-
verse aber verbessern vortrefflich das Unbefriedigende des früheren
Schlusses (noiit stantem — caprum). Die Verse aude aliquid bis
caprum vraren also wohl von Juvenal zum Wegfall verurteilt;
aber den Vollzug des Urteils vereitelte die Weichherjigkeit der
ersten Herausgeber (oder Abschreiber) nach Juvenal's Tod, die
es nicht über sich gewannen die gestrichenen Verse ganz weg-
zulassen, oder auch ihre Gedankenlosigkeit; so haben wir zwei
Redactionen neben einander bekommen.
In Sat. III gehört die Schilderung des Treibens der Griechen
in Rom zu einer der in diesem Stücke nicht seltenen Glanzpartien.
Gegen das Ende hin gipfelt sie in den Sätzen:
praeterea sanctum nihil est nee ab ingnine tat um . . .
honim si nihil est, aviam resnpinat amici (112),
um dann abzuschliessen mit der praktischen Folgerung um deren
willen Umbricius dieses Thema angeschlagen hat:
non est Ropiano cuiqnam locus hie ubi regnat
Protogenes aliquis vel Diphilus (120).
Zwischen diese beiden trefflich zusammenhängenden Versreihen
hinein haben sich aber sechs Verse (113 — 118) gedrängt die
nach Inhalt und Ton zu ihrer Umgebung durchaus nicht passen,
nämlich :
scire volnnt secreta domus atqne inde timeri.
et quoniam coepit Oraecornm mentio, transi
gymnasia atqne audi facinns maioris abollae:
stoicns occidit Baream delator, amicum
discipnlumqne senex ripa nutritus in illa
ad quam gorgonei delapsa est pinna caballi.
Von diesen Hesse sich der erste allenfalls noch nothdürflig in
den Zusammenhang einreihen: durch solche (geschlechtliche) Ver-
hältnisse werden sie zugleich Vertraute eines Theils der Familie
und kommen so hinter deren Geheimnisse und verstärken dadurch
ihren Einfluss. Aber nach der farbenreichen Zeichnung des Vor-
hergehenden nimmt sich dieses theoretische scire volunt doch
sehr fremdartig und kümmerlich aus. Da aber der Vers doch
wohlgebaut ist und, für sich genommen, auch einen ganz guten
Gedanken enthält, so halte ich für das Wahrscheinlichste dass er
ein nachträglicher Zusatz des Dichters ist, der diesen an sich
vollkommen passenden und wichtigen Zug nicht weglassen wollte
und ihn doch mit dem schon fertigen und abgerundeten Zusammen-
hang nicht mehr vollständig auszugleichen vermochte.
Doppelte Recension seiner Satiren. III, 113 ff. V, 92 ff 427
Bedenklicher sind die fünf folgenden Verse. Ihr Inhalt passt
ganz und gar nicht in den Zusammenhang; ihr Ton ist völlig
abweichend von dem sonstigen der Rede des Urabricius, er ist
polternd und predigend , wie überall sonst wo Juvenal in eigener
Person spricht, wie fast überall ausser in dieser dritten Satire.
Auch im Einzelnen des Ausdruckes finden sich Anstösse genug.
Wie ungeschickt ist gleich die Einfuhrung durch quoniam coeßit
Graecorum mentio! Als ob sie erst begonnen hätte und nicht
vielmehr schon am Ende angelangt wäre! Dann die Unklarheit
der Wendungen transi gymnasia und facinus maioris abollae,
die Bedeutungslosigkeit der geheimnissvollen Umschreibung der
Heimat des Celer und die phraseologische Ausführung derselben,
welche sich wie ein unglücklicher Abklatsch von v. 25 ausnimmt.
Obwohl daher diese Verse von Ribbeck unbeanstandet gelassen
worden sind und nur in v. 116 eine kleine Aenderung (Baream,
delator amicum) erfahren haben, die ich für keine Besserung
halte — denn dass ein delator sein Handwerk auch an einem
amicus ausübt hat nichts Befremdendes — so gehören sie doch
nach meiner Meinung zu denjenigen welche, wenn man überhaupt
zwischen einem echten und einem unechten Juvenal in dieser
Weise unterscheiden zu dürfen glaubte, dem letztern zuzutheilen
wäre. Denn mit v. 119 wird die allgemeine Erörterung in einer
Art zu Ende gefuhrt welche von einer unmittelbar vorausge-
gangenen Unterbrechung nichts ahnen lässt; auch wäre es nicht
undenkbar dass die fünf Verse aus den Angaben des Tacitus
zusammengeflickt und hier, als der einzigen Stelle wo von den
Griechen in Rom die Rede ist, angefügt wären. Indessen wüsste
ich nichts Entscheidendes einzuwenden gegen die etwaige Annahme
dass auch hier eine von dem Satiriker selbst verfasste und mit
dem Zusammenhang noch nicht ins Gleichgevncht gebrachte nach-
trägliche Bemerkung vorliege, und dass der v. 113 eben als eine
Art von Vermittlung zwischen den beiden Gedankenreihen von
ihm hinzugedichtet worden sei. Vgl. die Anmerkungen zu meiner
Uebersetzung der Satiren (Stuttgart, Metzler, 1865) S. 189 f.
Auch Sat. V, 92 — 102 scheint es mir einleuchtend dass zweierlei
Variationen desselben Gedankens zu Tage liegen. Die Verse lauten:
mnllas erit domini qaem misit Corsica vel quem
tauromenitanae rupes, quando omne peractam est
et iam defecit nostrum mare, dum g^la saevit,
retibos adsiduis penitus scratante macello 95
428 Juvenalis.
prozima, nee patimur tyrrhennm crescere piscem.
instroit ergo focnm provincia, sumitur illinc
qnod captator emat Laenas, Anrelia veDdat.
Yirroni muraena datur qnae mazima yenit
100 gurgite de slcolo; nam dum se continet j&nster,
dum sedet et siccat madidas in carcere pinnas,
contemnnnt mediam temeraria lina Charybdim:
vos angailla manet n, s. w.
Sowohl die ersten sieben als die darauf folgenden vier Verse be-
handeln denselben Gegenstand, denselben Theil des Mahles, das
Essen von Fischen , und zwar beidesmal von Seiten des dominus,
des Virro, nur dass der kostbare Fisch der ihm aufgetischt wird
das erste Mai ein mullus ist und nachher eine muraeua. Was
dagegen der arme Gast, was Trebius vorgesetzt bekommt ist
gegenüber von dem mullus nicht* ausgeführt, sondern erst gegen-
über der muraena, während doch sonst die ganze Schilderung
fortwährend sich in diesem Contraste bewegt und niemals sonst
die Gegenseite auszuführen vergessen wird. Wenn hienach die
beiden Verscomplexe wesentlich das Gleiche enthalten, somit nicht
neben einander bestehen und nicht ursprünglich neben einander
gedichtet sein können , so fragt sich zuerst ob beide von Juvenal
sind und dann, im Falle der Bejahung, welche von beiden
Fassungen die ältere, welche die spätere ist. Dagegen nun dass
sowohl V. 92 — 98 als 99 — 102 von Juvenal herrühren wüsste
ich keinen Beweis beizubringen; beide Reihen sind tadellos, von
bezeichnendem Inhalt und nach Gedanken wie Ausdruck und Ton
ganz der sonstigen Weise des Satirikers entsprechend. Wenn ich
aber hinsichtlich der Priorität der einen von beiden Reihen eine
Entscheidung treffen soll, so gestehe ich in einiger Verlegenheit
zu sein. Die ersten sieben Verse sind energisch, sie rücken der
schwelgerischen Gegenwart direct zu Leibe und enthalten schliess-
lich zwei Personennamen ohne Zweifel aus der unmittelbaren
Gegenwart. Viel zahmer sind die folgenden vier: sie geben zwar
eine ganz hübsche Anschauung von dem Auster, wie er sich die
Schwingen trocknet, aber sie sind ohne persönlichen Stachel,
ganz allgemein gehalten. Denken wir uns daher die Nach-
arbeitungen des Satirikers in der Richtung vorgenommen um
schwächere Stellen durch stärkere zu ersetzen, so müssten wir
die vier Verse als die ursprüngUchen betrachten , bestimmt durch
die spätem sieben verdrängt zu werden, nur dass der Dichter
selbst oder die ersten Redacteure seines Nachlasses sich nicht
Doppelte Recension seiner Satiren. V, 92 ff. VT, 178 ff. 582 ff. 429
entscbliessen konnten die hübschen vier Verse grundlich zu be-
seitigen. War aber die Richtung jener nachträglichen Arbeiten eine
entgegengesetzte, abschwächende, auf Milderung des für Lebende
persönlich Verletzenden ausgehend, so wären vielmehr die sieben
Verse für die älteren zu halten, die vier für die spätere Redaction.
Für letztere Ansicht könnte auch diess zu sprechen scheinen dass
die Verse 92 — 96 (besonders 94 — 96) eine etwas ungelenke
Construction haben; doch ist dieses Argument meines £rachtens
keineswegs entscheidend. Vgl. meine Anmerkungen a. a. 0. S. 204.
Welche Anslösse Sat. Vi , 1 78 — 183 enthalten ist von Ribbeck
(Symb. p. 24 = Echter und unechter Juvenal S. 172) bereits
hervorgehoben, insbesondere dass die Verse nichts besagen was
nicht schon in v. 166 ff. dagewesen wäre. Wenn er dann aber
über die Verse urteilt dass sie balbutientem tironem, non Juvenalem
produnt, so fürchte ich dass auch in diesem Falle, wie wohl in
den meisten andern, was zur Vertheidigung des Dichters gesagt
ist vielmehr ihn selbst .am empfindlichsten verwundet. Ohnehin
werden balbutientes tirones sich zum Tummelplatz schwerlich
gerade den Juvenal ausersehen haben. Mir scheinen die Verse
eher aus einem unfertigen ersten Entwürfe herzurühren , von Ju-
venal selbst zum Wegfall bestimmt und durch v. 166 ff. ersetzt,
aber gegen seinen Willen neben diesem Ersätze gleichfalls erhalten.
Sat. VI, 582 ff. ist in Ribbeck's Ausgabe schwer aufzufinden, da
der Kartenspielcharakter welchen in derselben die sechste Satire be-
kanntlich hat hier sich ganz besonders gellend macht. Endlich treiben
wir die Verse auf, p. 39, als v. 460 ff. und in veränderter Ordnung.
Während nämlich die traditionelle Stellung der Verse folgende ist:
sl xnediocris erit, spatium lustrabit utrimque
metarnm et sortes ducet frontemque manumque
praebebit vati crebrum poppysma roganti.
divitibus responsa dabunt Phryx augur et Indas 585
conductus, dabit astrorum xnnndiqae peritns,
atqne aliquis senior qui publica fulgnra condit:
plebeium in circo positum est et in aggere fatum.
quae nadis longum ostendit cervicibus armnm
consulit ante falas delphinoramqne columnas 590
an saga vendenti nubat caupone relicto,
SO lesen wir sie dort in folgender Gestalt:
divitibus responsa dabnnt Phryx augur et Indi
atqne aliqnis senior qui publica fulgura condit;'
si mediocris erit, spatium lustrabit utrimque 582
430 Juvenalis.
metaram et sortes ducet frontemqne manumque
684 praebebit vati crebram poppysma roganti;
588 plebeinm in circo positum est et in aggere fatum.
quae nudis longam ostendit cervicibus armum-
consulit ante falas delfinoramque columnas
an saga vendenti nabat caapone relicto.
Dieser Umstellung liegt die unzweifelhaft richtige Einsicht zu
Grunde dass die drei Verse si medlocris erit — roganli und quae
nudis — relicto im Wesentlichen das Gleiche enthalten, nämlich
das Thun ärmerer Befragerinnen im Gegensatze zu der Art wie
reiche Frauen ihre abergläubischen Neigungen befriedigen (divi-
tibus — condit). Aber ich glaube nicht dass mit dieser Um-
stellung gründUch geholfen ist. Denn auch so bleibt das Tauto-
logische der Ausführung, dass Frauen und Mädchen der geringeren
Stände ihre Orakel im Circus holen, welcher zuerst durch die
metae und circus und dann abermals durch die falae delphinorum-
que columnae bezeichnet ist; und zu dön alten Schwierigkeiten
hin bringt diese Umstellung neue. Divitibus und si mediocris
erit ist ein nach allen Seiten ganz inconcinner Gegensatz; die
dreimalige Bezeichnung der gleichen Menschenclasse (mediocris
— plebeium — quae nudis) und des Circus durch verschiedene
Ausdrücke ist durch die unmittelbare Aneinanderrückung der
betreffenden Verse nur noch unerträglicher geworden. Jedenfalls
musste der Vers plebeium u. s. w. an seiner Stelle belassen
werden. Die erwähnte Tautologie wäre dann freilich geblieben;
aber diese wird auch nur durch die Annahme gehoben dass die
drei Verse si mediocris — roganti und quae nudis — relicto
wiederum zweierlei Redactionen desselben Gedankens, des Gegen-
satzes zu divitibus u. s. w. enthalten. Und zwar kann diessmal kein
Zweifel darüber sein dass die zum Wegfall verurteilte Fassung die
erste (si mediocris — roganti) war. Streichen wir diese , so hängt
Alles aufs Beste zusammen: die reichen Frauen befragen einen
Augur, welcher „weither" und darum theuer ist, und unter den
Einheimischen nur solche welche eine hohe offizielle Stellung em-
nehmen ; die Plebejerinnen holen ihre Kunde der Zukunft im Circus
und auf dem Damme. Letzterer Gedanke ist alsdann concreter aus-
geführt, und zwar in der gleichen Verszahl wie der Gegensatz di-
vitibus u. s. w. indem der Begriff plebeium durch quae — armum
specialisiert und näher bestimmt wird, in circo durch ante —
columnas, und fatum positum est durch consulit an — relicto.
Doppelte Recension seiner Satiren. VI , 582 ff. 460 ff. IX. 431
Einen anderen Weg möchte ich Sat. VI, 460 f. einschlagen.
Im Zusammenhang lauten die Verse:
nil non permittit maller sibi, tnrpe putat nil,
cum yirides gemmas collo circumdedit et cum
auribus extentis magnos commisit elencbos.
intolerabilins nihil est quam femina dives. 460
interea foeda aspectu ridendaqae malto
pane turnet facies u. s. w.
Hier hat der Sinn- und Zusammenhangslosigkeit des interea Madvig,
welchem 0. Jahn und 0. Ribheck gefolgt sind, durch Umstellung
der Verse (464 — 466. 461 flf.) abzuhelfen gesucht. Es scheint
mir aber dass hiergegen K. Fr. Hermann (p. XXVI seiner Aus-
gabe) mit Recht eingewandt hat dass Iota cute (464) das Voraus-
gehen der in v. 461 ff. beschriebenen Toilettenkunste nothwendig
mache, sowie dass die Erwähnung des moechus (464), welche
nur durch den Gegensatz zum maritus veranlasst ist, unmittelbar
nach V. 460 unmotiviert wäre. Durch die Streichung des viel
citierten und wenig befolgten Verses 460, wie sie Paldamus vor-
schlägt, wird zwar dem Dichter ein berühmter und tadelloser
Vers geraubt, in der Hauptsache aber nichts gebessert. Und doch
kann ebenso wenig der handschriftliche Bestand richtig sein,
wegen des interea. Ich vermute dass der ähnliche Anfang der
beiden Verse intolerabilins u. s. w. und interea u. s. w. den
Ausfall einiger dazwischen liegenden Verse herbeigeführt hat,
worin, die Unleidlichkeit einer solchen reichen und desshalb an-
spruchsvollen Frau und ihr ewiges Keifen mit ihrem Manne kurz
ausgeführt war, worauf sich dann interea bezog: während sie aber
so ihrem Manne das Leben sauer macht bietet sie ihm selbst
gar nichts; nur für ihren Buhlen hat sie Reize, der Mann be-
kommt sie nur in abschreckender Gestalt zu sehen.
In der berüchtigten. neunten Satire, welche bekanntlich die
Form eines Zwiegesprächs zwischen Naevolus und einem Interlocutor
hat, — als welchen man den Satiriker selbst bezeichnen mag,
obwohl kein bestimmter Zug dazu nölhigt und nur die Motivierung
des NichtStillschweigens es empfiehlt, — stellt Naevolus, nach Mit-
theilung seiner schmutzigen Geheimnisse, an den Gegenredner
das Ansinnen, er solle über das Mitgetheilte Stillschweigen be-
obachten. Der Gegenredner lehnt aber dieses Ansinnen ab, indem
ja jedenfalls, auch wenn er selbst schweigen würde, die Sache
an den Tag käme, wenn nicht auf anderem Wege, so unfehl-
432 JuTenalis.
bar durch die Sklaren des reichen Lüstlings, für die es ein be-
sonderer Geuuss sei die Geheimnisse ihrer Herrschaft auszuplaudern.
Darauf wird diese Erörterung abgeschlossen durch die sechs Verse
(118—123):
vivendum recte est, cam propter plarima, tum vel
idcirco at possis ling^am contemnere servi.
praecipae cave eis at lin^as mancipioram
contemnas; nam lingua mali pars pessima servi.
deterior turnen bic qui Über non erit illis
qaoram animas et farre sao cnstodit et aere*).
Dass wir auch hier zweierlei Fassungen neben einander haben,
dafür kann ich mich diessmal auf die Schrift Qber den echten
und unechten Juvenal berufen, wo S. 112 in den Worten ,,zwei
parallele Versuche denselben [?] Gedanken auszudrücken" erkannt
sind. Und wahrlich, linguas contemnere servi und linguas maa-
cipiorum contemnas unmittelbar neben einander sind Fingerzeige
welche schwer zu übersehen sind und von jeher Scrupel erregt
haben. Noch unzweifelhafter wird jener Sachverhalt wenn wir
den genaueren Inhalt der Verse und ihr Verhältniss zu einander
und zum Folgenden ins Auge fassen. Die sechs Verse zerfallen
unverkennbar in zwei Theile , wovon der erste aus den zwei ersten,
der zweite aus den vier letzten Versen besteht**). Der erste Theil
zieht aus den dargelegten Thatsachen die Lehre dass man also
recte vivere müsse, schon aus dem Grunde damit man sich über
das Gerede seiner Sklaven hinwegsetzen könne, es nicht zu scheuen
brauche. Der zweite Theil warnt davor dass man über das Gerede
der Sklaven sich hinwegsetze, es damit zu leicht nehme; denn
die Zunge sei an dem schlimmen Sklaven das Schlimmste. Noch
deterior sei freilich der Herr selbst, der durch seine Schlechtig-
keiten und das daraus folgende böse Gewissen von seinen efgenen
Sklaven abhängig, der Sklave seiner Sklaven werde und sie fort-
während fürchten müsse. Wenn sonach der erste Theil das
*) Auf sicherer Emendation beruht hier tum vel (statt des hand-
schriftlichen tunc est) und cave sis (statt causis der Hds8.)t n^m hat
der Pith. a manu secunda, mit den meisten Hdss. der interpolierten
Classe, statt des ursprünglichen nee.
**] Dass die vier Verse zusammengehören erhellt aus der steigernden
Beziehung des Comparativs deterior auf das vorhergehende pars pessima
servi. Schon darum ist die Streichung von v. 120 und 121 unmöglich,
abgesehen davon dass dadurch überhaupt aller Zusammenhang verloren
gienge.
Doppelte Becension. Sat. IX. 433
contemnere linguas servorum als Ziel des Strebeos hinstellt, der
zweite Theil aber vor demselben contemnere linguas servorum
warnt, so bedarf es wohl keiner weitern Beweisführung dafür
dass die beiden Theile einander ausschiiessen und unmöglich
derselben Bearbeitung angehören können. Desswegen aber alsbald
von „Produkten von zwei oder drei verscbiedenen, mit einander
wetteifernden Verfassern " oder einem „echten" und einem „un-
echten" Juvenal zu reden, davon haben uns hoffentlich die vorher
gegebenen Beispiele entwöhnt. Allerdings ist hier ein Wetteifer,
aber nicht unter verschiedenen Personen, sondern innerhalb des
Dichters selbst, welcher die als minder glücklich erkannte Fassung
durch eine bessere zu ersetzen sich angelegen sein Hess. Welches
ist nun aber die bessere und daher ohne Zweifel vom Dichter
selbst vorgezogene und spätere Fassung? Sicherlich die an erster
Stelle stehende, v. 1 18 und 119. Dass dem so sei ergibt sich theils
aus der prägnanten Kürze und vollkommenen Untadeligkeit dieser
Fassung, theils aus v. 124, theils endlich aus der Fehlerhaftigkeit
der gegenüberstehenden Redaction. In v. 124 erwidert nämlich
Naevolus:
utile consilinm modo, sed commune, dedisti.
Dieser nützliche, aber zu sehr allgemeine Rath kann nur der mit
den Worten vivendum est recte* gegebene sein. Das Weitere
enthält zwar auch einen Rath (nämlich cave sis contemnas u. s. w.),
und zwar einen der sich allenfalls auch als „nützlich" bezeichnen
lässt, um so weniger aber als „allgemein". Wollte hienach der
Dichter selbst sicherlich seinen Vers 124 unmittelbar an v. 119
anschliessen, so erweisen sich v. 120 — 123 als zum Wegfall ver-
urteilt auch durch ihre Mängel. Dahin gehört gleich praecipue.
Nachdem im Vorhergehenden eben die Gefährlichkeit der Sklaven-
zungen dargelegt war, konnte die Warnung vor ihnen nicht mit
praecipue eingeführt werden, sondern erforderte eine Folgerungs-
partikel wie idcirco, das vielleicht von dem Dichter ursprünglich
hier gesetzt war, aber von demjenigen der nach dessen Tode die
Schlussredaction der Satiren besorgte und dem wir die verschiedenen
Doubletten verdanken, desswegen weil die von ihm mitaufgenommene
spätere Fassung das gleiche Wort (in v. 119) hat, in praecipue
abgeändert wurde. Auch das Schwanken zwischen nee und dem
(sachlich einzig richtigen) nam darf vielleicht mitangeführt werden.
Sodann das undeutliche und unbehülfliche deterior, von welchem
nicht klar ist was es heissen soll. Soll es, wie der sonstige
Teuf fei, Studien. 28
434 Juyenalis.
Gebrauch des Wortes (auch bei Juvenal, s. Sat. II, 22: infamis
Varillus erit; quo deterior te? X, 323: sive esl haecOppia, si?e
CatuUa deterior) wahrscheinlich machen würde, auf die innere
Werthlosigkeit sich beziehen und eine Steigerung zii malus ser-
vus bilden, so passt dazu nicht das Folgende; denn die Abhängig-
keit in welche der Herr durch sein böses Gewissen den eigenen
Sklaven gegenüber geräth sagt nicht über Inneres etwas aus,
sondern über die äussere Lage. Bezieht man aber desshalb
deterior auf die äussere Lage, so widerstreitet das nicht nur dem
Sprachgebrauch sondern stimmt auch nicht zum Vorhergehenden,
wo lingua mall pars pessima servi die innere Nichtsnutzigkeit
meint. Das richtige Verhältniss der vier Verse wäre folgendes.
Auch dem Naevolus, als Theilhaber jener schmutzigen Dinge, ist
zu rathen dass er das Gerede der Sklaven scheue; schlimmer
freilich ist in dieser Beziehung deren Herr daran, der, trotzdem
dass sie äusserlich von ihm völlig abhängig sind , durch sein böses
Gewissen doch innerlich von ihnen abhängig wird. Dieses Ver-
hältniss ist aber höchst unvollkommen ausgeprägt. Mangelhaft
ist ferner animas custodit (statt des richtigen alit oder paseit),
sowie über illis, welches genau genommen subjective Bedeutung
hat (frei in ihren Augen), während die Begründung des deterior
einen deutlich objectiven Ausdruck erforderte. Neben diesen
Mängeln aber ist andererseits anzuerkennen dass der Inhalt der
vier Verse im Ganzen ein unzweifelhaft guter und treffender ist
und dass der Gedanke lingua mali pars pessima servi, sowie der
Gegensatz der äussern und Innern Abhängigkeit vollen BeifaU
verdient. Ich sehe daher auch hier keinen Grund die vier Verse
als „des Dichters unwürdig" zu bezeichnen; vielmehr halte ich
sie gleichfalls für ursprünglich juvenaliscli , nur aber von dem
Satiriker dazu bestimmt durch die bessern zwei Verse 118 und
119 ersetzt zu werden. Dass die vier nichtsdestoweniger gleichfalls
auf uns gekommen sind war sicherlich nicht des Dichters Wille.
xvm.
T a c i t u s.
Emleitimg zum (Gespräch über die Bedner*).
Das Gespräch über die Redner ist eine culturhistorisch höchst
merkwürdige Schrift, welche auf der Grenzscheide zweier wesent-
lich verschiedener Weltanschauungen steht, der des republikanischen
und andererseits des kaiserlichen Rom, und die Eigenthumlichkeiten
beider nicht blos beschreibt sondern auch im eigenen Geist und
Stile widerspiegelt. Die Schrift setzt sich die Aufgabe, die That-
sache dass dia Gegenwart in Bezug auf die wichtigste Seite des
Lebens und der Literatur, die fieredtsamkeit, gegenüber von der
Vergangenheit tief gesunken sei theils zu constatieren theils zu
erklären. Constatiert wird sie dadurch dass für die gegentheilige
Ansicht nur sophistische, leicht zu widerlegende Gründe vorge-
bracht werden können^ von denen wiederholt (Gap. 15. 16. 24)
bemerkt und durch den betreffenden Redner selbst stillschweigend
zugegeben wird dass sie gar nicht ernstlich gemeint seien, so
dass über die Thatsache selbst unter den Verständigen und Urteils-
fähigen durchaus keine Meinungsverschiedenheit herrsche. Die
Ursachen der Erscheinung aber wurzeln nach unserer Schrift so
tief, in der völligen Umwälzung welche mit den politischen und
socialen Verhältnissen, der Denkweise und dem Leben vor sich
gegangen ist, dass von einer Aenderung keine Rede mehr sein
kann. Beredtaamkeit und Kaiserthum verhalten sich zu einander
ausschliessend : diess ist das Schlussergebniss unserer Schrift, ein-
'gekleidet (Cap. 41) in eine scheinbar harmlose Vermittlung der
Gegensätze, die aber in Wahrheit die grösste Schärfung derselben
ist. Was sich aus dieser Sachlage für den Einzelnen ergibt ist
*) Aus den Classikern des Alterthums 105 (Stuttgart 1858) S. 16—24.
28*
436 TacituB.
(lass keiner der Lebenden wirklich ein Redner ist oder sich —
wofern ihn nicht etwa Eitelkeit oder Beschränktheit verblendet —
für einen solchen hält, und dass unter den obwaltenden Ver-
hfiltnissen kein Einsichtiger die Beredtsamkeit zu seiner Lebens^-
aufgäbe wählen wird. So ist die Schrift zugleich ein Programm
der schriftstellerischen Thätigkeit des Tacitus (vgl. Roth's Ueber-
Setzung S. 3 — 5), und zwar in ein^r doppelten Hinsicht, in Be-
treff des Dass sowohl als des Wie. Die Schrift gibt die Grunde
an warum Tacitus, trotz seiner umfassenden rednerischen Studien
und Uebungen, nicht der Laufbahn des Redners sich zugewendet,
sondern vielmehr die stille Wirksamkeit des Gelehrten und Schrift-
stellers vorgezogen habe; und die Grundanschauung aller Schriften
des Tacitus, dass seit dem Untergang der Republik Rom in ste-
tigem Verfalle begriffen sei, wird hier nur nach einer einzelnen,
aber besonders tief greifenden, Seite hin dargelegt. Indessen so
sehr unsere Schrift sich streckt nach der besseren Vergangenheit, so
sehnsüchtig sie zu ihr emporblickt, so kann sie doch dem* Ein-
flüsse der Gegenwart sich selber nicht entziehen. Nicht nur dass
sie ihre eigentliche Ansicht in verhüllter, indirecter Weise aus-
spricht, sondern sie bringt dem Streben interessant und pikant
zu sein — welches sie als das charakteristische Symptom der
modernen Beredtsamkeit gegenüber von der gesunden Einfachheit
und Natürlichkeit der Alten darstellt — selbst auch ihren Zoll
dar, freilich in einer Weise mit der wir nur sehr zufrieden sein
können. Ebenso ist es mit dem Stile. Der Verfasser hat sich künst-
lich in die alte Schreibweise hineingelesen, er kommt frisch her
vom Studium der rhetorischen Schriften des Cicero und sucht
deren Fülle und Rundung nachzubilden; aber er thut es nicht
immer geschickt, verfällt statt jener Vorzüge manchmal in Tauto-
logie, Breite und Eintönigkeit, verwickelt sich in dem ungewohnten
Faltenwurfe der Perioden, und verräth in unzähligen Wendungen
und Consiructionen den Schriftsteller der ersten Kaiserzeit. Auch
in den andern taciteischen Schriften gewahren wir ein Fortwirken
der vorzugsweise aus classischen Quellen geschöpften rednerischen
Bildung ihres Verfassers, jedoch in abnehmendem Masse und nie-
mals wieder so ausgedehnt wie in unserm Dialog; bis dann die*
specifische Eigenthümlichkeit des Stiles seiner Zeit, die Z^rhacktheit
und epigrammatische Verbissenheit, in seiner letzten Schrift, den
Jahrbüchern, ausschliesslich und mit grossartiger Virtuosität aus-
geprägt wird.
Einleitung zum Dialogus. 437
Schon nach dem Gesagtt^n kann kein Zweifel darüber sein
wie wir über die Frage von der Urheberschaft des Tacitus
denken. In der That kennen wir kaum eine schwerere Verirrung
des Urteils als die ßezweiflung oder Bestreitung des taciteischen
Ursprunges unserer Schrift*), und wir erblicken darin einen ab-
schreckenden Beweis auf welche Abwege es führt wenn man bei
einem schriftstellerischen Producte, statt in dessen Tiefe einzu-
dringen , vielmehr an der Oberfläche und dem Aeusserlichen kleben
bleibt. Dass ein Unterschied ist zwischen der Darstellungsweise
unserer Schrift und den übrigen taciteischen — zumal wenn man
vorzugsweise die Annalen der Vergleichung zu Grunde legt —
kann ein Blinder sehen; aber nur ein Solcher kann auch die
ganz wesentlichen und charakteristischen Punkte der Gleichheit
und Aehnlichkeit verkennen, und nur plumpes Zutappen kann aus
jenen Difl'erenzen auf Verschiedenheit des Verfassers schliessen,
statt sich des Glückes zu freuen dass uns von einem denkwürdigen
schriftstellerischen Entwicklungsgange die beiden Endglieder wie
die* Mittelstufen erhalten sind. Wenn es in der Natur der Sache
liegt dass die beiden Schlussglieder der Reihe — also hier unser
Dialog und die Annalen — am wenigsten Berührungspunkte mit
einander gemein haben, so sind dagegen diese zahlreich mit den
in der Mitte liegenden Schriften, Agricola, Germania und Historieu,
und erstrecken sich nicht blos auf Einzelheiten des Gedankens und
Ausdrucks sondern auch auf das Rhetorische und Periodplogische
wenn auch nicht des Ganzen, so doch vieler Theile. Allen diesen
Schriften aber, vom Dialogus bis zu den Annalen , gemeinsam ist
die gleiche Ansicht vom Leben und von der Zeit, der gleiche
Adel und Ernst der Gesinnung, derselbe lialtungsvolle Freimut,
dieselbe Schärfe und Feinheit der psychologischen Beobachtung
und Schilderung. Was insbesondere die politische Richtung be-
trifft so spricht sich die oben bezeichnete Grundanschauung des
Tacitus namentlich darin aus dass die Anerkennung von Personen
und Sachen der Gegenwart gewöhnlich nur eine bedingte , relative
ist, nur in so weit gültig als man dieselben nicht mit Früherem
vergleicht. Wie Tac. diess im Dialog hinsichtlich der Beredtsamkeit
thut (Gap. 1. 36« 41), so im Agricola 17 in Betreff der Bezeichnung
eines Mannes als gross; und was er Dial. 13 den Maternus sagen
*) Vgl. hierüber auch meine Auseinandersetzung in Fleckeisen^s
Jahrbüchern LXXVIL S. 285 f.
438 Tacitua.
lässt sliiuint aufs Genaueste überein mit dem Redebruchstück
Ann. V, 6. Ueberhaupt ist Maternus offenbar am meisten der
Träger der eigenen Gedanken des Tacitus: wie jener, trotz
aller seiner rednerischen Gaben und Studien, Ton dem in der
Gegenwart hoffnungslosen Felde der Beredtsamkeit sich zurückzieht
zur Poesie, so Tacitus zur Geschichtschreibung; wie jener be-
thätigt auch dieser auf dem selbstgewählten Gebiete seinen Frei-
sinn, und an dem Anstosse welchen Maternus durch seine Poesien
gab wird es den Schriften des Tacitus wohl auch nicht gefehlt
haben. Zudem ist der Charakter des Maternus offenbar mit der
meisten Liebe gezeichnet. Nur seine Reden bieten ein concreteres
Bild seiner Persönlichkeit. Während Aper nur im Allgemeinen
als rabulistischer Vertheidiger einer unhaltbaren Sache erscheint,
Messala als abstracter Bewunderer der alten Zeit, so sehen wir
dagegen in Maternus einen Mann der eben so milde in der
Form wie in der Sache fest ist, immer bereit zur neidlosesten
Anerkennung fremder Vorzüge und bemüht alles was Andere ver-
letzen könnte fern zu halten; mit Freimut Vorsicht paarend und
bei seiner geistigen Ueberlegenheit wie spielend auf der Scheide-
linie sich bewegend wo man nicht weiss ob die Rede den Ge-
danken mehr verhüllt oder andeutet; immer ruhigen, gefassten
Gemütes, ein lächelnder Weiser, aber wo es seinen heiligsten
Interessen, seiner Unabhängigkeit und seiner Poesie, gilt in eine
fast schwärmerische Begeisterung gerathend, welche das Gehobene
seines Ausdrucks theilweise bis zu rythmischem Gange und förm-
lichen Versen steigert. Er ist auch dadurch als Hauptperson und
Mittelpunkt herausgehoben dass es sein Haus ist in welchem die
Unterredung Statt findet und der Anlass ein Besuch den ihm seine
Freunde M. Aper, Julius Secundus und Messala machen. Die Zeit
in welche das Gespräch verlegt wird ist nach Gap. 17 das sechste
Regierungsjahr des Vespasian, also das Jahr 828 d. St. oder
75 n. Chr.*), und der Verfasser will damals noch ein ganz junger
Mann (iuvenis admodum, Cap. 1) gewesen sein, was gleichfalls
zu den Altersverhältnissen des Tacitus vollkommen gut stimmt.
Die Zweifel an dem täciteischen Ursprung unserer Schrift,
an sich schon sehr wenig berechtigt, sind vollends zu nahezu
*) Dass in diesem Jahre Eprius Marcellus (c. ö. 8. 13] nicht in Rom
anwesend, sondern in Asien war (Sauppe), beweist hiegegen lediglich
nichts. Vgl. auch Classen, Eos I. S. 4 f.
Einleitung zum Dialogus. 439
mutwilligen geworden seitdem A. G. Lange darauf hingewiesen
hat dass wir für die Urheberschaft des Tacitus ein Zeugniss haben
wie für wenig andere Schriften aus dem Alterthum , das Zeugniss
eines Zeitgenossen und Freundes und in einem Briefe an — Tacitus
selbst. Es ist diess ein kurzes Schreiben des jüngeren Plinius
in seiner Briefsammlung (IX, 10). Dieses hat zu seiner Voraus-
setzung einen Brief des Tacitus worin dieser den Plinius, an
dessen Bemerkung in einem früheren Briefe (I, 6) anknüpfend —
dass Minerva nicht minder in den Bergen sich finden lasse als
.Diana — , aufgefordert hatte wieder einmal beider Göttinnen
Dienst zu vereinigen. Mit Bezug darauf schreibt nun Plinius an
Tacitus (IX, 10): er hätte wohl Lust seiner Mahnung zu folgen,
aber es sei im Augenblicke solcher Mangel an jagdbaren Thieren
dass es unmöglich sei. Er müsse sich daher auf den Dienst der
Minerva beschränken . . . „Und so ruhen denn die Gedichte,
von denen du glaubst dass sie in Gehölzen und Hainen am besten
gedeihen.'' Diess bezieht sich ganz offenbar auf die Aeusserung
in der Bede des Aper, am Schlüsse von Cap. 9, so wie in der
des Maternus, zu Anfang von Cap. 12; und dass Plinius kurzweg
als Ansicht des Tacitus darstellt was dieser seinen Interlocutoren
in den Mund legt ist um so verzeihlicher da es zweierlei Personen
sind die sich so äussern, und unter diesen Maternus, von welchem
. gewiss dem Plinius am wenigsten entgieng in welcher Beziehung
er zur eigenen Ansicht des Tacitus stehe.
Für die Frage nach ihrer Abfassungszeit bietet unsere
Schrift nicht viele Anhaltspunkte dar. So viel ist nach ihrem
sachlichen und stilistischen Verhältniss zu den übrigen Schriften
des Tacitus gewiss dass sie die früheste derselben sein muss,
verfasst zu einer Zeit wo er mit seiner rednerischen Vorbildung
zwar bereits fertig, ja vielleicht sogar als Bedner anerkannt war,
aber auch immer mehr in sich die Erkenntniss befestigte dass es
in der Gegenwart unräthlich, ja unmöglich sei die Ausübung der
Beredtsamkeit zum ausschliessliclien Lebensberuf zu machen und
daher vielleicht auch schon — wie man nach dem Schlüsse von
Cap. 14 glauben möchte — den Entschluss gefasst hatte als
historischer Schriftsteller aufzutreten. Zu dem gleichen Ergebniss
fuhren auch die manchfachen stilistischen Unfertigkeiten , die Enge
des Sprachschatzes, welcher gewisse Ausdrücke und Wendungen un-
ermüdlich wiederholt und namentlich im Gebrauche des ipse
peinlich freigebig ist, die tlieilweis leere Häufung von Synonymen,
440 TacituB.
und 80 manches Gesuchte und Geschraubte der Diction: Eigenheiieo
welche unsero Dialog, gegenüber von den andern Schriften seines
Verfassers, als eine — aber wahrlich glänzende — Erstlingsschrift
des Tacitus bezeichnen und die von ihm durch weitere Studien,
Selbstkritili und Bemerliungen Anderer als Mängel erkannt und
in seinen späteren Schriften beseitigt worden sind. Zu einem
concreteren Datum führt uns die Art wie Messala und Malernus
eingeführt sind und welche unter der Regierung eines Domitian
die Wirkung einer politischen Denunciation hätte haben können,
wo nicht müssen. Daher muss der Dialog entweder zu einer Zeit
verfasst und veröffentlicht sein wo auch diese Beiden, — wie
Aper und Julius Secundus, nach Cap. 2 — bereits todt waren,
oder in einer solchen wo jene Wirkung nicht zu fürchten war.
Nun wissen wir von Maternus (denn Messala's Todesjahr ist nicht
bekannt) dass er im zehnten Regierungsjahre des Domitian, 91
n. Chr. oder 844 d. St., ein Opfer seines Freimutes wurde; und
wirklich hätte die Annahme viel Empfehlendes dass Tacitus nicht
lange darauf den Entschluss gefasst habe den Maternus zu einem
der Träger seines Gespräches zu machen, um ihm ein Denkmal
zu setzen und zu zeigen was man an ihm verloren habe, wie
denn die Hartnäckigkeit womit Maternus Cap. 3 darauf beharrt
seinen Gedichten eine oppositionelle Tendenz zu geben darauf
berechnet scheinen könnte seine spätere Todesursache vorausahnen
zu lassen. Weiter müsste man in diesem Falle das Gespräch wie
nach 91 , so vor das Jahr 94 setzen , das dreizehnte des Domitian,
von welchem an dieses Kaisers Blutdurst und Abscheulichkeit sich
erst recht entfaltete und es Wahnsinn gewesen wäre so viel Freimut
als unser Dialog bekundet öffentlich zur Schau zu stellen. Ebenso
vor dem August 93, wo Agricola den Tod fand, also ins Jahr
92 n. Chr. Aber in diesem war Tacitus von Rom abwesend,
bekleidete sogar wahrscheinlich eine amtliche Stellung. Ist damit
auch noch nicht Alles entschieden — denn in der Atmosphäre
der Hauptstadt konnte ein so freisinniges Werk damals gar m'cht
entstehen, und das Amt konnte zu literarischer Thätigkeit Zeit
und Stimmung übrig lassen — , so zeigt doch Agr. 2 und 3 dass
Tacitus unter Domitian überhaupt sich selbst zu völligem Still-
schweigen — also auch literarischem — verurteilte; überdiess
wäre im Jahr 92 Tacitus zu alt für die Art des Dialogus, und
dessen Abfassungszeit zu wenig getrennt von der der übrigen
Schriften. Entscheiden wir uns also für die andere Seite der
Einleitung zum Dialogus. 441
Alternative, die Abfassung unter einem milden Regenten, so bieten
sich uns nicht nur die letzten Jahre Vespasians dar (f 23 Juni
79 == 832), sondern auch die kurze Regierung des Titus (f 13 Sep-
tember 81 = 834), ja auch die ersten Jahre des Domitian, der
Anfangs ein ganz leidlicher Regent war. Und da die Objectivitat
womit der Verfasser von der Altersstufe spricht auf der er sich
im Jahr 75 befand (s. Cap. 1) darauf hindeutet dass zwischen
diesem Jahre und der Abfassungszeit unseres Dialogs ein ziemlicher
Abstand ist, so hat die Datierung aus dem Anfange von Domitians
Regierung noch die meiste Wahrscheinlichkeit. Ein Grund aber
die Herausgabe von der Abfassung zu trennen und erstere wesent-
lich spater zu setzen als diese — scheint nicht vorhanden; wohl
aber lässt sich hiegegen einwenden dass in einem solchen Falle
der Verfasser in Urteil und Stil gewiss nachträglich Manches ge-
ändert hätte, und überhaupt die äussere Aehnlichkeit mit den
andern taciteischen Schriften dann wohl noch grösser wäre. Auch
kennt Quintilian (I. 0. X, 3, 22) diesen Dialog bereits und pole-
misiert gegen eine Behauptung desselben, die gleiche welche
auch Plinius am oben (S. 439) angeführten Orte berührt.
Die Gestalt in welcher der Dialog auf uns gekommen ist eine
lückenhafte: am Schlüsse von Cap. 35 fehlt ein bedeutendes
Stück. Dass alle uns bekannten Handschriften — und nur Hand-
schriften der taciteischen Werke sind es die uns denselben bieten
— genau die gleiche Lücke haben ist ein Zeichen dass sie alle
aus derselben Urhandschrift stammen. Der Titel * unter dem sie
unsere Schrift geben ist dialogus de oratoribus; eine erweitert
diesen dahin: de oratoribus suis et antiquis comparatis. Dagegen
der Zusatz de caussis corruptae eloquentiae rührt erst von neu-
eren Herausgebern her.
XIX.
M. Valerius Probus*).
Das Buch von J. Steup, de Probis grammaticis (Jena 1871),
hat das erbebliche Verdienst das Verhältniss zwischen den Catholica
des Probus und Buch II der Ars des Sacerdos sorgfältig erörtert
und, wie ich denke, endgültig festgestellt zu haben. Dm so
weniger aber kann ich ihm beistimmen in demjenigen was nächst-
dem das Charakteristische desselben ausmacht und wozu eben
nach jenem andern Ergebniss nun vollends kein Anlass mehr vor-
liegt, in seiner Unterscheidung zwischen einem älteren und einem
jüngeren Probus**). Nach Steup gäbe es nämlich ausser dem
bekannten M. Valerius Probus aus Berytos bei Sueton, fast in
derselben Zeit, nur etwas jünger, einen zweiten, noch angeseheneren
Grammatiker des Namens Valerius Probus, Sohn oder Neffe des
Berytiers, welcher jüngere Probus bei Martialis und bei Gellius
gemeint sei. Die Beweise für diese schon an sich sehr wenig
wahrscheinliche Behauptung sind freilich überaus schadhaft. Für
Martialis ist die Beweisführung sehr einfach. Nachdem Steup
Suetons Worte über den Berytier „multa exemplaria contracta
emendare ac distinguere et adnotare curavit, soll huic nee ulli
praeterea grammaticae parti deditus" so eng ausgelegt hat dass
als einzige grammatische Thätigkeit desselben das Verfassen von
Textausgaben mit kritischen Zeichen erscheint, so bleibt für
literarische Würdigung der Schriftsteller durch ihn, wie sie
•) Aus dem Rhein. Mus. XXVI. S. 489 ff.
**) Von seinem Probus minor (bei Martial und Gellius) unterscheidet
Steup dann einen Probus recentior, artigraphus, aus dem Anfang von
saec. IV, Verfasser der Ars vaticana. Dass dieser der Probus war an
welchen als seinen Gönner Lactantius Schriften richtete (RLG. 374, 2)
ist möglich, aber nicht sehr wahrscheinUch.
M. Valerius Probus. 443
Martials Worte an sein Buch (illo vindice nee Probum timeto)
voraussetzen, kein Raum mehr übrig. So gelangen wir auf
kürzestem und bequemstem Wege zu dem kategorischen Ergebnisse :
itaque Martialis locus ad aiium Probum pertineat necesse est
(p. 68). Aber auch wenn jene enge Auslegung des adnotare
richtig wäre (was sie nach meiner Meinung nicht ist) , so könnte
und müsste trotzdem die Stelle auf den Berytier bezogen werden,
da in ihr Probus im Allgemeinen als strenger Beurteiler von
literarischen Erzeugnissen bezeichnet ist, als welcher er sich
durch mundliche Vorträge oder sogar private Aeusserungen ebenso
gut bethätigt haben konnte wie durch veröffentlichte Schriften.
Etwas längere Erörterung erfordert Gellius. Dass seine testi-
monia omnia ad Probum minorem sunt referenda primum ex
temporum rationibus efficitur (p. 72). Denn der Berytier blühte
nach Hieronymus im J. 56, und Gellius, welcher vix ante annum
p. Chr. 120 videtur natus esse (p. 77), kann daher als adulescens
(und adulescentulus) nicht familiaresT von ihm gehört haben , wie
er doch wiederholt versichert (s. die Stellen in meiner RLG. 283,
2 und 340, 1). Hier ist aber schon die Zahl 56 nicht genau.
Hieronymus setzt seine Angabe „Probus Berytius eruditissimus
grammaticorum Romae agnoscitur" ins J. 2072 Abrahams, der
Amandlnus sogar erst in 2073. J. 2072 aber entspricht, da 0
(das Jahr von Christi Geburt, J. 751 d. St. nach der von Hierony-
mus befolgten catonischen Aera, 753 Varr.)= 2014 Abr., vielmehr
dem J. 58 n. Chr. oder 811 d. St. nach der varronischen Aera,
2073 also dem J. 59 = 812. Wie willkürlich sodann Hieronymus
seine Notizen unter die Jahreszahlen zu vertheilen pflegt ist durch
Ritschi hinreichend nachgewiesen; und wenn Hr. Steup zur Recht-
fertigung jenes Ansatzes umständlich darzulegen sucht dass wirklich
im J. 56 zu Rom schon antiquorum memoria omnino abolita war,
dagegen zu Berytos (vielmehr in provincia) adhuc dnravit (Suet.),
so will das sehr wenig besagen, da es mit demselben Rechte von
einem halben Hundert anderer Jahre behauptet werden könnte.
Daher eignet sich jener Ansatz nicht zum Ausgangspunkt einer
ernsthaften Beweisführung, obwohl es ganz wohl möglich ist dass
J. 56 (58) Probus gegen 40 Jahre alt war. Halten wir uns also
lieber daran dass zur Zeit der Abfassung von Martials drittem
Buche, J. 87 — 88, Probus noch am Leben war (denn sonst
müsste Martial timeres sagen statt ümeto). Dürfen wir hiernach
seinen Tod nicht wohl vor J. 90 setzen, so können wir uns alle
444 M. ValeriuB Probus
übrigen Annabmen Steups, obwohl sie keineswegs fest und sicher
sind, ganz wohl gefallen lassen, ohne doch seine Folgerung zu
billigen. Nur so viel müssen wir uns ausbedingen dass unter
den familiäres des Probus, von welchen Getlius Mittheilungen
über grammatische Erörterungen des Probus erhielt, der Wort*
bedeutung gemäss und entsprechend der Angabe des Sueton „ non
tarn discipulos quam sectatores aliquot habuit'-' (Probus) etc.,
vorzugsweise jüngere Freunde, also was Gellius selbst anderswo
(IX, 9, 12) discipuii nennt, verstanden werden dürfen. Lebte
nämlich Probus noch im J. 90, so konnten unter diesen jüngeren
Freunden auch Zwanzigjährige sein, somit im J. 70 Geborene.
Solche standen dann im J. 136, als Gellius *adulescens war, erst
im 66sten Lebensjahre, konnten somit ganz wohl von ihm gehört
werden. Sogar noch um 10 weitere Jahre lässt sich diess ohne
Gefahr hinauserstrecken. Einer dieser Freunde und Zuhörer des
ProbUs war z. B. der ungefähre Altersgenosse Hadrlans (geb. J. 76),
der Dichter Annianus (RLG. 831, 3), welcher se andiente Probum
grammaticum hos versus . . legisse dicit (Gell. VI, 7, 3). Der
bei Gellius I, 15, 18 erwähnte familiaris wird sogar ausdrücklich
in die letzten Lebensjahre des Probus gesetzt. Die Zeitrechnung
also ist weit davon entfernt die Identität des suetonischen und
des gellischen Probus unmöglich zu machen. Zweiter Grund gegen
diese Identität: Probi grammatici commentarius satis curiose factus
über die Geheimschrift in Caesars Briefen (Gell. XVII, 9, 5) non
videtur congruere cum eis quae Suetonius de Probi Berytii scriptis
tradidit (Steup p. 78). Sagen wir: cum eis quae Steupius de Pr.
B. scriptis statuit, so werden wir der Wahrheit näher kommen;
denn dass eine Abhandlung über einen so speciellen Gegenstand
zu den pauca et exigua welche Probus nach Sueton de quibusdam
minutis quaestiunculls edidil nicht gezählt werden könne wird
schwerlich sonst Jemand behaupten, so wenig als dass diese Worte
Suetons eine Missachtung (contemnere) enthalten , während sie doch
nur den Contrast zwischen dem Wissen des Probus und seiner
Schriftstellerei ausdrücken. Noch unerheblicher sind die Ein-
wendungen (p. 78), die Stellen des Gellius I, 15, 18 (Valerium
Probum grammaticum inlustrem ex familiär! eius, docto viro, com-
peri Sallustianum illud . . brevi antequam vita decederet sie legere
coepisse et sie a SaUustio relictum affirmavisse) und XIII , 21 , 9
(Probus . . hominem dimisit, ut mos eius fuit erga indociles,
prope inclementer) seien nicht recht (parum) vereinbar mit dem
bei Martialis und Gellius. 445
was Sueton über die eingeschränkte Wirksamkeit des Probus Beryt.
als Lehrer berichte (numquam ita docuit ut magistri personam
sustineret). Sehr wenig berechtigt ist nach einer solchen Beweis-
führung die Behauptung: itaque Valerius Probus Gellianus non
potest esse Berjtius (p, 78). Um so schwerer fällt gegen Steups
Ansicht ins Gewicht die Thatsache dass Gellius niemals zwei
Grammatiker des Namens Valerius Probus unterscheidet, sondern
immer nur von einem spricht uq4 diesen als doctus homo be-
zeichnet, als grammaticus inlustris, grammaticus inter suam
aetatem praestanti scientia (RLG. ^3, 1), also ganz so wie Hie-
ronymus (d. h. Suetonius) den Berytius eruditissimus grammaticorum
(oder grammaticus). Sehr unzureichend ist die Art wie p. 79
diese bedeutungsvolle Thatsache unschädlich gemacht werden will,
durch die Bemerkung dass der vorausgesetzte Probus minor propius
accessit ad Gelli ipsius aetatem (als ob weiter zurück der Blick
des Gellius nicht gereicht hätte!) und durch die Vermutung,
maiorem famam videtur adeptus esse (dieser problematische minor)
quam maior (der eruditissimus 1). Uebrigens , bemerkt Steup , werden
auch andere berühmte Grammatiker der Vergangenheit, wie Ae-
milius Asper und Remmius Palaemo, von Gellius nie genannt
(was doch etwas Anderes ist al$ Nichtunterscheidung zweier ein-
ander zeitlich ganz nahestehender berühmter Männer desselben
Namens und desselben Faches), neque ex eis locis ubi Pliqius
maior commemoratur quisquam possit efficere fuisse Plinium
maiorem (p. 79), —wobei übersehen ist dass eine Verwechslung
durch das Citieren der betreffenden Schrift (in libris n. h.) un-
möglich gemacht war. Was endlich die zwei Stellen betrifft
(Schol. Veron. ad Aen. IX, 373 und Serv. Aen. X, 539) wo Probus
nach Asper genannt ist und welche desswegen angeblich auf den
fingierten jüngeren Probus bezogen werden müssen (Steup p. 69),
so müsste — wie ich schon RLG. 310, 3 angedeutet habe —
zuerst bewiesen werden dass die dortige Aufeinanderfolge nur
die zeitliche sei und sein könne, was nimmermehr gelingen wird.
Bleiben wir qIso gutes Mutes dabei dass der Valerius Probus
bei Martialis und Gellius derselbe ist wie bei Suetonius.
XX.
Lukian's Jovxiog und Apulejus' Metamorphosen*),
243 Die den beiden Schriften gemeinsame Handlung ist folgende.
Ein junger Grieche ron gutem Hause, Namens Lukios, aus Paträ
(so Lukian; Apulejus I, 1 verschwommen : Hymettos altica et
Isthmos eiihyraea et Taeuaros sparliaca . . . mea vetus prosapia
est, woneben er mütterlicherseits aus Thessalien stammen will I, 2;
dagegen H, 12: Corinthi apud nos), welchen der Förwitz plagt,
macht eine Reise nach Thessalien. Dort kehrt er in dem Hause
eines Gastfreunds (In^aQxog^ Hilon) ein, dessen Frau (Pamphile)
sich auf Zauberei Tersteht Durch Vermittlung ihrer Magd {Ila-
Xai6XQa, Fotis), mit welcher Lukios sehr intim wird, erhält diesei*
Gelegenheit luzusehen wie sich die Frau in einen Vogel ver-
wandelt, uud will diess nachmachen ; aber die Magd vergreift sidi
in der Büchse, und Lukios sieht sich vielmehr in einen Esel ver-
wandelt, erfihrt jedoch zugleich dass er durch das Geniessen von
Rosen sich in seine menschliche Gestalt zurückverwandeln könne»
behilt auch sein menschliches Bewusstsein vollsländig; aber die
menschliche Sprache ist ihm versagt Das Weitere ist nun die
Geschichte seiner Erlebnisse als Esel, sowie seiner Rückverwand-
lung. Zunächst begibt er sich, da Rosen nicht zur Hand sind,
in den Stall, findet aber bei dessen älteren Bewohnern eine wenig
freundliche Aufnahme. Noch in derselben Nacht brechen Räuber im
Hause ein, laden die Beute ihm auf und treiben ihn ins Gebirge. Auf
dem Wege dahin und weiter in der Räuberherberge macht er
allerlei schmerzliche Erfahrungen, in Folge deren er auf Wider-
stand Verzicht leistet und sich bis auf Weiteres in sein Loos er-
gibt. Eine zweite Bande der Räuber stösst zur ersten und bringt
*) Aus dem Rhein. Mas. XIX. S. 243 - 254.
Lukian und Apulejus. 447
als Gefangene eine Braut ein. Ein Fluchtversuch mit dieser miss-
lingt; durch die Bemühungen ihres Bräutigams werden aber die
Räuber festgenommen, und der Esel darf an ihrem Einzüge in
die Heimat Theil nehmen« Um ihm Gutes zu thun gibt man 244
ihn auf das Land, wo er aber vielmehr arge Misshandiungen er-
fährt, besonders durch einen bösartigen Jungen. Zuletzt droht
ihm gar noch Castration : davor rettet ihn der Tod der Herrschaft,
in Folge dessen auf dem Gute Alles auseinanderläuft und er an
einen Bettelpriester der syrischen Göttin verhandelt wird. Da er
aber durch sein entrüstetes Schreien die Entdeckung ihrer Schänd-
lichkeiten herbeiführt, wird er an einen Müller verkauft und von
diesem weiter an einen armen Gemüsehändler. Letzterer geräth
in Conflict mit einem Offizier. Dessen Rache fürchtend flüchtet
sich sein Herr in einen Versteck, wird aber durch die unzeitige
Neugierde seines Esels verrathen. Sein' neuer Herr, dieser Offizier,
gibt ihn bald an zwei Brüder ab, welche Sklaven eines reichen
Mannes sind und dessen Küche und Bäckereien besorgen. Diesen
frisst er den Abtrag weg; wie seine wunderbare Naschhaftigkeit an
den Tag kommt, wird er einem Freigelassenen zu weiterer Aus-
bildung seiner Talente übergeben. Auch eine hübsche Dame
verliebt sich in das Wunderthier und hat mit ihm zärtliche Zu-
sammenkünfte. Seine Anstelligkeit in letzterer Hinsicht beschliesst
sein Herr auf der Bühne an einer zum Tode verurteilten Weibs-
person öfi'entlich zu zeigen. Dem entzieht sich aber der Mensch-
Esel durch seine Rückverwandlung. Letztere wird bei Lukian
einfach dadurch bewirkt dass der Esel von der Bühne aus einen
Menschen mit Rosen erblickt, auf diesen losstürzt, durch sie wieder
zum Lucius wird, als solcher beim Archon und bei seinem Bruder
Anerkennung findet und sich mit diesem in seine Heimat begibt,
nachdem er zuvor von der Frau bei der er als Esel so grossen
Beifall gefunden hatte, jetzt als Mensch „nach Verminderung
seiner Reize", mit Spott und Schande aus dem Hause gejagt
worden ist. Dagegen bei Apulejus rennt der Jlsel aus dem Theater
von Korinth weg bis nach Kenchreä, und richtet hier ein Gebet
an die Isis; diese erscheint ihm und heisst ihn am folgenden
Tage, bei ihrer Procession, ihrem Priester den Rosenkranz aus
der Hand fressen, was geschieht und ihn nicht blos wieder zum
Menschen, sondern zugleich zu einem glühenden Verehrer der
Isis und weiterhin des Osiris macht, in deren Geheimnisse er
dann dort und weiterhin in Rom eingeweiht wird.
448 Lnkian and ApnlejoB.
Mit Ausnahme dieses Schlusses ist die Haupthandlang bei
245 Lukian und Apuiejus vollkoramen gleich: die einzelnen Scenen
folgen auf einander in der gleichen Ordnung, und die Ausführung
derselben stimmt meist wörtlich zusammen. Nur die Namen sind
grösstentheils andere. Zwar der Hauptheid heisst beiderseits Lucius t
ausser ihm ist aber nur der Name des Philebus (Luk. 36 = Ap. VUf,
35 extr.) übereinstimmend, wogegen z. B. Burraena "Aßgoia
heisst, MsviK^g (Luk. 49) Thiasus (Ap. X. 18), ^sxQiavog
(Luk. 2) Demeas (Ap. I, 22. 26). Ebenso ist die Charakter-
zeichnung auf beiden Seiten die gleiche, bis auf kleine Zuge
hinaus, wie dass das Verhältniss zwischen Lucius und Pa-
lästra in der Küche mit Bewunderung der Gelenkigkeit ihrer
Hüften seinen Anfang nimmt. Dagegen ist das ?on Lukian Er-
zählte bei Apulejus theils kürzer theils ausführlicher behandelt,
in einzelnen Beziehungen auch abgeändert. Abgekürzt hat Apulejus
einige Gespräche, namentlich die zwischen Lucius und Palästra
(Luk. 6 und besonders die palästrischen Zweideutigkeiten, 8 ET.),
wie die römischen Dramatiker die dialogischen Partieen ihrer
griechischen Vorbilder zu kürzen pflegen. Weit grösser aber ist
der Betrag dessen was Apulejus hinzugefügt hat. Unter diesen
Zuthaten unterscheiden wir zweierlei Arten: rein quantitative,
welche mit dem eigentlichen Stoffe in keinem Zusammenhang stehen,
und andererseits solche welche zu der Haupthandiung in Be-
ziehung gesetzt sind und diese theils erweitern theils abändern.
Rein aggregativ hinzugekommen ist bei Apulejus eine Anzahl von
Spuk-, Räuber- und Skandal -Geschichten, sowie die Erzählung
von Amor und Psyche, welche alle mit der Handlung des Romans
nur ganz lose zusammenhängen, wie z. B. die bella fabdla von
Amor und Psyche durch eine deiira et temulenta anieola (VI, 25)
im Verstecke der Räuber der gefangenen Braut zu deren Unter-
haltung erzählt wird. Von diesen Geschichten enthalten nur die
ins erste und zweite Buch aufgenommenen von der Hexe Meroe und
die von Thelyphron (H, 21) Verwandlungen und könnten daher
aus MstaiiOQq)ci6€LS geschöpft sein; allenfalls auch der Kampf
mit den zwei Schläuchen in Buch Hl, vermöge seiner zauber-
haften Motiviei*ung, sowie die Erzählung von Amor und Psyche
wegen ihres phantastischen Charakters, ihres Ineinanderspielens
der Wirklichkeit und der Märchenwelt. Dagegen die Räuberge-
schichten von Buch IV und VII, 5 ff., der Roman in VIH, 1 ff.,
246 die Schmutzgeschichten von Buch IX und X sind ohne Zweifel
Aowiig und Metamorph. 449
anderen Quellen entnommen (vgl. I, 1: varias fabulas conserere)
und jedenfalls ohne Berührungspunkte mit der lukianischen Er-
zählung. Indessen sind einige dieser Erzählungen dazu verwendet
um Theile der eigentlichen Handlung zu motivieren, wie die Ge-
fangennahme der Räuber, der Tod der ihnen abgejagten jungen
Frau, welches Beides bei Lukian viel kürzer und einfacher er-
zählt und begründet wird, ohne den weiten Umweg des Apulejus.
Organischer verknüpft sind Zuthaten .wie der Versuch auf die
Rosen vor dem Eponabilde im Stall (Ap. III, 27), die Ausmalung
der Abenteuer bei der Flucht des Gesindes (Ap. VIII, 16 CT.; ganz
kurz bei Luk. 34 f.), die Thätigkeit der Galli (besonders das
Weissagen per sortes IX ^ 8) oder die Schilderung der theatra-
lischen Aufführung (bes. die pantomimische Darstellung des Ur-
teils von Paris X, 29 ff.). Einzelnes sieht sogar aus als wollte
es etwas von dem Vorgänger Vergessenes nachtragen, wie VII, 1 f.
die Consequenz aus der Gleichzeitigkeit des Räubereinbruchs und
des Verschwindens von Lucius gezogen wird, und VII, 24 der
thierquälerische Junge seine Strafe erhält, was Beides bei Lukian
fehlt* Zu diesen grösseren Erweiterungen kommen ferner kleinere
hinzu, nicht immer glücklich angebracht, wie II, 4 die umständ-
liche Beschreibung des Hauses der Burraena, oder U, 8 f. der
Excurs über die ästhetische Wichtigkeit des Haars, oder X, 20
die überladene Ausstattung der Oertlichkeit wo das Rendezvous
mit der liebeglühenden Dame vor sich geht und welches der
Esel doch selbst als cubiculum meum bezeichnet (einfacher und
passender Lukian 51). Anderes dient dazu die Handlung und die
Sprechweise der Handelnden zu romanisieren, namentlich tech-
nische Wendungen des Privat- und Staats -Rechts, wie die Er-
wähnung der lex Cornelia (VUI, 24), die ausführliche Beschrei-
bung einer Gerichtsverhandlung (III, 2 ff,), und IX, 27 : nee her-
ciscundae famiiiae, sed communi dividundo formula dimicabo.
Noch Anderes beruht auf Einmischung des persönlichen Ge-
schmackes von Apulejus. So die gezierten Uebergänge, nament-
lich regelmässig bei Erwähnung des Sonnenaufgangs, die anspruchs-
vollen, phrasenhaften Motivierungen mit der Fortuna (z. B. IX, 1),
welche zu der Handlung oft einen — wie Buch XI zeigt, unbe-
absichtigten — komischen Contrast bilden, besonders aber der
ganz und gar unglückliche Schluss des Werkes. An die Stelle 247
des lustigen Schlusses von Lukian hat nämlich Apulejus einen
langweiligen gesetzt, statt des dortigen kurzen und guten einen
Teuf fei, Studien. 29
450 Lvkuui imd Apokriiia.
eatseliiicb gcdduteo, dar noch uberdiMB mit dem Ton and GmaCe
des VoriMTgchendea im geradceten Gegensatz steht. Wäiirend näm-
lich das Frühere trotz allen Heienspukes doch ans einem Gefete der
AofUaniDg heraus gedichtet ist und namenllich den Priestern
der Dea Syria übel niilspiell, so ist das ganze letzte (eUle) ftich
auf den Preis und £e Eropfddnng des Isisculles und der Ter-
wandten Mystorien angd^ Und doch bat die syrisclie GMin
gewiss keinen minderen Anspruch für einen der vielen Namen
der einen Gottheit angesehen zu werden als die andern XI, 5
aufgezahlten göttlichen Wesen. Apulejns aber bat sich auf diesen
▼on ihm angeflickten Scblass gewiss ganz besonder^ fiel zu Gate
gethan, ja neUeicht sollte in seinen Augen alles Vorhergehende nur
der Köder sein um den geneigten Leser durch das S^lussbuch
für jene Mysterien zu gewinnen» Tielleicht wollte er indireet das
Bekenntniss ablegen dass er vor seiner Einweihung ein — Esd
gewesen» dass er erst durch diese Dinge zum Menschen geworden
sei. Es wäre diess wenigstens ganz in der Art des Apulejus,
welcher namentlich in der Apologie (c. 55. 63 u. sonst) sieh viel
damit weiss dass er Mitglied aller möglich^i geheimen Orden sei»
und würde yoUkommen stimmen zu der Eigenthnmlicbkeit von
Buch XI. Nicht nur sofern dieser Myslerienquark darin mit einer
Wichtigkeit und Umständlichkeit behandelt ist weldie diesem Ab-
schnitt allerdings einigen culturgeschichtlichen Werth verleiht,
sonst aber desto ermüdender wirkt, sondern besonders wegen
des Umstandes dass hier mit einem Male der Verfasser mit dem
Redenden sich identificiert. Wohl ist es schon III, 15 bedenk-
lich dass es von Lucius heisst er sei praeter sublime Ingenium
sacris pluribus iniUatus; aber er bat diesen Zu^ doch nicht mtt
Apulejus allein gemein, noch viele andere begabte Männer werden
in jener Zeit diesen Wissensdrang in sich gehabt haben; und
andererseits ist dieser Zug das Einzige in den zehn Büchern was
irgendwie an die Person des Apulejus anklingt und erinnert: sonst
bleibt der Redende immer ein junger Hellene aus Korinth oder
dessen Gegend. Dagegen im elften Buche plumpt jählings die
Bezeichnung desselben als Madaurensis dazwischen (XI, 27), und
248 dieser kann uns nicht genug erzählen von seinem gelehrten Ruhme
(ipsa qua flores doctrina, 15; studiorum gloria, 27 extr.), von
den kostspieligen Reisen die er gemacht (28) und wie er sich zu
Rom durch seine Beredtsamkeit eine Existenz geschaffen habe
(quaesUculo forensi per patrocinia sermonis romani, 28 extr.;
Aovw^ und Metamorph. 4öl
stipendiis forensibus bellule fotus; 30; gloriosa in foro patroeinia,
30). Man darf hieraus keinen Rückschluss ziehen auf das Vor-
hergehende und auch dieses als Quelle für die Kenntniss von
Apulejus' Leben und Person benutzen; nicht zwar weil es ein
schlechter Geschmack wSre von sich selber die Verwandlung in
einen Esel und so manche sehr wenig ehrenvolle Erlebnisse in
dieser Gestalt zu erzählen — denn das wäre schliesslich indi-
viduell — , sondern weil die Aussagen über die Heimat des
Redenden auf beiden Seiten (B. I — X und andererseits B. XI)
schlechterdings unvereinbar sind. Wir können daher in dem
kunstwidrigen Eindrängen der Person des Schriftstellers in Buch
XI nur einen Fingerzeig erblicken dass dieser Theil — und
nur dieser — Selbstbekenntnisse enthalte.
Wenn hiernach der Schluss welchen Apulejus aus eigenen
Mitteln hinzugefugt hat vom Standpunkte der Kunst und des
Geschmackes für Nichts weniger gelten kann als für eine Ver-
besserung, so ist in ähnlicher Weise auch zu urteiVen über das
Verhältniss der beiden Ganzen. Zwar ist bei Apulejus Manches
anschaulicher und tritt dramatische Belebung an die Stelle
von Lukian's epischer Ruhe und graziöser Eleganz, wie z. B. II,
6 if. entschieden lebendiger ist als bei Lukian und lil, 21 f. die
Verwandlung drastischer erzählt wird. Im Ganzen aber ist die
Verzögerung der Handlung durch die vielen langen Einschaltungen
gewiss kein Gewinn. Die eigentliche Erzählung ist dadurch zu
einem blosen Faden geworden, um eine Reihe* anderer Erzäh-
lungen daran aufzuhängen; die Ausweitung des Stoffes ist eine
unorganische, willkürliche, gewaltsanfie geblieben, und der Fort-
schritt von der Erzählung (Novelle) zum Roman nur äusserlich
gemacht, der Unterschied noch ein blos quantitativer.
Dabei ist zuzugeben dass diese Manier uns manche hübsche
Geschichte erhalten hat und insbesondere die denkwürdige «Er-
zählung von Amor und Psyche. Der Stoff ist sicherlich in
der Hauptsache den Griechen entnommen, die Behandlung des- 249
selben aber eine charakteristische. Zwar die Herabziehung des
sinnvollen Mythus zu einer fabula milesla, zu einer ziemlich ge-
wöhnlichen Wunder- und Intriken-Geschichte, wird schon auf die
Rechnung des (griechischen) Vorgängers zu setzen sein; und auch
die geringe Achtung womit die Gestalten der alten Religion be-
handelt werden ist wohl aus derselben Quelle abzuleiten, da sie
zu des Apulejus Piatonismus eigentlich nicht stimmt. Ceres näm-
29*
452 Lokian und Apulcjos.
lieh und Judo benehmen sich höchst hartherzig, Venus bethätigt
kleinliche und l>ösartige Eifersucht, Juppiter ist lüstern; und in
demselben Geiste ist es dass Psyche als unverbesserlich neugierig
gezeichnet wird (VI, 20 extr.) und das Ganze gut bürgerlich mit
einer Hochzeit schliesst, indem Psyche nach vielen harten Bussen
und Prüfungen — die sie nicht einmal alle glücklich besteht —
endlich in den dauernden Besitz ihres Amor gelangt. Im Einzelnen
der Ausführung zeigt sich vielfach Geist und Lebendigkeit, aber aucli
eine Vergröberung, welche sicher des Römers Werk ist; ebenso die
starke Romanisierung in zahlreichen Anspielungen auf Rechtliches
(Asylrecht VI, 4 extr. ; Gültigkeit einer Ehe VI, 9 extr. ; Scheidungs-
formel V, 26 extr. ; lex lulia VI, 22; Parodie der Senatsgebräuche VI.
23), sowie die vielfach geschraubte, mit Vergleichungen, Bildern und
Metaphern oft der kühnsten Art (so caesariem ambrosia temulentam
V, 22; lucerna tale corpus basiare gestiebat V, 23; supercilium
amnis und coma fluvii V, 25) und mit Wortspielen überladene Sprache,
lieber das Verhältniss der Darstellung Lukians zu der des
Apulejus ist schon im Vorstehenden thatsächlich geurteilt und
der griechischen Fassung der Charakter als Original zuerkannt,
wovon die lateinische eine freie, durch anderweitige Zuthaten er-
weiterte Bearbeitung sei. Der Beweis liegt in der Sache selbst
Wäre die griechische Bearbeitung die spätere, so müsste sie ein
Auszug sein; aber die Merkmale eines Auszugs hat sie mit nichten,
da sie in allen Theilen wohl proportioniert und vollkommen ab-
gerundet ist. Zum Ueberfluss sagt Apulejus ausdrücklich {l, 1:
fabulam graecanicam incipimus) dass er eine ursprünglich grie-
chische Erzählung vortrage. Es könnte sich daher nur fragen
ob Apulejus etwa nicht aus der lukianischen Schrift geschöpft
habe, sondern aus einer gemeinsamen älteren griechischen Quelle.
2r)0 Letzteres folgert man aus Photius 129. Hier heisst es: *^v£-
yvßijsd^rj Aovxiov JlatQecog Msra(iOQg)ci6eGiv Xoyov ätd-
g)OQot. iött dh xr^v g)Qaötv Oaqnjg xs xul xad'aQos xal q)iXog
yXvxvxTjxog* fpavyfiov 81 xriv iv Xöyotg xuivoxo(iiav stg vnsg-
ßoX'^v Sifjixei rijv iv xolg SiijyrjiiaOi, xBgaxeiav xal — (&g av
rtg fiftrot — aXXog iaxl Aovxiuvog. of ds ys jtQfSxot «vrov
Svo XiyoL (lövov ov (i6xsyQdq)ri0ccv*) Aovxioii ix tov Aovxta-
*) Dass diess ,, herübergeschrieben*' bedeutet sei Manso zu Ehren
bemerkt, welcher (Vermischte Schriften II. S. 246) es durch ,,Ueber-
setzen" wiedergibt. Von gleichem Werthe ist seine ganze Argumen-
tation daselbst, S. 248—251.
Aovnig und Metamorph. 453
vov loyonog imyiyQajtrcct jiovxi^g*) rj"Ovog, if ix täv Aov-
xiov Xoymv Aovxiavä, soixe Sh fi&Xkov 6 jiovxiavog fi€ta-
yQcifpovxL^ ocov slxd^Biv, tlg yä^ XQOvcf) XQSößvteQog ovjcüd
Sxofisv yvmvaL. xal yäg ci6X€Q djto jtXätotfg täv Aovxlov A6-
ycav 6 Aovxiavog aicoksTCtvvccg xal TCSQiskfov o(5a (iiq idoxsc
av%^ TCQog xov otxstov x^atficc oxoicov, aixatg xs Xil^söt xal
6vvxäi,B6iv alg eva xd komd övvaQ^ioaag Xoyov Aovxtg rf "Ovog
ijtiyQailfs xd ixsW'Sv vxo^vXijd'av. yifist dh 6 ixaxsQOv Xoyog
TtXaöfidxcov ii€V fiv&txciVf dQQt^ojcoUag dl alcxQag, TcXrlv 6
l^kv Aovxiavog (SxcixxcDV xal dtaövQiOv xiqv iXXr^vtX'^v dattSt-
dui^ovCav äCTcaQ xdv xotg aXXoig xal xovxov övvaxaxxav , ö
dh Aovxiog öTtovdd^cov xa xal mexdg voiii^cov xdg dvd'Qoi-
Tcmv alg dkh^kovg iiaxa^OQg)ci0atg xdg xa il^ dXoycov alg dvd'Qci-
Tcovg xal avdnaXtv^ xal xov aXKov xäv icaXamv [iv&cov v^kov
xal (pX'tjvag)ov , yQ<^9>V ^^Qsdtäov xavxa xal övvvtpatvav.
Photios spricht hier so eingehend, in so zuversichllichem Tone,
und so genau unterscheidend zwischen dem was er zu wissen
glaubt und dem was er blos vermutet dass,man nicht umhin kann
ihm Glauben zu schenken, und anzunehmen er habe ein -Werk
mit dem Titel Aovxlov üaxQacag MaxaiiOQg>C96acjv Xoyot
dvd(poQOL wirklich vor sich gehabt. Was er aus solcher eigener An-
sicht weiss ist dreierlei: 1) dass das betreffende Werk gut geschrieben
wa)r; 2) dass es umfangreicher war als die Schrift Lukians und
letztere — oder deren Stoff — nur die beiden ersten Xoyoi des 251
ihm vorliegenden Werkes ausmacht; 3) dass nach Stoff und In-
halt beide Schriften wesentlich gleichartig waren. Nicht weiss
PhotioSji welcher von beiden Schriftstellern der ältere ist, ob Lu-
kian oder Lukios. Auf dem Wege der Reflexion, durch Argu-
mentieren und Schliessen, gelangt er aber zu der doppelten An-
sicht, beziehungsweise Vermutung: a) das kürzere Werk ist aus
dem grösseren entnommen, Lukian also aus Lukios, Lukios somit
älter als Lukian; b) die Behandlung ist beiderseits eine verschie-
dene: dort scherzhaft satirisch, hier ernsthaft und abergläubisch.
Von diesen beiden Vermutungen ist sicherlich die erstere mit
Courier u. A. abzuweisen'*'*). Veranlasst ist sie dadurch dass in
*) Dieses Aftvitig neben Aovmog durfte Ritschi zu den Belegen
seiner declinatio latina reconditior fügen.
**) Gerechtfertigt hat beide E. Rohde, über Lucianos Schrift Aov'üiog
. . und ihr Verhältniss zu Lucius von Patra und den Metamorphosen
des A pul ejus, Leipzig 1869. Er nimmt nämlich (wie Manso, Vermischte
.M^
454 Lnkian und Apulejas.
der Zeit des Photios solches Epitomieren und Excerpieren aller-
dings etwas sehr Gewöhnliches war, nicht bios bei historischen
Werken — - wo diess zu allen Zeiten Statt gefunden hat und im
griechischen Alterthum in ganz besonderem Masse — sondern
auch bei Romanen. Für die Zeit des Lukianos ist ein solches
Werfahren nicht zuzugeben, und noch weniger für die Person des
Lukianos, da Courier vollständig Recht hat wenn er p. |VI f.
seiner Ausgabe und Uebersetzung der Luciade sagt: je ne puis
croire que Lucien ait jamais rien abrege; ce n'etait pas son carac-
"" töre; il ampliße tout au contraire etc. Dass auch die Beschaffen-
v."^ V ^^ b^i^ ^^^ Schrift selbst eine solche Annahme unglaublich macht
\S^ A> ^s^ schon beigerkt. Ueberdiess wäre schlechterdings nicht abzu-
c^'^'' sehen zu welchem Zwecke Lukian einen von seinem Vorgänger
bereits in gutem Stile (nach Photios' Angabe) bearbeiteten Ge-
genstand abermals behandelt hätte, und zwar ohne wesentliche
sachliche Abweichungen. Denn dass solche Abweichungen nicht
vorhanden waren erhellt theils aus der Angabe des Photios, theils
aus der grossen Uebereinstimmung zwischen Lukian und Apulejus,
aus welcher mit Nothwendigkeit folgen würde dass (auch) Lukian
sich eng an die gemeinsame ältere Quelle angeschlossen hätte,
womit dann aber freilich aller Grund zu einer neuen Bearbeitung
in derselben Sprache, ja aller Raum dafür wegfiele. Es ist also
vielmehr umgekehrt zu sagen dass die kürzere Fassung — des
Lukian — die ältere ist. Des Photius zweite Vermutung, von
der Verschiedenheit der beiderseitigen Behandlung, hätte nur
dann Werth wenn sie auf einer genauen Vergleicbung beider
Schriften beruhen würde ; so wie sie sich gibt und wie besonders
252 die Eingangsworte zeigen, gründet sie sich nicht auf wiederholte
eigene Ansicht der lukianischen Schrift, sondern auf eine unbe-
stimmte Erinnerung des Eindrucks den sie ihrer Zeit bei der
Leetüre auf ihn machte. War dieser auch ein. richtiger — da
die Lukiade wirklich satirisch ist — , so folgt daraus doch keines-
wegs dass die Behandlung in der von Photios eben erst gelesenen
Schrift eine andere gewesen, somit seine Angabe hierüber gleich-
Schriften II. S. 248 — 251) an dass die kleine Schrift des Lukian
eine Parodie des betreffenden Abschnittes in dem (umfassenden) Werke
des Lukios von Paträ und eine Satire auf deren abergläubischen Ver-
fasser sei (S. 10 — 14). Die Hauptänderung an dem Werke des Vor-
gängers werde darin bestanden haben dass Lukian den Lucius die Ver-
wandlung in einen Esel als ihm selbst widerfahren erzählen Hess.
Aovnig und Metamorph. 455
falls richtig sein rnuss. Die Behauptung , der Schriftsteller habe
an die von ihm selbst erzählten Verwandlangen allen Ernste»
geglaubt, klingt so ganz unglaublich*) dass sie vielmehr auf das
Urteil und VerstHndniss des Photios ein bedenkliches Licht wirft.
Kaum dass sie sich entschuldigen lässt durch den Unterschied
welchen die Altersstufe und Stimmung des Lesenden hinsichtlich
des Eindrucks einer Schrift begründet, besonders einer scherz-
haften, oder durch die Verschiedenheit des Eindrucks bei dem
gleichen Stoffe , je nachdem derselbe entweder als kleines rasch
durchflogenes Büchlein sich darbietet oder als Bestandtheil eines
umfangreichen, viel Zeit in Anspruch nehmenden Werkes, oder
durch einzelne sclieinbar ernsthafte Wendungen, wie sie Apu-
lejus so häufig einstreut und auch Lukios gehabt haben kann.
Am wahrscheinlichsten ist aber dass Photios die beiden ersten
Bücher des Lukios, welche den Aovxig rf "Ovo^ enthielten und ihm
daher schon aus Lukian bekannt waren, gar nicht eigens durchlas,
sondern höchstens fluchtig ansah, und dass sich daher seine Ver-
glelchung mit der Art des Lukian auf die übrigen in dem Werke
des Lukios enthaltenen Erzählungen bezieht. Sind hiernach die
beiden Vermutungen des Photios zurückzuweisen, so hat es um
so mehr sein Verbleiben bei den von ihm milgetheilten positiven
Angaben. Nach diesen haben wir uns das Werk des Lukios
vorzustellen mit einem Umfange welcher dem der Metamorphosen
des Apulejus mindestens gleich kam. Die Anlage scheint aber
eine andere gewesen zu sein. Wenn der Inhalt der lukianischen
Schrift in den beiden ersten loyoi des Lukios wiedergegeben war
— etwa wie die äXirftiiq lötoglu des Lukian zwei X&yoi Bildet
— , so können die verschiedenen Erzählungen nicht in einander
geschachtelt gewesen sein, wie bei Apulejus, sondern sie müssen
auf einander gefolgt sein, also eine normale Sammlung von
Märchen und ähnlichen Geschichten gebildet haben. Vielleicht
dass gerade der .Vorgang des Apulejus abschreckend wirkte
und auf den einfachen Weg hinwies, vorausgesetzt dass der 253
Grieche überhaupt von dem lateinischen Werke Kenntniss hatte
oder nahm. Zeitlich war Letzteres ohne Zweifel möglich; denn
da Apulejus ein — wenn auch etwas jüngerer — Zeitgenosse
*) Diess bestreitet £. Rohde S. 8 f. , da im Punkte des Aberglau-
bens im zweiten christl. Jahrb. , einer Periode der Zersetzung aller
Yorchristlicben abendländischen Religion, nichts unmöglich gewesen
sei, wofür er Belege gibt.
456 Lokiaii und Apnl^uB.
Lukian's war, so hal es wenig Wahrscheinlichkdt dass zwischen
Beide hineia das Sammelwerk des Lakios zu setzen wäre. Wohl
aber können Apulejus and der Urheber dieses Sammelwerkes
ihre EnUdnngen ans den gleichen griechischen Quellen geschöpft
haben.
Den lukianischen Ursprung des Aoviug ^ "Xhfog haben wir
im Bisherigen kurzweg Torausgesetzt, einfach darum weil wir
nach Gründen ihn zu bezwdfeln uns bisher vergebens umgesehen
haben. Man könnte zwar allenfalls solche finden in der leichten
Eleganz womit dieses Schriftchen hingeworfen ist und welche
allerdings absticht gegen die selbstbewusste und sich selbst be-
spiegelnde wortreiche Manier der nichtdialogischen Schriften des
Lukianos. Ohne Widmung» ohne Einleitung — wie sie die stoff-
lich nächstverwandte Schrift Lukian's, die dXrfiiqg töroQia, besitzt
— führt uns das SchriRchen sogleich mitten in die Sache selbst
hinein und bleibt diesem Charakter auch weiterhin getreu, indem
die Person des Schriftstellers völlig untergeht in der des redenden
Helden. Aber dieses Argument ist nichts weniger als überzeugend.
Es ist ja doch wohl ganz möglich dass Lukian einmal sich selbst
übertraf, dass er seine Person einmal bei Seite liess, so gut als
er diess bei den Dialogen gethan hat, zumal wenn wir in dem
Schriflchen etwa ein Erzeugniss genialer Jugendiaune besässen,
aus einer Zeit wo der Verfasser noch nicht der berühmte — und
eitle — Mann von später war"^).
Eine andere Frage ist ob der Verfasser des erwähnten Sammel-
werkes wirklich Lukios aus Paträ hiess. Der Name ist einzig
durch Photios überliefert und höchst verdächtig durch den Um-
stand dass er der Name des Helden der lukianischen Erzählung
ist**). Hierdurch Mird es wahrscheinlich dass jene« Sammel-
werk entweder anonym erschien und nach dem Helden der ersten
Erzählung — welchem seiner Berühmtheit wegen vielleicht auch
In den späteren koyot eine Rolle zugetheilt war — benannt wurde,
254 oder Pseudonym , eben unter jenem literarisch bekannten Namen,
*) Weitere BegründuDg der Abfassung durch Lukian s. bei £. Rohde
a. a. O. S. 30 — 38 (vgl. S. 40 — 42), welcher die Abweichungen von der
sonstigen Schreibweise Lukianos aus karikierender Wiedergabe des nn-
gefeilten Ausdrucks im Werke des Lukios erklärt.
*^) Hierauf hat schon Wieland (in seiner Uebersetzung des Lukian
IV. S. 296 ff.) aufmerksam gemacht und daraus Schlüsse gezogen.
Rohde*8 Erklärung dieses Umstandes s. oben S. 454, Anm.
Aoüiiig und Metamorph. 457
welchen dann der gute Patriarch ebenso für Ernst nahn) wie den
in dem Werke enthaltenen Erzählungsstoff ^). Veranlassung hierzu,
mochte die Thatsache geben dass — wie Lukian's dXtjd'rig Ustogla
zeigt — solche Erzählungen häufig als eigene Erlebnisse des Reden-
den dargestellt wurden. In einem Falle wo es sich um die Ver-
wandlung in einen Esel handelte lag gewiss Grund genug vor hier-
von abzuweichen und für die erdichtete Geschichte eine erdichtete
Person zum Träger zu machen. Lukian scheint deren Namen
absichtlich so gewählt zu haben dass derselbe mit seinem eigenen
wenigstens Verwandtschaft und Aehnlichkeit hatte, um sein Kind
nicht völlig von sich zu stossen; Spätere aber adoptierten gern
den schon vorgefundenen und schon berühmten Namen.
Um schliesslich auf die MetanH)rphosen des Apulejus zurück-
zukommen , so hat hinsichtlich ihrer Abfassungszeit schon Bosscha
(in Oudendorp's Ausgabe III. p. 511} mit Recht bemerkt dass sie
nothwendig nach der Apologie fallen müssen, da das Werk den
Gegnern des Verfassers allzu reichen Stoif für weitere Begründung
ihrer Angriffe geliefert hätte als dass deren Schweigen darüber
begreiflich wäre. Hildebrand (in seiner Ausgabe I. p. XXV — XXVII)
hat zwar einen Versuch gemacht diese Ansicht zu bekämpfen,
aber so unglücklich dass er seiner Behauptung, Apulejus habe
die Metamorphosen schon bei seinem Aufenthalt in Rom verfasst,
die beschränkende Hypothese hinzufügen muss: — aber nicht
herausgegeben, sondern unter den Scheffel gestellt, in seinem
Pulte verborgen, da sie allerdings^ sonst von den Anklägern
nothwendig hätten ausgebeutet* werden müssen. Damit hat er in
Wahrheit nur die Aufstellung von Bosscha bestätigt. Ueberdiess
setzt das Werk reichere Lebenserfahrung voraus als dass man
es für eine Jugendarbeit halten könnte. Vielleicht dass eben die
Anklage wegen Zauberei welche gegen ihii erhoben worden war
und welche, durch seine Vertheidigungsrede verewigt, an seinem
Namen dauernd "haften blieb (s. Römische Literaturgeschichte 344,
3), das Interesse des Apulejus diesem Gebiete zuwandte und
dass er gern die Gelegenhfit benützte um den wahren Begriff
der Zauberei in heiterer Weise anschaulich zu machen.
*) E. Rohde (1869) S. 7 meint: „diess wäre eine Flüchtigkeit die
wir dem Photius um so weniger zuzutrauen berechtigt sind als er in
andern Fällen sorgfältig angibt wenn der Verfasser eines ihm vor-
liegenden Buches unbekannt oder zweifelhaft war.**
XXI.
Vespae iudiciran coci et pistoris iudke Vulcano*).
Dieses kleine Epos (von 99 Hexametern) ist überliefert durch
den codex Salmasianus, und zwar unmittelbar vor dem PervigiUum
Veneris; ausserdem durch den Pariskius 8071 (Tbuaneos), saec.
IX— X, B bei Riese (no. 199, I. p. 140—143). Der Inhalt ist
ein Wettstreit zwischen Kocb und Bäcker, von denen jeder seine
Kunst preist, die des Andern herabsetzt. Der Schiedsrichter,
Vulcanus, gibt ebenso vernunftig als gutmütig seine Ent^heidung
dahin ab dass Beide ihren Werth haben und daher das Streiten
unterlassen sollten: es, coce, suavis homo; dulcis sed tu quoqae,
pistor, was an Vergil eci. 3, 108 &. erinnert: et vitula tu dignus
et hie. Diesem Inhalt und seiner Behandlung nach gehört das
Gedicht zu den gemischten Arten: es ist ein komisches Epos,
etwa wie das Moretum, bat aber die Form des Wettkampfes mit
dem Idyll gemein und schliesst sieh zugleich an die rhetorischen
Ixccivot und iffoyöi an. Sein nächste Verwandter ist des Asellius
Sabinus (unter Tiberius) dialogus in quo boleti et ficedulae et ostreae
et turdi certamen induxerat (R. L. G. 258, 1); nur scheint dieser
prosaische Form gehabt zu haben. Wie dieser wird es auf dem
Bodeii Roms erwachsen sein. Darauf deutet die Verfeinerung
der aufgeführten culinarischen Genüsse (47 ff. 68 ff.), die Satur-
nalien (17 if.) und die crustula am ersten Januar (49 vgl. 16).
Was seine Zeit betrifft, so soll es *nach Wernsdorf ein Carmen
inflmae latinitatis sein. Ich wüsste aber nichts was auf späteren
Ursprung deutete. Denn der wiederholte Hiatus in der Penthe-
mimeres (6: nee mel erit solum: aliquid; 92: bubula Pasipbae,
Europe) kann als Zeichen eines solchen nicht gelten , da er schon
') Aus dem Rhein. Mus. XXVI. S. 341 f.
. Vespae iudicium. 459
bei augusteischen Dichtern vorkommt, besonders häufig bei Vergil
aber auch bei Horaz und Tibull; noch weniger die Kürzung des
auslautenden Vocals iti der Senkung, am stärksten 79: fervent
in caccabo fluctus, sonst aber nur bei der ersten Person des
Zeitworts. Auch die Messung von opus als lambus (5) und des
Nominativs agricola als Choriamb (27) findet beidesmal durch die
Hauptcäsur Entschuldigung. V. 82 (exseco sie gallos quasi Bere-
cynthia Gallos) ist die spondeische Messung von quasi sogar das
sprachgeschichtlich einzig Richtige und zeugt von Gelehrsamkeit
des Verfassers. Andererseits ist der Bau der Verse hinsichtlich
der Wahl der Cäsuren elegant, Ton und Ausführung nicht ohne
Anmut. Ich möchte das Gedicht ins zweite Jahrhundert setzen,
etwa gleichzeitig mit seinem Wandnachbar, dem Pervlgilium Ve-
neris, und zwar aus folgenden Gründen. Nach obligater Anrufung
der Musen sagt der Verfasser von sich: ille ego Vespa precor cui
divae 3aepe dedistis per mullas urbes populo spectante favorem
(v. 3 f.). Er ist also ein reisender Literat (Rhetor) der im rö-
mischen Reiche umher Productionen seiner Kunst gibt, wie Apu-
leius und viele Andere in der Zeit der neueren Sophistik. Er
zeigt ferner Kenntnisse in der griechischen Literatur (besonders
Mythologie), wie sie in der infima aetas niemals vorkommen, und
er spricht seinen Polytheismus mit einem heiteren Behagen aus
welches von Störung und Trübung durch das Christenthum noch
nichts weiss. Könnte er daher aus der Zeit des Reposianus (R.
L. G. 375) sein, so spricht für noch frühere Datierung (zu R.
L. G. 341) der Umstand dass v. 6 zur Empfehlung des Gedichtes
angeführt wird: aliquid quoque iuris habebit, und v. 9 und 60
juristische Wendungen gebraucht werden. Es ist also wohl ans
einer Zeit wo die Jurisprudenz in bester Blute stand, der des
Gaius (R. L. G. 339), welche zugleich die des Apuleius (ebd. 344 f.)
ist. Und dass der Verfasser ein Rhetor ist madit nicht nur der
Gegenstand wahrscheinlich sondern auch die Sorte seiner Witze,
welche bedeutend nach der Schule riechen; vgl. 44 f. Satyros —
saturos; Panes — ; panes; 82 gallos — Gallos.
xxn.
lieber die Hauptrichtungen in der heutigen
classischen Alterthumswissenschaft*).
Das Fach zu dessen Vertretern an dieser Hochschule ich zu
zählen die Ehre habe gehört mit nichten zu denjenigen welche
der Zeitgunst in besonderem Masse sich erfreuen dürfen. Viel-
mehr könnte ein verzagter Diener des classischen Allerthums ver-
sucht sein mit Novalis zu klagen:
Was sollen wir auf dieser Welt
Mit unser Lieb und Treue?
Das Alte wird hintangestellt,
Und was soll uns das Neue?
Und vergleicht man vollends das Jetzt mit dem Sonst, so wäre
es der classischen Philologie nicht zu verdenken wenn sie von
einem Gefühle beschlichen wurde wie es in einem zahlreichen
Familienkreise eine ältere Schwester haben mag wenn sie die
allgemeine Aufmerksamkeit von sich ab und Geschwistern zuwen-
den sieht welche sie einst geschaukelt hat. Sie ist noch immer
liebenswürdig wie vor einem Jahrzehnt, sie ist sogar seitdem viel
erfahrener, belesener und gebildeter geworden, und ein Blick in
den Spiegel sagt ihr dass sie noch gfir nicht viele Furchen
zählt: woher denn also diese Hintansetzung? Wenn in solchen
Fällen die Antwort oft in einem Seufzer über die Verkehrtheit
der Welt bestehen mag, so wollen dagegen wir sie lieber suchen
in dem natürlichen Gange der Dinge, der in seinem Kreislaufe
eine Seite um die andere in den Vordergrund schiebt und nach
*) Rede zum Eintritt in den akademischen Senat der Universität
Tübingen, gehalten den 4. März 1858.
Classische Alterthumswissenschaft;. 461
oben kehrt, und uns damit trösten dass ja auch wir es mitzuge-
messen haben wenn, unter dem erwärmenden Einflüsse der Zeit-
gunst andere Wissenschaften rasch zur Blüte gelangen, dass ja
auch uns es zu Gute kommt wenn wir in kranken Tagen zwar
nicht gerade sicherer geheilt werden als vor Alters, aber doch
viel gründlicher erfahren was uns eigentlich fehle , und wenn wir
dem Staube unserer Bücher auf Dampfesflugeln rasch entfliehen
können. Je williger aber wir uns ergeben in das Unabänder-
liche, um so eher wird man es uns zu Gute halten wenn auch
wir bei einem Blick auf die Unsrigen überzeugt sind und An-
dere zu überzeugen suchen dass wir uns ganz vvohl mit allen
andern Wissenschaften messen dürfen, dass auch wir nicht zu-
rückgeblieben sind hinter dem Geiste der Zeit, dass wir an
Regsamkeit, Vielseitigkeit, Schärfe der Methode in Gewinnung und
Bearbeitung des Stoßes, sowie an geistiger Durchdringung des-
selben keiner anderen Wissenschaft nachstehen, wohl aber man-
cher als Lehrer und Muster dienen könpten. Vielleicht dass eine
kurze Musterung der Hauptrichtungen in unserer Wissenschaft
dazu dient diese Behauptung zu begründen.
Die ganze Entwicklung der classischen Philologie seit Heyne
und F. A. Wolf lässt sich an drei Namen anknüpfen, von denen
nur noch einer einem Lebenden angehört: an G. Hermann
(t 31. December 1848), C. Lach mann (f 13, März 1851) und A.
Böckh.'*') Von diesen stehen die beiden Ersten wesentlich auf glei-
chem Boden, und ihre beiden Namen bezeichnen nur einen Fort-,
schritt innerhalb derselben Richtung, der grammatisch-kritischen.
Diese verfolgt G. Hermann in der Weise einer genialen Persön-
lichkeit, Lachmann mit allgemein gültiger Methode.
Eine reichbegabte, bewegliche, in ihrer Art wahrhaft ge-
niale Persönlichkeit wie er unzweifelhaft war und neben seinem
Kantianismus zugleich influenziert von dem Subjectivismus der in
seiner Jugend herrschenden romantischen Schule, stellte G. Her-
mann sein individuelles Meinen und Belieben über das geschicht-
lich Thatsächliche , das urkundlich Ueberlieferte. Er las die
Schriftsteller des Alterthums- mit den Augen eines Recensenten,
sie messend an dem eignen ethischen und ästhetischen Bewusst^
sein, wie an seinen grammatischen und metrischen Ueberzeugun-
*) Bekanntlich ist seitdem auch BSckh gestorben, den 3. Angust
1867.
462 Die Hanptrichiniigeii
gen, fortwähroid späliend oacli Anstdssen ifgend welcher Art,
und allezeil bereit dieseitieD zu beseitigen durch Abanderaiigen
und StreichmigeD an dem dorch die Handschriften überlieferten
Texte. Und man kann nicht sagen dass er dabei immer von
festen, klar «kannten und bestimmt ausgesprochenen Grundsätzen
ausgegangen wäre. Weder in Bezug auf sdne Stellung zu den
Handschriften liessen sich solche a^KeMien, noch hinsiditlich der
Gründe aus denen er dieses verwarf und Anderes besser fand«
Der eigene Einfall war das Primare, und erst in zw^ter Reihe
warf man die Blicke auf den handschrifUichen Bestand, um von
ihm eine Unterstützung oder Bestätigung des selbständig Gefun-
denen oder eine Förderung des Suchens zu entnehmen. Von dem
Masse in welchem . sie diess leisteten war sehr oft die Schätzung
der einzelnen Handschriften abhängig, und eben noch warm ge-
priesen wegen einer willkommenen Lesart wurde die glädie bald
darauf vollständig ignoriert oder auch verdammt Auf goiaue Ab-
wägung des Werthes der einzelnen Handsclviflen liess G. Her-
mann sieh selten ein; in da* Regel bediente er sich unbestimm-
ter Ausdrücke, wie „die meisten'*, „die besten", „die Mdtfzahl,,
u. dgl. Und ebenso wie üh&r diplomatische Grundsätze fühlte
das geniale Subject sich erhaben über das Bedurfniss fester
ästhetischer Normen. Was ihm nicht gefiel, das war verwerf-
lich, und insbesondere war es der weitbauschige unfassbare Be-
griff der Gleganr in welchen sich das individuelle Belleben klei-
dete, wenn man sich nicht geradezu auf einen mysteriösen in-
stinct berief oder grammatische und metrische Ansichten, viel-
leicht auch Schrullen, ins Vordertreffen schickte. Die Folge
solchen launenhaften, planlosen Verfahrens war einmal die grösste
Veränderlichkeit. Mit d<»* Bereitwilligkeit des reichen Mannes
opferte G. Hermann einen Einfall nach dem andern, um für neue
Raum zu gewinnen; jede neue Ausgabe brachte deren wieder
andere; es war du ewiges Behaupten und Zurücknehmen, Mo-
dlficieren und Bestätigen, Beschränken und Erweitern. Und weil
sodann dieses Herumcorrigieren an den Schriftstellern zu seiner
Grundlage hatte das Gefühl des genialen Subjects von seiner ab-
soluten Berechtigung, so sah man in Hermann's Schule dieses
Experimentieren selbst als eine Bethätigung von Genialität, als
etwas Geniales, an. Daher denn der unendliche Werth den man
auf diese Säehelcben legte : man führte förmlich Buch über seine
Einfälle, man erlless dem Leser keinen den man je gehabt, man
in der heutigen das^isöhen Alterthumswissenschaffc 463
stritt sich erbittert über die Priorität darin, man beeilte sich
dieselben zu Yeröffenllichen ehe ein Anderer zuvorkomme oder
gar sie stehle, man ▼eranstaltete eigene Ausgaben eines Schrift-
stellers nur um seine neuesten Conjecturen darin unterzubrin-
gen , und wenn ein Schriftsteller abgeweidet schien so warf man
sich auf einen andern, möglichst abgelegenen, von keines Emeo-
dators Fuss noch betretenen, am liebsten auf einen eben erst
entdeckten. Man mass die Grösse eines Philologen nach der
Zahl der Conjecturen die er zu Tage gefördert, die Wichtigkeit
einer philologischen Disciplin nach ihrer näheren oder entfern-
teren Beziehung zu der Kunstfertigkeit des Emendierens; und
war man nur einmal selbst im Besitze der letzteren , so glaubte
man. des Weiteren ziemlich entbehren zu können und sah halb
mit Mitleiden oder auch wohl mit Geringschätzung herab auf die-
jenigen welche sich mit so unphilologischen Dingen abmühten wie
die Ermittlung der politischen, socialen, religiösen Zustände des
Alterthums, oder die dem organischen Zusammenhang und Ent-
wicklungsgang der alten Literatur nachforschten und neben dem
Buchstaben auch noch nach dem Inhalt und Geiste der antiken
Schriftwerke fragten. Zwar das Haupt dieser Richtung für seine
Person war von solcher Beschränktheit frei. G. Hermann besass
ein feines Gefühl für die Schönheit und Eigenthümlichkeit der
alten Schriftsteller , und vor seinem Geiste stand das Alterthum
in seiner Totalität lebendig da ; aber weil das bei ihm tbeils na-
turwüchsig war tbeils sich als Frucht seiner unausgesetzten Be-
schäftigung mit dem Alterthum von selbst eingestellt hatte, so
sah er es überhaupt für etwas sich von selber Verstehendes an,
für etwas das dem Philologen, wenn er nur die Schriftsteller
fleissig lese, von selbst zufalle und wofür er sich daher nicht
eigens zu bemühen brauche, und er verursachte dadurch bei
vielen seiner Schüler eine Trübung des Urteils und Ueberschä-
tzuRg ihrer Kräfte. Je glänzender aber der Meister selbst in
seiner Richtung Uiätig war, je überraschender ihm Vieles gelang,
um so gefährlicher war er für seine Schüler. Denn nur von
einem geistvollen Manne geübt war dieses Verfahren zu ertragen,
nur beim Vorhandensein von Genialität besass dieses geniale Trei-
ben eine Art von Berechtigung; wenn nun aber nichtgeniale, ja
oft miltelmässige, kleinliche und geschmacklose Individuen das
Gleiche unternahmen, so nahm sich das um so greller aus je
grösser meistens die Zuversicht war mit der sie dabei auftraten.
464 Die Hauptrichtangen
Kein Wunder daher wenn von einer so gehandhabten Philologie
das Publicum sich mit Befremden abkehrte und gegen die phi-
lologische Thätigkeit als solche ein Vorurteil fassle. Begabtere
freilich — wie unter der älteren Generation theilweise Fr.Thiersch
und unter der jüngeren besonders Tb. Bergk und H. Köchly —
überwanden glücklich die Schranken der Schule und machten sich
die Vorzüge der anderen Richtungen zu eigen ; aber damit hatten
sie das Specifische der Ilermann'schen Schule abgestreift, sie
hatten aufgehört Hermannianer zu sein. Und wirklich, so gewiss
es ein Glück und Gegenstand gerechten Stolzes ist einen so
geistsprudelnden, anregenden und liebenswürdigen Lehrer wie G.
Hermann gehabt zu haben, so gewiss ist es eine un?erzeihliche
Beschränktheit ein Hermannianer zu bleiben sein Leben \^ng.
Blieb es doch eigentlich nicht einmal Hermann selbst bis an sein
Ende, wie sein Aeschylos beweist. Nichts desto weniger aber ist der
Hermannianismus auch in der Gegenwart nicht völlig abgestorben :
er lebt fort theils in einzelnen Exemplaren von unverfälschten
Hermannianern, sogar in einzelnen Caricaturen dieser Richtung,
dergleichen F. H. Bothe einst war und dann J. A. Härtung;
noch mehr aber in einzelnen Symptomen, wie der unmethodiscben
Handhabung der Kritik und Ueberschätzung des Conjecturierens,
während dieselben Philologen daneben auf anderen Gebieten sich
vielleicht grosse Verdienste erworben haben. Ausserdem aber ist
der Hermannianismus auch spontan wieder aufgetaucht in einer
ganzen Philologenschule des Auslandes, in der des Holländers Co-
bet, welcher mit G. Hermann's feiner Kenntniss des Griechischen
(insbesondere des attischen Dialekts) auch dessen kritische Will-
kür verbindet, indem er nach einem selbstgeschaffenen Ideale von
Atticismus die attischen Schriftsteller abändert, unbekümmert um
die Handschriften, welche Cobet selbst zwar mit Virtuosität zu
handhaben versteht, aber nur dann gelten lässt wenn sie seine
vorgefasste Meinung bestätigen.
Sehen wir aber ab von solchen Nachzüglern, so gehört in
der Gegenwart innerhalb der grammatisch -kritischen Richtung
das Feld unbestritten der Lachmann 'sehen Schule. Das Eigen-
thümliche derselben ist das was als ein mehr oder weniger be-
wusster Zug durch die ganze moderne Wissenschaft, soweit sie
diesen Namen verdient, hindurchgeht, durch die historischen wie
die Naturwissenschaften, — das Streben nach objectiver Wahr-
heit, nach dem rein und unzweifelhaft Thatsächlichen, Positi-
in der heutigen classischen AlterthumswisBenschaft. 465
ven, also auf unserem Gebiete nach exacter Quellenmässigkeit.
Dieses Princip hat zwar naturlich Lachmann so wenig entdeckt
als irgend welcher andere Einzelne, ja er hat es nicht einmal
innerhalb der classischen Philologie zuerst befolgt, er bekennt
sich vielmehr selbst in dieser Hinsicht als Schuler von Immanuel
Bekker; aber er ist der Erste der es mit klarstem Bewusstsein
erfasst, in sich verkörpert, zu seinem persönlichen Pathos und
seinem wissenschaftlichen Lebensprincip gemacht und der mit
energischer Consequenz durch Beispiel, Lehre und Schrift für
seine Verbreitung gewirkt hat, und nicht blos auf dem Gebiete
der classischen, sondern auch der germanischen Philologie, der
Geschichtsforschung und der Theologie. Diese Losschälung vom
individuellen Belieben, dieses Zurückgehen auf die geschichtliche
Ueberlieferung setzte zu allererst die Handschriften in ihr volles
Becht ein, und die paläographischen Studien nahmen' im Zu-
sammenhange damit einen neuen Aufschwung. Aber Niemand war
weiter als Lacbmann entfernt von blindem Glauben an Alles was
durch die Handschriften überliefert sei, Niemand bat im Gegen-
theil eine einschneidendere Kritik der Handschriften geübt als
gerade er. Lachmann unterschied scharf und streng zwischen
selbständigen und abgeleiteten Handschriften und Hess nur die
ersteren als Quelle gelten; was die abhängigen Eigenthümliches
boten hatte in seinen Augen nicht mehr — eher weniger — W^rlh
als irgend welche Conjectur eines heutigen Menschen. Er gieng
in seiner Hissachtung dieser abhängigen Handschriften sogar
manchmal zu weit, verfuhr oft zu rasch bei seiner Zutheilung in
diese Classe, und ignorierte die dahin verwiesenen allzugründlich,
ein Verfahren das sich namentlich in der Nibelungenkritik schwer
an ihm gerächt hat. Die als selbständig erkannten Handschriften
bildeten für ihn den Körper der geschichtlichen Ueberlieferung,
in Bezug auf dessen Beschreibung und Darlegung er die aus-
serste Genauigkeit sich und Anderen zum Gesetze machte; erst
wo diese Tradition schwieg oder nachweislich im Irrthum war
durfte der Kritiker in die Lücke treten und mit seinen Hei«
lungsvorschlägen kommen, die er aber dem Zustande der leiden*
den Stelle genau anzupassen hatte und nur als das geben durfte
was sie waren, seine individuellen Rathschläge und Vermutun*
gen. Diese scharfe Abgrenzung von äusserem Thalbestand und
persönlicher Zuthat und die darauf gebaute klare Erkenntniss der
Grenzen der Gewissbeit und der blosen Wahrscheinlichkeit, des
Teuffßl, Studien. 30
466 Die Hauptrichtungen
Möglichen und des Erlaubten, die wisdenscfaaiUiche Elirlichkeit»
welche da wo das Wissen aufhört auch den Schein desselben ver-
schmäht und wo sie nicht zu helfen weiss es auch offen heraus*^
sagt , — ist ein nicht hoch genug anzuschlagendes Verdienst von
Lachmann. Dadurch erst wurde die philologische Kritik aus der
dumpfen Lufl des Rathens und Meinens in die Atmosphäre der
Wahrheit und Wissenschaftlichkeit erhoben, und es wurden da-
durch Leistungen geschaffen bei welchen die Nachfolger nicht
jedes Mal wieder von vorne anzufangen hatten, sondern welche
für alle weitere Forschung als Grundlage dienen konnten, wo nicht
geradezu abschliessenden Charakter hatten. So auf unserem Gebiete
Lachmanns Calull, TibuU und Propertius, auch seine Gromaticf
und zum Theil sein Lucretius^ und aus seiner Schule 0. Jahn's
Persius und Juvenalis, Kempfs Valerius Maximus» KirchhoflTs
Euripides, 0. Schneider's Nikander u. A. Nicht bedingt durch
individuelle Genialität hatten die Arbeiten der Lachmann'scfaen
Schule in ihrer Art sogar grösseren Werth oder doch grösser«
unmittelbare Brauchbarkeit als die des Meisters, sofern sie 8tcb
nicht, wie dieser wenigstens in seiner literarisch^i Präzis that,
auf die Kritik beschränkten , sondern — was wohl auf der gleich-
zeitigen Mitwirkung Böckh'schen Einflusses beruhte — auch * die
Erklärung der Schriftsteller und die Aufhellung aller einschll^*
gen literarhistorischen Fragen in derselben gründlichen und
methodischen Weise sich zur Aufgabe machten. Durch 0. Jahn
hat die Lacbmann'sche Methode auch die Ardiäologie von dem
Wüste individiteUer Einfälle gesäubert und sie auf eine echt
wissenschaftliche Grundlage lurückgefuhrt, ja sogar auf dem Ge*
biete d^ modernen Kunst- und Literatur -Gescbiehte Triumphe
gefeiert. Eben wegen dieser Weite ihres Gesichtskreises, sowie
unter dem gleichmässigen Einflüsse Lachmann'scfaer Ironie und
Böckh'scher Milde, hat wenigstens ein Theil von Lachmanns di*
recten Schülern sich auch frei erhalten von dem übermi](tig ab-
sprechenden Tone welcher in der G. Hermann'schen Schule ge-
herrscht zu haben scheint und wovon Lsichmann seU^st nichts weni-
ger als frei war. Dabei ist bemerkenswerth wie zuletzt die bet-
den Schulen in ihren Häuptern sich gegenseitig näherten: wie
G. Hermann's Aeschylos nach Lachmann'scher Quellenmässigkeit
wenigstens strebt, seist Lachmann's letsEte Art>eit, sein Lucretius*
von G. Hermann'scher Emendierlust erfSllt^ freilich aitf einer echt
methodischen Grundlage. In L. Bissen trat die Lachmann'sche
in der heutigen claesisclieii AHerthumswissenschafb 467
Richtung mit Götüngischer Aesthetik und Peetoralphilologie in
Verbindung, erfolgreicher aber in Bitscbi mit Bentiey'scber Kühn-
heit , nie es denn in Lachmann's letztem Decennium unter seinen
Schülern Sitte wurde von Berlin sich nach Bonn zu wenden, um
Lachmann's skeptische Nüchternheit durch positivere Anregungen
in sich ergänzen zu lassen.
In der That stellt Ritschi — ein Schüler von G. Hermann
und dessen genialstem Schüler Reisig« und ein Freund von Lach*
mann — in seiner Person die Vereinigung von G, Hermann und
C« Lachmann dar. Ritschi besitzt erstens Lachmann's Scharf*
blick und Sicherheit der Combination, sein streng geschultes
Denken, das vorsichtig vom Bekannten zum Unbekannten auf*
steigt, sowie seine Akribie und Strenge in Unterscheidung und
Ausbeutung der Handschriften. Wie tief die Richtung auf das
Urkundliche in Ritschrs Wesen begründet ist zeigt sich darin
dass er, von dem Gebiete weg wo wir auf die Vermittlung der
Abschreiber angewiesen sind, sich mit Vorliebe demjenigen zu*
gewandt hat wo wir die Originale selbst noch handhaben kdn-
nen, zur Epigraphik, und hier abermals sich, wenn irgend mög-
lich, nicht mit Abschriften begnügt — bei welchen die Individua-
lität des Abschrdbenden immer noch Einfluss üben konnte —
sondern nur bei den Originalen selbst sich beruhigt oder Ab-
drücken die auf mechanischem Wege von ihnen genommen sind.
Auch seine Abneigung gegen Disdplinen wo wenig fester Boden
unter den Füssen ist und subjective Combination sich an die
Stelle der exacten Forschung setzt, wie Etymologie u»i Mytho-
logie, wird auf diese Quelle zurückgeben. Diese Gewissenhafltg-
keit in Feststellung des Thatsäddichen macht Ritscbl auch sei-
nen Schülern zur Pflicht, so dass manche derselben — ^e H.
Keil — in Bezug auf Vergleicben von Handschriften und deren
Beurteilung die höchste Genauigkeit und Zuverlässigkeit bewäh-
ren. Mit dieser urkundUchen Strenge verbindet aber Bitscbi
zugleich eine Sicherheit des Selbstbewusstseins der handschrift-
lichen Ueberlieferung gegenüber und eine unternehmende Kühn-
heit wie sie grösser kaum bei G. Hermann war. In Folge dessen
vermag es Ritschi nicht immer am gehörigen Orte, da wo Re-
signation geboten wäre, den Versuchungen zur Selbstsehöpfung
zu widerstehen. Dabei begegnet es ihm nicht viel weniger als
G. Hermann dass er eine aus einer Mehrheit von Fällen abstra-
hierte Beobachtung allzu rasch als Regel und unverbrüchliches
30*
468 Die Hauptrichlungen
Gesetz aufstellt und alles Widerstrebende kurzweg danach ab-
ändert. So ist besonders derjenige Schriftsteller um welchen
Ritschi sich die grössten Verdienste erworben hat, Plautus, von
ihm zugleich in eine Anzahl metrischer Regeln eingeschnürt wor-
den von welchen dieser sicherlich keine Ahnung halte *) : ein
Verfahren welches einem Volksdichter und einem Römer gegen-
über noch viel weniger berechtigt sein kann als wo G. Hermann
es geübt hatte ^ bei den griechischen Dichtern. Andererseits hat
Ritschi vor G. Hermann voraus dass er die verhaltnissmässige
Enge von dessen grammatischem Gesichtskreis erweitert hat durch
Anlehnung an die vergleichende Sprachforschung der Gegenwart,
und er für seine Person ist, wie seine Schrift über das alexan-
drinische Museum und seine Parerga zu Plautus bewiesen haben,
auch weit entfernt von der beschränkten Anschauungsweise welche
die philologische Wissenschaft in der Ausübung der Textkritik
aufgehen lässt. tJeberdiess besitzt Ritschi eine reichliche Dosis
von Lachmann's wissenschaftlichem Wahrheitssinn. Willig lässt
er sich von Freunden und Schülern wie von Fernerstehenden be-
lehren und wird nicht müde eigene Angaben, Rehauptungen und
Vermutungen zu berichtigen oder zurückzunehmen, selten um
einen neuen Einfall an die Stelle eines alten zu setzen, gewöhn-
lich vielmehr weil inzwischen der urkundliche Thatbestand eine
Rereicherung, die Forschung einen Fortschritt erfahren hat. In
dieser Selbstkritik gipfelt die kritische Richtung und liegt etwas
Versöhnendes für die Gewohnheit des Polemisierens, welche, auch
Schwachen und Unbedeutenden gegenüber und mit schneidender
Schärfe, oft Ritterkeit und Hohn geübt, leicht den Eindruck des
Zänkischen machen und abstossen könnte. Noch grösser aber
ist die Gefahr dass diese Manier, von Schülern ohne die Ver-
dienste des Meisters nachgeahmt, in die wissenschaftlichen Ver-
handlungen einen verdammenswerthen Ton einführt, zumal wo
das Rewusstsein stark ausgeprägt ist einer Schule anzugehören
welche die richtige Methode zu ihren Resitzthümern zählt. Frei-
lich ist diese Methode nichts einer einzelnen Schule Eigenthüm-
liches und nur in ihr zu Erwerbendes, sondern die gemeinsame
Errungenschaft der gesammten neueren Entwicklung der classischen
Philologie, aufgebaut auf den allgemeinen Gesetzen des Denkens
*) Für Sachverständige wird es kaum einer Bemerkung bedürfen
dass dieses Urteil dem von Ritschi seitdem selbst überwundenen Stande
punkte der Prolegomena galt.
in der heutigen classischen Alterthumswissenscbaft. 469
uud aller Geschichtsforschung. Aber es ist das Schicksal aller
Schulen , indem sie in ihrer Mitte eine Tradition bilden die den in
sie Eintretenden fuhrt und fördert, zugleich eine gewisse Enge
des Gesichtskreises zu begünstigen, eine Selbstgenügsamkeit und
Unduldsamkeit, einen Geist der Kameraderie welcher nur das was
die eigene Livree trägt anerkennt und für das was ausserhalb
des geweihten Kreises steht entweder gar kein Auge hat oder
nur Vorurteil und vornehmes Herabsehen.
Wir haben gesehen wie von G. Hermann's grammatisch-
kritischer Richtung und Thäligkeit der kritische Theil in seiner
wesentlichen Grundlage durch Lachmann und Ritschi berichtigt
wurde. Ausserdem ward er von diesen auch ergänzt, dadurch
dass sie ihre kritische Thätigkeit mit derselben Bevorzugung den
lateinischen Schriftstellern zuwandten wie G. Hermann die grie-
chischen begünstigt hatte; und es hat in Folge davon in der
Gegenwart die ohnehin einfachere und leichter zu überblickende
und auch manchfach praktischere lateinische Literatur sogar ein
augenblickliches Uebergewicht über die hellenische erlangt. Ferner
hat auch die grammatische Seite wesentliche Fortschritte
über G. Hermann hinaus gethan, nicht blos durch Lobeck,
welcher seinen Lehrer an Schärfe und Fülle der Beobachtung
weit übertroffen hat, sondern besonders dadurch dass die classi-
sche Philologie sich dem Impulse nicht verschloss welcher ihr von
Seiten der allgemeinen Linguistik wurde und ihr specielles Object,
die Sprachen der beiden classischen Völker, als Glieder der grossen
Familie der indogermanischen oder arischen Sprachen erkennen
und behandeln lernte, wodurch namentlich auch das Verhältnis»
der beiden classischen Sprachen zu einander erst auf seinen rich-
tigen Ausdruck gebracht worden ist und der Anstoss gegeben zu
euier historischen Behandlung der alten Sprachen. Es war keine
bestimmte Schule welche diese Erkenntniss in sich aufnahm und
nährte: es ist ins allgemeine Bewusstsein der classischen Philo-
logie übergegangen dass es principiell so sein sollte , und nur die
grosse Schwierigkeit der Ausführung, das Missverhältniss in welcher
die Aufgabe — den ganzen Kreis jener Spracbenfamilie zu um-
spannen und dabei mit Sprache , Literatur und Leben der beiden
classischen Völker ins Einzelste hinein vertraut zu sein — mit
den Kräften des menschlichen Individuums steht trägt daran
Schuld wenn jene Verwerthung der Sprachvergleichung für die
classische Philologie nicht schon in ausgedehnterem Masse statt-
470 l^ie Haupirichtongen
gefunden hat und es immer noch Mos einzelne Mitglieder der
verschiedenen Schulen sind (wie G. Curtius, A. KirchhofT, L. A.
Ahrens, L. Lange, W. Corssen u. A., in ihrer Weise auch Ritscbl
und Fleckeisen) in welchen jene beiden wissenschaftlichen Gebiete
sich berühren oder durchdringen. Manchen der an Sauberkeit
und Klarheit der Untersuchung gewöhnt ist mag auch diess ab-
schrecken dass bis jetzt die Erscheinungen auf dem Gebiete der
Sprachvergleichung in Methode und Resultat oft recht ungeniess-
bar sind, wie namentlich die Leistungen in der vergleichenden
Mythologie vorerst noch den Eindruck von Hexenkesseln machen,
worin die Göttergestalten aller Völker und Zeiten zu einem schaalen
Brei zusammengeruhrt werden. Aber dass hier noch Vieles der
Abklärung bedarf, dass allmählich zu der Methode bin auch etwas
mehr Unterscheidung und Urteil im Vergleichen und Combinieren
aufgeboten werden muss, wird von den Linguisten selber schwerlich
bestritten werden, und darf jedenfalls uns nicht abhalten anzu-
erkennen dass der Fortschritt in Behandlung der beiden classt-
schen Sprachen nur auf diesem Wege, durch Anschluss an die
vergleichende Grammatik, geschehen kann.
Endlich die G. Hermanu'sche Metrik ist in der neuesten
Zeit (besonders durch R. Westphal) auf wesentlich neue Grundlagen
gestellt worden, nachdem schon Böckh sie tiefer Iiegrundet und
in erheblichen Punkten berichtigt und vervollständigt hatte.
Und damit haben wir den Namen genannt welcher eine un*
erlässliche Ergänzung der grammatisch -kritischen Richtung ver-
tritt. Die Ergröndüng der classischen Sprachen und die metho-
dische Feststellung der Texte der classischen Schriftsteller wird
zwar allezeit die Basis der classischen Philologie bleiben müssen;
aber die Basis ist nicht das Gebäude, und die Form nicht die
ganze Sache. Wäre mit der Grammatik und Kritik die Aufgabe
der classischen Philologie erschöpft, so Hesse sich ihre weitere
Lebensdauer nach Jahren schätzen oder doch Jahrzehnten. Dem
ist aber nicht so. Haben wir, so gut als die erhaltenen Hölfs-
mittel es gestatten, die unverfälschten Worte jedes Schriftstellers
festgestellt, so muss die Erörterung^ des Inhaltes ihren Anfang
nehmen, sowohl nach der individuellen wie nach der allgemei-
nen Seite: einmal die Betrachtung des Schriftwerkes als eines
Ganzen, seiner Oekonomie, der Art wie es seine Aufgabe gelöst,
was für ein Bild des Verfassers sich aus ihm ergebe, welche
Stellung dieser hiernach innerhalb des betreffenden Kreises und
in der heutigen classischen Alterthumswissenschaft 471
innerhalb seiner Zeit einnehme — die literarhistorische und äs-
ihetische Seite; anderntheils musS aus dem Inhalte der alten Schrift-
steller, ergänzt durch die übrigen auf uns gekommenen Denk-
mäler, nunmehr das Altertbum selbst reproduciert werden nach
seinen ethnographischen und politischen Verhältnissen, nach Kunst,
Religion und Sitte. Diese Erweiterung der Philologie zur Alter-
thumswissenschaft, im Princip schon ausgesprochen durch F. A.
Wolf, ist zuerst von A. Böckh vornehmlich für die Gebiete des
Staatslebens und der Literatur der Griechen in grossartigem Mass*
Stabe und in ebenso methodisch grundlicher wie geistvoller Weise
durchgeführt worden'*'), und bald nach ihm hat F. G. Welcker
angefangen die Literatur, Kunst und Mythologie des Alterthums
mit genialer, weitumfassender, anregungsreicher Combination, wie-
wohl nicht immer mitBöckh's methodischer Besonnenheit, zu be-
arbeiten, während Niebuhrs Beispiel und Lehre innerhalb des
römischen Alterthums neue Bahnen brach. Seitdem hat die Thätig-
keit auf diesem Gebiete nicht geruht. Es ist vielleicht weniger
Geräusch auf dieser Seite, aber desto mehr intensives Leben und
desto mehr Wolle. Kaum ist irgend ein Zweig der Realphilo*
logie welcher nicht glänzende oder doch tüchtige Vertreter und
mustergültige Leistungen aufzuweisen hätte. Ich brauche hier
nur Namen zu nennen wie 0., Müller, K. F. Hermann, W. A.
Becker, G. Bernhardy, Scliömann, E. Gerhard, Göttling, dann
weiter hinab in den Jahren L. Boss, L. Preller, £. Curtius, auf
römischem Gebiete Tb. Mommsen, und ganz besonders wieder, für
Römisches wie Griechisches, O.Jahn, um noch jüngere Lebende
*) Als besonders bezeichnend sei hier nachträglich angeführt eine
Aeusseruug Böckh's in einem Briefe an Fr. v. Raumer, Berlin 22. März
1818 (Fr. y. Räumer, Lebenserinnerungen und Briefwechsel, Leipzig
1861, IL S. 90): ... ,,Ich werde mich leicht trösten können ttber
den Halbwitz der Philologen von gemeinem Schlage, die sich darüber
ärgern dass Einer den sie auch für einen erträglichen ABC Schützen
hielten sich erdreistet zu behaupten die ABC Wissenschaft sei nicht der
Gipfel der Weisheit; und ich sehe schon im Geiste wie die sächsische
Schule, für welche es ausser Grammatik und Metrik keine Philologie
oder Alterthumskunde gibt, sich gegen mich als einen Realisten ins Zeug
werfen wird. Fr. Passow schrieb mir neulich gelegentlich, ich sei über
das Gebiet der Philologen hinausgeschritten [mit dem Staatshaushalt der
Athener] und habe mich in das geschichtliche verloren; für mich gibt
es aber keine Philologie die nicht Geschichte wäre, und als einen
Theil dieser Geschichte sehe ich die Geschichte der Sprache an, welche
in einseitig gebildeten Köpfen zum Ganzen wird.*'
472 Die Hauptrichtungen in der heutigen class, Alterthumswisfi.
hier unerwähnt zu lassen. Ueberhaupt müssen wir es uns ver-
sagen im Einzelnen die Thätigkeit auf diesem Gebiete zu schildern
und die Mitarbeiter an dem grossen Werke der Wiederbelebung
des dassischen Alterthums mit einiger Vollständigkeit namhaft zu
machen; wir beschränken uns vielmehr in dieser Hinsicht zum
Schlüsse auf wenige Bemerkungen.
Erstens: wie keiner der genannten Männer eher zur Erfor-
schung der realen Seite des Alterthums weiter geschritten ist als
bis er im sicheren Besitze aller der Mittel war welche die gram-
matisch-kritische Richtung bietet und fordert, und wie sie bei ihren
Forschungen fortwährend sich dieser Grundlage bewiisst bleiben
und sie für ihre Methode massgebend sein lassen, — so werden wir
überhaupt die vollste Herrschaft über die dassischen Sprachen und
Sicherheit in methodischer Handhabung der Kritik von Jedem for-
dern müssen welcher wirklich Philolog sein und bleiben will, und
werden eben darein.den Markstein und das Unterscheidungsmerkmal
gegenüber vom Historiker oder Aesthetiker setzen müssen.
Zweitens: wie wir uns bei Betrachtung der formalen» gram-
maiischen Seite unserer Wissenschaft schliesslich hinausgewiesen
sahen auf das unermessene Gebiet der Linguistik, so führt der
Weg der Realphilologie in seinem Verfolge zu der noch kolossa-
leren Aufgabe einer Culturgeschichte der Menschheit, von welcher
die classische Alterthumswissenschaft nur ein einziges, wenn auch
besonders bedeutsames, Glied ist.
Und endlich in Betreff der Personen erregt es freiUch ein
schmerzliches Gefühl und führt zu trüben Betrachtungen wenn
wir sehen wie die Häupter unserer Wissenschaft grösstentheils
grau sind , ja manche sogar der Grenze alles menschlichen Wirkens
und Lebens ganz nahe stehen, andere schon in den Jahren männ-
licher Reife, in ihrer besten Kraft und schönsten Wirksamkeit, hin-
weggerailt werden, hoffnungsvolle Nachstrebende in der Blüte der
Jahre aus unserer Mitte scheiden: aber ein Umblick unter den
Lebenden zeigt doch auch manchen tüchtigen Stamm, welcher edle
Früchte schon getragen hat und andere noch zu bringen verspricht,
und über Allem steht die Ueberzeugung von der Ewigkeit der
Wissenschaft und der unvergänglichen Jugend des dassischen Alter-
thums , welches trotz aller hemmenden Verhältnisse , ja sogar trotz
der Missgriffe und der Unzulänglichkeit seiner Diener, es verstehen
wird auch fortan sich in ungeschwächter Geltung zu erhalten, so lange
die Menschheit überhaupt noch Sinn hat für geistige Interessen.
xxm.
Friedrich Hölderlin*).
Ein reicher und tiefer Dichtergeist, ein Leben voll einfacher
gewöhnlicher Verhältnisse , und doch von so' peinlichem Verlaufe
und so erschütterndem Ende ist uns in diesen Tagen wieder vor
die Augen geführt worden, ein unschätzbares und doch in dem
selbstsüchtigen Drängen ; der undankbaren Vergesslichkeit der Ge-
genwart so vielfach übersehenes Kleinod ist durch treue Hände
wieder ausgegraben und würdig gefasst worden. Friedrich Hol-
derlin's sämmüiche Werke, herausgegeben von G. Schwab's Sohn,
Christoph Theodor Schwab, liegen vor uns**). Sie enthalten
ausser dem längst dem deutschen Volke lieb Gewordenen auch
sehr vieles Neue; eine ganze Anzahl der schönsten und bezeich-
nendsten Gedichte ist hier zum ersten Mal veröfTenÜicht, ganz
besonders aber zieht der im zweiten Bande mitgetheilte Brief-
wechsel des Dichters mit seiner Familie, mit Neuffer, Schiller
und Hegel , durch das Bedeutsame seines Inhalts die Aufmerksam-
keit auf sich. Zwar hat eine etwas ängstliche Pietät auch jetzt
noch die VeröiTentlichung des ganzen von Hölderlin hinterlassenen
Briefvorrathes , namentlich der Briefe Diotima's, verhindert; aber
auch so liegt der Stoff nuitmehr vollständig genug vor um eine
gerechte Würdigung von Hölderlin's Eigenthümlichkeit als Mensch
und Dichter, eine Darlegung seines Entwicklungsganges und eine
Erklärung seines tragischen Endes möglich zu machen.
,,Es gibt zwei Ideale unseres Daseins : eine unmittelbare an-
geborne und eine durch Freiheit vermittelte Einheit mit der Natur,
*) Aus den Monatblättern zur Ergänzung der Allgemeinen Zeitung
1847, Februar, S. 61—72.
•*) Stuttgart und Tübingen ,' J. 6. Cotta'scher Verlag. Zwei Bande.
1846.
474 Fr. Hölderlin.
— einen Zustand der höchsten Einfalt und einen der höchsten
Bildung. Zwischen diesen beiden Punkten bewegt sich die Bahn des
einzelnen Menschen und der Menschheit im Ganzen" (II. S. 231).
Diese Aeusserung des 24jährigen Hölderlin enthält die Grundan-
schauung seines ganzen Lebens und Dichtens: die Natur ist sein
oberstes Princip, sein Gott, und die Einheit mit ihr sein Ideal,
der vollkommenste, seligste Zustand den er sich zu denken ver-
mag, von welchem es aber zwei Erscheinungsweisen gibt: die
unmittelbare naturwüchsige Einheit, und die selbstbewusste freie;
jene verwirklicht sich innerhalb des Lebens des einzelnen Men-
schen — in der Kindheit, und ist innerhalb der Geschichte der
Menschheit verwirklicht gewesen — in der hellenischen Welt;
diese, die freie Einheit mit der Natur, zu erreichen ist höchste
Aufgabe und letztes liel für das Individuum wie für die Gattung.
Aus diesen Gesichtspunkten betrachtet Hölderlin vor allem
sein eigenes Leben. Nur einmal ist er glücklich gewesen in
seinem Leben, nur einmal war sein Zustand ein ideaiischer: in
seiner Kindheit; aber mit ihr ist ihm die unmittelbare Einheit
mit der Natur und dadurch die Seligkeit entschwunden, und als
er sie wiederzuerobern gieng, brachte ihn die Wahrnehmung wie
weit die wirkliche Welt von jenem Ideal entfernt sei zur Ver-
zweiflung, bis ihm in Diotima dasselbe verkörpert entgegentrat.
Wurde er auch an ihr sich erst recht schmerzlich bewusst wie
fern er selbst von seinem Ideal sei, so lag doch andererseits in
der Entfaltung ihres Wesens für ihn so viel Bestätigendes, Trö-
stendes und Ermutigendes dass das Bekanntwerden mit ilir einen
neuen Abschnitt in seinem Leben begründet. Aber gewaltsam von
ihrer Seite gerissen, vergass er in seinem Schmerze dass sie
darum doch nicht aufgehört habe die Verwirklichung seiner höch-
sten Gedanken zu sein, fiel in seine frühere Verzweiflung an der
Menschheit und sich selbst zurück, und rieb in diesem Kampfe
seinen Geist auf. Diese allgemeinen Umrisse auszuführen ist die
nächste Aufgabe des Folgenden.
Im Jahr 1770 geboren und früh des Vaters beraubt, wuchs
Fr. Hölderlin unter der ausschliesslichen Hut einer tiefgemüllichen
Mutter auf. Verständige Mütter, das ihnen vielfach Unverständ-
liche und Unzugängliche eines männlichen Wesens begreifend, be-
scheiden sich bald auf die Geistesentwicklung ihrer Söhne direct
nur einen negativen Einfluss zu üben, und so war dem heran-
wachsenden Knaben ein freier Spielraum gelassen seine Eigen*
Ft. Hölderlin. 475
tbümlichkeit zu entfalten. Diess hatte einerseits die nacbtheilige
Wirkung in ihm jenen Eigensinn zur Entwicklung zu bringen mit
dem er, statt sich nach der Welt und für sie zu bilden, von den
Verhältnissen sich erziehen zu lassen, vielmehr die Welt nach
sich gestalten wollte, und sich darauf steifte mit seinem Geist
entweder die Welt zu beherrschen oder unterzugehen. Anderer-
seits aber entfaltete sich, immer nur genährt und nie gehemmt,
in diesen Jahren die ihm eigenthumliche Weichheit seines Wesens,
sein Hang zu träumerischer Hingabe an die unbelebte Natur, zu
idealischer Betrachtungsweise, nur um so breiter, tiefer und stärker.
Klopstock war daher sein Held, wie damals aller Welt; seine
Gestalten schienen ihm gross weil sie auf Stelzen gehen, seine
Sprache erhaben weil sie unnatürlich ist, und begeistert las er
daher oft seinem Halbbruder Klopstocks Hermannsschlacht vor.
Darin aber dass seine natürlichen Neigungen so gar keinen Wider-
stand erfuhren und so reiche Nahrung erhielten bestand die Selig-
keit dieser Jahre, welche der Dichter selbst, von seiner späteren
systematisch entwickelten Weltanschauung aus, einseitig aus seiner
damaligen unmittelbaren Einheit mit der Natur ableitete, die er
wiederholt in den köstlichsten Worten uns schildert. Es waren
„goldne Tage da ich in Träumen, Mir entlockt vom heitern
Tag, Unter meines Gartens Bäumen Ein zufriedner Knabe lag*'
(I, 14). „Wenn ich oft dalag unter den Bäumen und am zärt-
lichen Frühlingslichte mich sonnte und hinauf sah ins heitere
Blau das die Erde umfieng hast du mich lieb, guter Vater
im Himmel? fragt' ich dann leise, und fühlte seine Antwort so
sicher und selig am Herzen " (Hyperion S. 9). Am schönsten aber
ist dieser selige Zustand, diese himmlische Rulie der Kindheit ge-
schildert in dem Fragmente welches jetzt (II. S. 267) zum ersten
Mal vollständig mitgetheilt ist und woraus wir nur die Worte
hervorheben; „Da ich ein Knabe war Rettet' ein Gott mich oft
Vom Geschrei und der Ruthe der Menschen ; Da spielt* ich sicher
und gut Mit den Blumen des Hains, Und die Lüftchen des Him-
mels Spielten mit mir. — — 0 all ihr treuen. Freundlichen
Götter! Dass ihr wüsstet Wie euch meine Seele geliebt! Zwar
damals rief ich noch nicht Euch mit Namen, auch ihr Nanntet
mich nie wie die Menschen sich nennen. Als kennten sie sich;
Doch kannt' ich euch besser Als ich je die Menschen gekannt.
Ich verstand die Stille des Aethers, Der Menschen Worte verstand
ich nie* Mich erzog der Wohllaut Des säuselnden Hains, Und
476 Fr. Hölderlin.
iiebeu lernt* ich Uuter den Blumen, fm Arm der Götter wuchs
ich gross.*' Diese goldenen Kinderträume verbargen ihm des
Lebens Armut (i, 15); später, als der Jungling die Scbranken-
losigkeit des mütterlichen Hauses mit dem disciplinarischen Zwange
einer klosterartigen Unterrichtsanstalt vertauscht hatte, übten die-
selbe Wirkung idealistische Studien; so war namentlich Schiller's
Don Carlos „lange Zeit die Zauberwolke in die der gute Gott
meiner Jugend mich hüllte, dass ich nicht zu früh das Kleinliche
und Barbarische der Welt sab die mich umgab" (II, 150). Da-
mals aber war der Frieden seiner Seele bereits gestört, das fromme
Leben, vergänglich wie die Rosen (I, 38), bereits geschwunden;
schmerzliche Kämpfe zwischen seiner Neigung und seiner ver-
meintlichen Pflicht hatten es erschüttert; namentlich dass er sich
Gewalt anthat und Philosophie und Theologie studierte^ während
ihn doch alle Fasern seines Wesens vielmehr zur Poesie wiesen,
wurde für ihn eine Quelle tiefen Unfriedens und Missmutes (II, 60).
Die Gedichte aus dieser Zeit verrathen an allen Enden den Idea-
listen und Pathetiker, insbesondere den Schüler von Klopstock
und Schiller, deren Worte sogar manchmal heraustönen. Wenn
z. B. das Gedicht „Männerjubel" (H, 164) beginnt:
,, Erhabne Tochter Qottes, Gerechtigkeit,
Die du den Dreimalheirgen von Anbeginn
Umstrahltest und umstrahlen wirst am
Tage der ernsten Gerichtsposaune", —
so glauben wir eine Ode Klopstock 's vor uns zu haben. Oder
wenn es I, 8 heisst: „Ach wie der Geist, vom wunderbaren Siege
Berauscht, der armen Sterblichkeit vergass," und II, 173 der
Hymnus an die Liebe sich mit der Strophe eröffnet: „Froh der
süssen Augenweide Wallen wir auf Gottes Flur; Unser Priester-
thum ist Freude, Unser Tempel die Natur; Heute soll kein Auge
trübe, Sorge nicht hienieden sein. Jedes Wesen soll der Liebe
Frei und froh wie wir sich freun " — so erkennen wir alsbald
bekannte Schiller*sche Lieder als Vorbilder. Von Matthisson
endlich hat Hölderlin den sentimentalen elegischen Ton, die ge-
reimten Strophen, und die Unsitte Vordersätze durch die rheto-
rische Figur der Wiederholung zu mehreren Strophen auszu-
spinnen und <lann den Nachsatz in einer einzigen Zeile nach-
hinken zu lassen; vergl. I, 6. 13. 14 f., wo die beiden ersten
Stanzen den mit vier Da eingeführten Vordersatz zu dem schlan-
ken Nachsatze: „Da umfiengen goldne Tage mich" enthalten.
Fr. HölderHn. 477
und ganz ebenso die zwei nächsten Stanzen vier Wenn für den
Nachsatz: „Da erschienst du, Seele der Natur."
Dem Stoffe nach behandeln diese Jugendgedichte überle-
gend ganz abstracte Themata, wie die Stille, Ruhe, Menschheit,
Freiheit, Freundschaft, Liebe, Schönheit, Jugend, Kühnheit, und
zwar in der damals namentlich durch Klopstock in die Mode ge-
kommenen Form von Oden und Hymnen, wobei es natürlich zu
einer eigentlichen Entfaltung und Veranschaulichung des Gegen-
standes nicht kommen kann, und der Eifer und die Erhitzung
des Dichters die Hauptsache bleibt. Mit der idealischen Betrach-
tungsweise welche solchen Dichtungen als Voraussetzung zu Grunde
liegt scheiterte aber nun der junge Dichter sobald er, die en-
gen Klostermauern die ihn bisher umschlossen hatten verlassend,
in die Welt selbst hinaustrat. Zu den idealen Anforderungen
welche er an die Welt im Ganzen machte kamen auch noch
ziemlich bedeutende persönliche. Er war in Folge seiner kör-
perlichen Schönheit, seiner hohen musikalischen Begabung, sei-
nes dichterischen Talentes und seiner wissenschaftlichen Fähig-
keiten schon Gegenstand vielfacher Anerkennung und Huldigung
geworden; Schilter, der allverehrte Schiller, hatte ihn durch
Aufnahme eines Stücks vom Hyperion in die Thalia, und dann
dadurch dass er ihm eine Hauslehrerstelle in seiner Nähe ver-
schaffte, ausgezeichnet; und es hätte daher Hölderlin glänzend
ergehen müssen wenn er sich hätte vollständig befriedigt fühlen
können. Andererseits aber hatte die Feinheit seiner geistigen Or-
ganisation die unselige Wirkung dass er von Jugend auf alles
was ihn Störendes traf empfindlicher aufnahm als Andere (H,
123). Noch im Jahre 1799 klagt er dass ihn harte Behauptun-
gen die er zu lesen bekommen halbkrank gemacht haben, und
fügt hinzu: „Es ist freilich nicht gut dass ich so zerstörbar
bin, und ein fester getreuer Sinn ist auch mein täglichster
Wunsch, und nichts erhält mich mehr in Demut als dass ich bei
allen meinen ehrlichen Bemühungen und Einsicht des Besseren
und Glücklicheren doch noch immer der alte Empfindliche bin.
Ich habe die Hälfte meiner Jugend in Leiden und Irren verloren
die nur aus dieser Quelle entsprangen" (II, 57 f.). Jene An-
sprüche und diese Empfindlichkeit waren wohl der eigentliche
Grund warum er seine im Ganzen angenehme Stellung im Hause
der Frau v. Kalb aufgab, im Januar 1795 nach Jena zog um
hier sich ausschliesslich dem Studium der Philosophie und der
478 Fr. Hdlderlin.
poetischen Praiis zu widmeo, und sicher waren sie der Grund
warum er, als ihn das Unzureichende seiner YermögensTerhäU-
nisse nöthigte Jena zu verlassen und in die Heimat zurückzu-
kehren, sich unsäglich ungläcUich fühlte. In der einförmigen
Stille des mutterlichen Hauses, unter so vielen Zeugen seines
einstigen Rinderglückes, niedei^edräckt von dem beschämenden
Gefühle getauschter Hoffnungen, gepeinigt von dem Andringen
materieller Rücksiditen und Sorgen, verfiel Hölderlin in eine
Stinunung die er nicht trüb und düster genug schildern kann.
„Todt und dürftig wie ein Stoppelfeld ist," klagt er (I, 15),
„diese Brust die einst ein Himmel fällte; — Ach, es singt der
Frühling meinen Sorgen Nodi wie sonst ein freundlich tröstend
lied. Aber hin ist meines Lebens Morgen, Meines Herzens Früh-
ling ist verblüht" Nacht war es in seiner Seele (Hyp. S. 38),
jeder frohe Gott war aus ihr geschwunden (I, 17), und dnem
zerrissenen Saitenspiele glich sie: „ein wenig tönt' ich noch,
aber es waren Todesiöne" (Hyp. S. 47). Er hatte Stunden wo
es ihm war als ob die Oede in seiner eigenen Brust die der
Welt wäre, wo er den Menschen zurief: „Noth und Angst und
Nacht sind eure Herr«i, den Hunger nennt ihr Liebe, und
wo ihr Nichts mehr seht da wohnen eure Götter" (Hyp. S. 42).
Heimatlos sehnte sich seine Seele über das Leben hinweg (I, 39)
in der Todten stummes Reich (1, 17). Da im tiefsten Dunkel
der Nacht erschien ihm Diothna's leuchtendes Gestirn: durc^
Sinclair 's Vermittlung wurde er zu Anfang des Jahrs 1796 Hans-
lehrer des Bankier Gontard in Frankfurt, dessen Gemahlin Höl-
derlin unter dem Namen Diotima besang. Der beseligende Strahl
ihrer Schönheit und ihres Geistes brachte sein Leben und Didi*
ten neu in Fluss. „Ich bin in einer neuen Welt. Ich konnte
wohl sonst glauben ich wisse was schön und gut sei, aber seit-
dem ich's sehe möcht' ich lachen über all mein Wissen. Lieber
Freund ! es gibt ein Wesen auf der Welt worin mein Geist Jahr-
tausende verweilen kann und wird, und dann noch seilen wie
schülerhaft all unser Denken und Verstehen vor der Natur sich
gegenüber findet. Lieblichkeit und Hoheit und Ruh' und Leben
und Geist und Gemüt und Gestalt ist ein seiiges Eins in diesem
Wesen. — Du weisst wie ich war, wie mir Gewöhnliches entlei-
det war, weisst wie ich (Arne Glauben lebte, wie ich so karg
geworden war mit meinem Uerzen, und darum so elend; könnt'
ich werden wie ich jetzt bin, froh wie ein Adler, wenn mir
Fr. Hölderlin. 479
nicht dieds, diess Eine erschienen wäre, und mir das Leben,
das mir nichts mehr werth war, verjüngt, gestärkt, erheitert,
verherrlicht hätte mit seinem Fruhlingslichte? — Dass ich jetzt
lieber dichte als je, kannst Du Dir denken." So schreibt er an
Neuffer am 10« Junius 1796 (II, 116), und ein halbes Jahr dar*
auf (II, 117): „Ich habe eine Welt von Freude umschiiTt seit wir
uns nicht mehr schrieben. — Und noch ist es so, noch bin ich
immer glücklich wie im ersten Moment. £s ist eine ewige fröh-
liche heilige Freundschaft mit einem Wesen das sich recht in
diess arme geist- und ordnungslose Jahrhundert verirrt hat
Mein Schönheitssinn ist nun vor Störung sicher. Er orientiert
sich ewig an diesem Madonnenkopfe. Mein Verstand geht in die
Schule bei ihr, und mein uneinig Gemüt besänftigt, erheitert
sich täglich an ihrem genügsamen Frieden. Ich sage Dir, lieber
Neuffer! ich bin auf dem Wege ein recht guter Knabe zu werden.
Und was mich sonst betrifft, so bin ich auch ein wenig mit mir
Eufrieden. Ich dichte wenig und philosophiere beinahe gar nicht
mehr. Aber was ich dichte hat mehr Leben und Form, meine
Phantasie ist williger die Gestalten der Welt in sich aufzuneh-
men, mein Herz ist voll von Lust, und wenn das heilige Schick**
sal mir mein glücklich Leben erhält, so hoff* ich künftig mehr
zu thun als bislier.*' Und ganz ebenso spricht er sich in seinen
Gedichten aus, besonders in demjenigen welches in jedem Be«
tracht die erste Stelle unter denselben einnimmt, dem wunder-
schönen Gedichte „Diotima** (1, 16 ff.). Sie war für ihn die
Htmmelsbotin welche seinen kranken Sinn heilte, sein düster in
sich gekehrtes Auge wieder öffnete für die Reize d^ Natur und
ihr stilles Weben (I, 43), sein tobendes Herz besänftigte mit Ruhe
der Himmlischen (1,-64^; sie hat ihn verjüngt, sonst wäre er in
der Hälfte seiner Tage zum alten Mann geworden (II, 25); die
Liebe war es welche ihü ans Leben fesselte, in die GeseUscfaaff
fttkrte (I, 101); am Frieden der Schönheit hat er das tobende
Herz und den zweifelnden Geist besänftigt (Hyp. 42). Aus die-
ser Zeit sind Hdlderlui's beste, Arbeiten: das •erwähnte Gedicht
Diotiaia, dessen erste Gestalt (II, 218 f.) kein Ende findet wie
ein Verliebter, der erste Theil des Hyperion, die Gedichte 4er
Wanderer« der Aether (I, 99 f. 102 f.), deren idyllisch glückli-
cher» Billder Ton Goetben wehlgeflel (II, 290), viele der im al-
käischen Masse verfassten, welche sich fast alle durcli schöne
Masshaltigkeit und sanfte Stille auszeichnen. Nur aber trug die-
480 Fr. Hölderlin.
ses Glück von Anfang an den Reim des Todes und Verderbens
in sich ; denn die er anbetete war die Frau eines Andern. Diess
fährte schmerzliche Verwicklungen und Kämpfe herbei. „Es
fordert die SeeJe Tag für Tag der Gebrauch uns ab," klagt er
I, 52, und an Neuffer schreibt er am 16. Febr. 1797 (II, 117):
„Ich denke mir wohl, lieber Bruder, dass Du begierig sein
wirst umständlicher von meinem Glücke mich sprechen zu hören.
Aber ich darf nicht! Ich habe schon oft genug geweint und ge-
zürnt über unsere Welt, wo das Beste nicht einmal in einem
Papiere das man einem Freunde schickt sich nennen darf/'
Von Diotima sagt er (1^53): „Du schweigst und duldest, denn
sie verstehn dich nicht," und schon im Julius 1797 hat er an
Neufifer zu schreiben (II, 119): „Ich habe fast ganz verlernt so
ganz vertrauend einem Freunde mich zu öffnen. Ich schweige
und schweige^ und so häuft sich eine Last auf mir die mich am
Ende fast erdrücken, die wenigstens den Sinn unwiderstehlich
mir verfinstern muss. Und das ist eben mein Unheil dass mein
Auge nimmer klar ist wie sonst. Ich will es Dir gestehen dass
ich glaube ich sei besonnener gewesen als jetzt, habe richtiger
als jetzt geurteilt von Andern und mir in meinem zweiundzwan-
zigsten Jahre. 0 gib mir meine Jugend wieder! Ich bin zer-
rissen von Liebe und Hass." Und wirklich sah er, als er sechs
Wochen darauf, am 22. August 1797, Goethe in Frankfurt be-
suchte, „etwas gedrückt und kränklich aus" (II, 292 f.). Ein
Jahr darauf kam es endlich zum Bruche; im September 1798
musste er Gontard's Haus verlassen. '^) Für Hölderlin war dieser
Verlust unersetzlich, diese Wunde unheilbar. „Ich weiss, ich
weiss, der Liebe Leid, diess heilet so bald mir nicht, dies? singt
kein Wiegensang, den tröstend Sterbliche singen, mir aus dem
Busen '^ (I»50). Zwar blieb er auch ferner noch in brieflicher
Verbindung mit Diotima (II, 297), und er wusSte dass sie seiner
mit Thränen gedenke (I, 90); aber mit der Trennung von ihr
war sein Glück für immer zerstört, sein Leben in seinem in-
nersten Marke verletzt. „Hin ist Jugend und Lieb' und Glück!"
klagt er (1,54), und dass nach kurzem Sonnenschein ein kalter
Abend über ihn hereingebrochen sei (1,37.43). „Von dir, o
Schutzgeist, ferne spielen zerreissend bald alle Geister des To-
des auf den Saiten des Herzens mir" (I, 63). Wie ein ange-
*) Vgl. Varnhagen'8 Tagebücher IV. S. 34.
Fr. Hölderlin. 481
schossenes Wild sucht er Ruhe und Heilung im stillen Walde
(T, 91); aber wie fremd erscheint ihm die Erde, die früher ihm
so freundlich gelächelt; * und wehmutig ruft er aus: „0 lebe
wohl, es scheidet und kehrt zurück Die Seele jeden Tag^ und
es weint um dich Das Auge, dass es helle wieder Dort wo du
säumest hinüberblicke" (I, 64, vergl. 52 f. 63). „0 sänftiget mir"
— betet er I, 90 zu seinen Göttern, zum Vater Aether und zur
Mutter Erde — „sänftiget mir, ihr Guten, mein Leiden, dass die
Seele mir nicht früh, ach zu frühe verstummt." „Das Haus ist
öde mir nun^ und sie haben' mein Auge Mir genommen, auch
mich hab' ich verloren mit ihr" (1,92). „Nichtig und leer,
wie Gefängnisswände, der Himmel, Eine beugende Last, 'über
dem Haupte mir hängt" (l, 93). Vom Himmel der Liebe herab*
gestürzt, flüchtete er sich in Freundesarme, nach Homburg zu
Sinclair, der Allem aufbot ihn zu zerstreuen, zu trösten und zu
heilen, aber mit wenig Erfolg. Auch seine Gesundheit litt schwer
unter den inneren Qualen; so schreibt er im Januar 1799 (H,
58): „Ich bin zwar gesund und jetzt gesunder als sonst, und
leide am Kopf und in den Eingeweiden nimmer wie gewöhn-
lich, aber ich finde doch dass meine Nerven zu reizbar sind."
Dazu kam dass er auch in andern Beziehungen hitter enttäuscht
wurde, und vergebens sich eine geachtete und selbständige Stel-
lung in der Welt zu gewinnen bemühte. Er beabsichtigte zu-
erst, noch von Homburg aus, eine Zdtschrift in der Art der
SchiUer'schen Thalia und Hören zu begründen; aber da der Be-
gründer ein ziemlich unbekannter junger Mann ohne ausreichende
Verbindungen war, und das Programm auch in jener Zeit un-
praktisch und unklar erscheinen musste, so scheiterte der Plan
natürlich ehe es noch zu einem Anfang von Ausführung gekom-
men war. Als inzwischen sein kleiner Vorrath an Erspartem
ausgegangen war, so musste er von Neuem zu seiner tiefsten Be-
schämung hülflos in die Heimat zurückkehren. Nicht froh wie
ein Schiffer „von fernen Inseln, wo er geerntet hat," kehrte er
heim — denn „was hab' ich denn Leid geerntet?" (ü, 298. I,
50) — und auch äusserlich schien er nur der Schatten des ein-
stigen Hölderlin zu sein (II, 306). In der Heimat stärkte sich
seine Gesundheit (II, 74); aber in Folge seiner Seelenleiden war
sein Nervensystem völlig zerrüttet (II, 80), sein Benehmen war
krankhaft reizbar, und die Briefe aus dieser Zeit (II, 76 ff.) ha-
ben etwas Gedrücktes, Süssliches und Weinerliches. Ein Aufent-
Teuffel, Studien. 31
482 Fr. HölderUn.
halt in der Schweiz — er bekleidete bei Constanz eine Hausleb-
rerstelle — war von kurzer Dauer und wenig nachhaltiger Wir-
kung. Wiederum kehrte er ins mutterliche Haus zurück und
suchte von da aus im Sommer 1801 durch Schiller's Vermittlung
die Erlaubniss zu erlangen an der Jenaer Universität Vorlesungen
zu halten; allein die Nachweisungen die er in dieser Beziehung
gab, und die Absichten die er aussprach, mussten Jedermann un-
genügend erscheinen (s. II, 152), und so scheiterte auch dieser
Versuch in eine seinen Ansprüchen einigermassen entsprechende
Stellung zu kommen und ward für ihn nur eine Ursache noch
tieferer Verstimmung. Mangel äusserer Subsistenzmittel nöthigte
ihn die erste Stelle die sich ihm bot anzunehmen, und so zog
der 31jährige körperlich und geistig schwer erschütterte und
heruntergekommene Mann mitten im tiefsten Winter von Stutt-
gart nach Bordeaux, wo er die Kinder des Hamburger Consuls
zu unterrichten üI>ernommen hatte. Mit seinem jetzigen Wahl-
spruch „Nichts furchten und sich viel gefallen lassen" (If , 85)
fühlte er sich bald in seiner Lage glücklich; aber schon im fol-
genden Sommer wurde sein nervüser Zustand durch die Glut der
südlichen Sonne aufs Höchste gesteigert. „Das Feuer des Him-
mels hat mich beständig ergriffen, und wie man Helden nach-
spricht, kann ich wohl sagen dass mich Apollo geschlagen/'
schreibt er selbst in einem Briefe aus dem Jahr 1802 (II, 87),
in welchem die alte geistreiche Anschauungs- und Darstellungs-
weise ringt mit dem einbrechenden Dunkel. Auf die Nachricht
von der lebensgeßbrlichen Erkrankung seiner Diotima war er
nämlich plötzlich von Bordeaux aufgebrochen, hatte Frankreich
in den beissesten Sommertagen von einer Grenze zur andern zu
Fuss diu'chzogen, und kam nun im erklärtesten Irrsinn und in
einem Zustand äusserster Verwahrlosung zu Hause an. Zwar
besserte es sich allmählich mit ihm etwas, so dass man ihn im
Sommer 1804 nach Homburg reisen lassen konnte, wohin ihn
der edle Landgraf auf des treuen Sinclair Verwendung berufen
hatte ; aber hier verschlimmerte sich sein Zustand in dem Grade
dass er endlich im Herbste 1806 nach Tübingen gebracht wurde,
in dessen Hauern er, nach vergeblichen Versuchen von der Heil-
kunst nicht weiter behelligt; sein körperliches Leben bis in den
Sommer des Jahres 1843 fortsetzte, wo er 73. Jahre alt an der
Brustwassersucht starb. Wie er sich in dieser Zeit seines vollen-
deten Irrsinns gebarte, darüber haben W. Waiirfinger und Chr.
Fr. Hölderlin. 483
Schwab (II, 314 ff.) aus eigener längerer Beobachtung sehr inter-
essante Mittheilungen gemacht. Die Frage, wodurch diese Wen-
dung seines Schicksals herbeigeführt wurde, ist zum grössten
Theiie schon durch die bisherige Entwicklung beantwortet und
auf eine ToUkommen befriedigende Weise durch Hrn. Schwab im
Leben Hölderlin's (11, S. 319 — 323 dieser Ausgabe); wir beschrän-
ken uns daher hier auf eine kurze Zusammenfassung der hieher
gehörigen Momente. Die Grundursache von Hölderlm's Unglück
ist dass sein geistiges Wesen zu fein besaitet, zu zerstörbar gebaut
war für die Verhältnisse in die er eintrat, für die Erlebnisse
welche über ihn kamen. Dass er neben Goethes und Schiller's
Glanz und Grösse zu keiner durchgreifenden Anerkennung, ja
nicht einmal zu einer unabhängigen und sorgenfreien Lage ge-
langen konnte, dass er bei seinen hochgespannten Erwartungen
und Ansprüchen an die Welt, die Menschen und sich selbst überall
nur Enttäuschung und Hemmungen zu erfahren hatte, dass er
am höchsten Ziele seiner Gedanken und Wünsche sich mit der
sittlichen Weltordnung in Widerstreit gebracht sah, das hat seine
Gesundheit untergraben, sein Bewusstsein gemordet, hat ihn in
den Abgrund unheilbaren Irrsinns gestürzt, wo Leiden und Freu-
den der Vergangenheit für ihn verklungen waren und die dröh-
nenden Schritte einer ereignissreichen Zeit unvernommen und
unverstanden über seinem Haupte hinzogen. Was ihn traf war
zwar keineswegs von so gewaltiger Schwere dass ein jedes Gemüt
von dieser Last erdrückt werden musste; mit einem kleinen
Theiie Leichtsinn oder Humor hätte er vielmehr sein geistiges
Gleichgewicht und seine Heiterkeit unversehrt erhalten können;
ab^ wie allen Pathetikern waren ihm jene Güter versagt: wie
es ihm selbst immer heiliger Ernst war, so nahm er auch von
den Menschen und vom Schicksal alles mit tiefstem Ernste auf;
er verstand keinen Scherz, wie er selbst auch keinen übte.
Ein Anderer, mit Hölderlin's Empfindlichkeit, aber ohne seine
sittliche Strenge, hätte wohl auch seinen Qualen selbst ein Ziel
gesetzt, und Andeutungen dieser Art finden sich wirklich bei
Hölderlin, wenn es z. B. im Hyperion S. 62 heisst: „Ich fürchte
für dich du hältst das Schicksal dieser Zeiten nicht aus, du wirst
noch mancherlei versuchen, wirst — 0 Gott! und deine letzte
Zufluchtsstätte wird ein Grab sein \" Aber ein solches Ende schien
ihm selber feig und schmachvoll (1,63), und die Natur, die er
immer so treu und warm geliebt, hat es zu diesem Aeussersten
31*
484 Pr. Hölderlin.
nicht kommen lassen, indem sie selbst mit weicher Hand ihm die
Binde des Wahnsinns um die Augen legte, und die vielen Jahre
hindurch welche sie ihm noch vergönnte zu sein auch nicht
einen Augenblick mehr sie abnahm, dass er schaudernd und nun
erst bis ins tiefste Mark hinein unglücklich in die unheimliche
Tiefe hinabgeblickt hätte in der er wandelte.
Betrachten wir nun den Gedankenkreis und die eigen-
thümliche Richtung Hölderlin's näher, so haben wir schon ge-
sehen dass der Mittelpunkt und die Spitze seiner Weltanschauung
die Natur ist; sie ist seine erste und seine letzte Liebe, die
Gottheit in deren Anbetung er sich selig fühlt. „0 selige Natur!
Ich weiss nicht wie mir geschieht wenn ich mein Auge erhebe
vor deiner Schöne, aber alle Lust des Himmels ist in den Thränen
die ich weine vor dir, der Geliebte vor der Geliebten" (Hyp. 6).
Die Natur ist ihm zugleich die absolute, die ewige Schönheit
(Hyp. 53); alles was Natur ist ist schön, und schön ist nur was
Natur ist. Die igchöne Natur oder die Naturschönbeit lässt sich
daher als Grundgedanke von Hölderlin bezeichnen. „0 ihr" —
ruft er aus — „die ihr das Höchste und Beste sucht in der Tiefe
des Wissens, im Getümmel des Handelns, im Dunkel der Ver-
gangenheit, im Labyrinthe der Zukunft, in den Gräbern oder über
den Sternen — wisst ihr seinen Namen? den Namen dess das Eins
ist und Alles? Sein Name ist Schönheit" (Hyp. 48}. Das Schönste
ist ihm auch das Helligste (Hyp. 51), und Liebe der Schönheit
ist seine Religion (Hyp. 74). Schön ist was mit der Natur eins
ist (Hyp. 146 f.); wer schön ist ist daher auch fromm, ja gött-
lich, ein Gott, und nur wer schön ist ist ein Mensch. „Schöne
Wesen oder — was dasselbe ist — Menschen," sagt er Hyp.
S. 12, und S. 73 folgert er: „Der Mensch ist ein Gott sobald
er Mensch ist^ und ist er ein Gott^ so ist er schön." Eins mit
der Natur, fromm, schön, Gott, wahrer Mensch sind daher bei
Hölderlin Wechselbegriffe, nur verschiedene Benennungen desselben
Ideales. Diess zu erreichen ist Ziel und Aufgabe des einzelnen
Menschen. „ Eins zu sein mit Allem , mehr zu sein als das Grösste,
und doch ganz zu sein im Kleinsten^ das ist Leben der Gottheit,
das ist der Himmel des Menschen" (Hyp. 6). Die Natur aber,
in der doch auch Kampf ist und Sturm, fasst Hölderlin einzig
von der Seite dass sie mühelos wurkt und still und geräuschlos
bei aller ihrer Grösse, und darin eben findet er ihre Schönheit.
„Sei wie dieser!" ruft daher Adamas seinem Hyperion zu (S, 13)
Fr. Hölderlin. 485
als er ,,lieraurkam in seiner ewigen Jugend, der alte Sonnengott,
zufrieden und mühelos wie immer." Es ist ein überwiegend
weiblicher Charakter den er in die Natur hineinlegt, wie es sich
z. B. ausspricht in dem lieblichen Bilde für das drängende Leben
des Frühlings: ,»wie wenn die Mutter schmeichelnd fragt wo um
sie her ihr Liebstes sei, und alle Kinder in den Schooss ihr
stürzen, so flog und sprang und strebte jedes Leben in die
göttliche Luft hinaus" (Hyp. S. 45 f.). Dieser weiblichen Stimmung
der Ergebung, des friedlichen Seins entspricht auch die immer
vorzugsweise an der Natur hervorgehobene Eigenschaft der Stille.
Süll zu werden wie die Natur (I, 59. 103. Hyp. 68} und friedlich
und froh (1, 101), und froh ergeben in alles was da kommt, in das
Walten der Nothwendigkeit (1,55), und das schöne Gleichgewicht
nie zu verlieren (Hyp. 82), das ist unserem Dichter das höchste
Ziel des Menschen, das was ihn erst zum wahrhaften Menschen
und damit zum Gotte macht. Das in sich Gesammelte, Stille ist
ihm das Schöne und Göttliche. „0 ich bin ein Laie in der
Freude — ich will sprechen! Wohnt doch die Stille im Lande
der Seligen , und über den Sternen vergisst das Herz seine Noth
und seine Sprache" (Hyp. 46). Und weil die Stille eben der
Charakter der Natur ist, so wirkt Hingabe an die Natur Frieden
und Ruhe im tobenden Busen des Menschen: „du stiller Aether!
immer bewahrst du schön die Seele mir im Schmerz" (1, 44.
31) ; und auch noch an dem irren Dichter hat sie diese Heilkraft
oft bewährt. Was aber von dem einzelnen Menschen gilt, das-
selbe gilt auch von den Völkern, von der Menschheit, dieselbe
Aufgabe ist auch ihr gestellt. Gelöst ist sie in der Gegenwart
und unter unserem Volke nicht; bitter wird im Hyp. S. 142 ge-
klagt dass es unter den Deutschen so wenige Menschen gebe:
„Ich kann kein Volk mir denken das zerrissener wäre wie die
Deutschen. Handwerker siehst du, — aber keine Menschen, Denker,
— aber keine Menschen, Priester, — aber keine Menschen, Herren
und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, — aber keine Menschen;
ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle
Glieder zerstückelt untereinanderliegen, indessen das vergossene
Lebensblut im Sande zerrinnt?" In ihrer Vereinsamung können
die wenigen wahren Menschen hier nicht zu voller Entwicklung
kommen: „ Du wirst durchaus finden dass jetzt die menschlicheren
Organisationen, Gemüter welche die] Natur zur Humanität am
bestimmtesten gebildet zu haben scheint^ dass diese jetzt überall
486 Fr. Hölderlin.
die unglücklicheren sind, eben weil sie seltener sind als sonst
in andern Zeiten und Gegenden. Die Barbaren um uns her zer-
reissen unsere besten Kräfte ehe sie zur Bildung kommen können"
(U, 64 f.). Aber die Hoffnung dass jene Aufgabe doch noch er-
reicht werden werde ist darum nicht aufzugeben, vielmehr liegt
eine Gewähr für ihre Erreichbarkeit darin dass sie schon von
einem ganzen Volke erreicht worden ist, von dem hellenischen
(oder vielmehr attischen). Hellas ist unserem Dichter die Heimat
der schönen Natur und der schönen Menschheit, der Menschen
welche in ihrem Sein, Leben, Denken und EmpGnden volle, ganze,
reine Menschen sind, wie er besonders in dem schönen Gedichte
„Griechenland*' S. 6 f. und in dem lyrisch -epischen „Archipe-
lagus*' S. 103 ff. ausführt. „Es waren goldne Tage (heisst es
in der ersten Bearbeitung des Hyperion, U. S. 237) wi> man die
Waffen tauschte und sich liebte bis zum Tode, wo man unsterb-
liche Kinder zeugte in der Begeisterung der Liebe und Schönheit,
Thaten fürs Vaterland und himmlische Gesänge und ewige Worte
der Weisheit, ach! wo der ägyptische Priester dem Selon noch
vorwarf: ihr Griechen seid allezeit Jünglinge!" Beispiele solcher
idealischer oder hellenischer Menschen sind Hyperion und Diotima,
die seiner Dichtung wie die der Wirklichkeit. Letztere nennt er
(I, 89. 94) geradezu eine Athenerin, „Athenäa"' war auch ur-
sprünglich das Gedicht Diotima überschrieben, und als ihn einst
Neuffer in Frankfurt besuchte, sandte er der sorglich Hin- und
Herwandelnden das höchste Lob nach das sein Mund erthellen
konnte, indem er jenem zuflüsterte; „nicht wahr, eine Griechin?"
(U, 290). In ihr hat er „die Vollendung, die wir über die
Sterne hinauf entfernen, die wir hinausschieben bis ans Ende
der Zeit, die hab' ich gegenwärtig gefühlt. Es war da, das
Höchste , in diesem Kreise der Menschennatur und der Dinge war
es da!" (Hyp. 48). Diesem Hellas ist Hölderlin's Denken und
Dichten geweiht; sich hineinzuleben in hellenisches Sein, um es
Wiederzugebären in unsterblichem Liede, die Grazien Griechen-
lands herüberzuholen in das ihrer so bedürftige . Deutschland (I,
116), und selbst ein Leuchtthurm zu sein in der Oede der
Gegenwart, das war sein höchstes Streben, so schmerzlich er
auch oft die Schwierigkeit es zu erreichen fühlte. „ 0 Griechen-
land" — seufzt er in einem Briefe, H, 56 — „o Griechenland
mit deiner Genialität und deiner Frömmigkeit^ wo bist du hin-
gekommen? Auch ich, mit allem guten Willen , tappe mit meinem
Fr. Hölderlin. 487
4
Thun und Denken diesen einzigen Menschen in der Welt nur
nach, und bin in dem was ich treibe und sage oft nur um so
ungeschickter und ungereimter, weil ich, wie die Gänse, mit
platten Füssen im modernen Wasser stehe und unmächtig zum
griechischen Himmel emporflugle". Diesen grossen Todten gehört
sein Herz an (I, 7); um mit ihnen zusammenzusein wünscht er
sich den Tod (I, 7. 33), bei ihnen schwört er seinen höchsten
Eid (ir, 279 f.). Aber so tief es ihn schmerzt dass die Welt die
er liebt untergegangen ist, dass die (innerlich) Todten oben über
die Erde gehen, während die Lebendigen, die Göttermenschen,
drunten sind (Hyp. S. 119. I, 110), so verzweifelt er doch nicht
an der Möglichkeit sie wiederzuerwecken , ja sogar schöner zurück-
zuführen. „Solche grosse Töne müssen wiederkehren in der Sym-
phonie des Weltlaufs" (Hyp. 58); es wird kommen der Tag wo,
„ erwacht vom ängstigen Traum die Seele den Menschen Aufgeht,
jugendlich froh, und der Liebe segnender Odem Wieder, wie
vormals oft, bei Hellas' blühenden Kindern Wehet in neuer Zeit"
(I, 110 f. Hyp. S. 29). Wenn die Auflösung und Zersplitterung
ihren höchsten Grad erreicht haben wird, dann wird die Mensch-
heit wieder einlenken auf die Pfade der Natur, das Pflanzenglück
womit die Geschichte der Menschheit beginnt wird auch ihr Ziel
sein, nur dass dann freie Schöpfung des Geistes auf dem Boden
des Geistes, Ideal ist was damals unmittelbare vorgefundene Natur
war (Hyp. 58 f.) ; dann wird auch ein neuer Staat sich erheben,
gebaut auf die Grundsätze brüderlicher Gleichheit, und ein Cultus
dessen einziger Gegenstand die Natur ist (I, 180 f.). Das deutsche
Volk vor allen ist berufen diese Träume von einer schöneren
Zukunft zu verwirklichen (I, 61), und schon ist das Morgenroth
dieser neuen Zeit im Anbrechen: in Deutschlands Junglingen und
Frauen, Dichtern und Weisen sieht Hölderlin Keime und Boten
derselben (I, 34), und meint dass das Vaterland den grossen Ge-
danken nur noch nicht ausgedacht habe, aber fortwährend mit den
Vorbereitungen dazu beschäftigt sei (I, 35). In dieser freundlichen
Annahme spricht es sich schon aus wie warm sein Herz hängt
an dem Vaterlande, wie gross er denkt von den in ihm schlum-
mernden Kräften und seiner Bestimmung. Und in jler That vergisst
er seines Vaterlandes auch in der trunkensten Begeisterung für
Hellas und Hellenisches nicht; auch neben dem llissos bleibt ihm
sein Neckar und sein Main immer lieb und unvergesslich (1, 45 f. 48) ;
seine specielle Heimat besonders, unser Schwabenland, blieb seinem
488 Fr. HölderUn.
Herzen auch in allen Fernen nahe und ergriff ihn mit der zau-
berischen Gewalt einer Jugendliebe so oft er dahin zurückkehrte
(1, 98. 100. 114). Als Dichter ist er «»gerne wo Lebendes Um
ihn athmet und wallt'' (I, 22)^ gern in der Mitte seines Volks;
er preist den Tod fürs Vaterland als den edelsten, und ruft:
^,0 nehmt mich, nehmt mich mit in die Reihen auf. Damit ich
einst nicht sterbe gemeinen Tods! Umsonst zu sterben lieb' ich
nicht. Doch lieb' ich zu fallen am Opferhugel Fürs Vaterland,
zu bluten des Herzens Blut Fürs Vaterland" (l, 32 f.). Ein be-
geistertes Loblied singt er I, 33 — 35 den Fluren des Vaterlandes,
seiner Grösse und herrlichen Aufgabe. Zwar beklagt er es dass
das deutsche Volk wie ein Rind „thatenarm und gedankenvoll''
sei (I, 42 f. 60), und mit einem wehmütigen Leider! bekennt er
dass „die Erde, die freie, statt Vaterlands ihm dienen muss"
(I, 48), weil nämlich sein angebornes Vaterland nicht frei ist;
aber nichts wünscht er sehnlicher als dass seine Kleingläubigkeit
beschämt würde, dass das Vaterland in seiner ganzen Grösse sich
aufrichtete und vor ihn hinträte, „Dass ich tiefer mich beuge, Dass
die leiseste Saite selbst Mir verstumme vor dir, Dass ich beschämt
und still. Eine Blume der Nacht, himmlischer Tag vor dir, Enden
möge mit Freuden" (1, 61). Durch alles dieses werden erst die Worte
bitteren Grolls welche er in der. berühmten Stelle am Schlüsse
des Hyperion (S. 142 — 145) über unser Volk ausgeschüttet hat
in ihr rechtes Licht gestellt. Er nennt uns da z. B. ,> Barbaren
von Altersher, durch Fleiss und Wissenschaft und selbst durch
Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Ge-
fühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien,
in jedem Grad der Uebertreibung und der Aermlichkeit beleidigend
für jede giitgeartete Seele, dumpf und harmonienlos wie die
Scherben eines weggeworfenen Gefässes". So feindselig das auch
klingt, so spricht daraus doch nur der Schmerz unerwiederter
Liebe; es ist ein Zürnen und ein Schelten wobei dem Scheltenden
die hellen Thränen im Auge standen. „Bin ich der Deine schon
— Oft zürnt' ich weinend dass du immer Blöde die eigene Seele
leugnest," sagt er selbst (I, 33) zum Vaterlande. Auch wollen
wir nicht vergessen dass Hölderlin Deutschland nur im Stande
der Erniedrigung zu sehen vergönnt war, indem sich das Auge
seines Geistes schon im Jahr 1806 schloss, und die folgenden
Geschicke der Zeit und des Volkes, seine glänzende Erhebung
und sein klägliches Zurücksinken, ungehört an ihm vorüber-
Fr. Hölderlin. 489
rauschten. Und sehen wir näher zu, so trifTl diese herhe An-
klage unser Volk gar nicht, so widerlegt der Ankläger sich selbst.
Denn wer ist es denn der so bitter dem deutschen Volke allen
Sinn fürs Grosse und Schöne abspricht? Es ist ein Deutscher,
gezeugt von einem deutschen Vater, geboren von einer deutschen
Mutter, grossgewachsen in deutscher Luft, genährt von deutschem
Geiste. Und woher hat er sein tiefes Gefühl für die Natur und
ihre Schönheit? Aus Hellas? Aber der poetische Sinn für die
Natur ist etwas gerade den altclassischen Völkern wie den ro-
manischen der Neuzeit fast gänzlich Fehlendes, er Ist vielmehr
eine charakteristische Eigenthümlichkeit deutscher Anschauung,
ein specifisches Erzeugniss deutschen Gemütes. Diese Diotima
z. B. und dieser Hyperion sind Gestalten wie sie auf hellenischem
Boden schlechterdings niemals existiert haben, elegische, senti-
mentale Wesen wie sie in der gesunden frischen Luft des alten
Hellas schlechthin unmöglich waren, während sie auf deutschem
Boden nicht nur nicht unmöglich sind, sondern sogar wirklich
darauf gewandelt haben; denn seine Diotima war ja aus Hamburg
gebürtig, und Hyperion hat zu Lauffen am Neckar das Licht der
Welt erblickt. Und so haben wir hier das Beispiel einer selt-
samen Verwechslung der Subjecte, einer wunderbaren Verleugnung
des eigenen Blutes. Das Naturgefühl das ihn beseelt legt der
deutsche Dichter einem Hellenen ins Herz, als wäre es dessen
rechtmässiges Eigenthum und er selbst nur lehnweise im Besitze
desselben; er nimmt die besten Schätze seines Volkes, schenkt
sie an ein fremdes, und erhebt nun laute kränkende Klage über
die Bettlerarmut seines eignen. Unser Dichter ist überhaupt in
einer argen Selbsttäuschung befangen : sein Griechenland und seine
Griechen sind nicht die historischen, es sind Erzeugnisse seiner
Phantasie, es sind Projectionen seines eignen Ich, es ist ein
ideales Bild von einem Volke und einem Lande, welchem man
beinahe jeden andern Namen mit demselben Rechte geben könnte
wie den hellenischen. Von spinozistischer Auffassung der Welt,
von sentimentaler Betrachtung der Natur, von schwärmerischer
Phantasie und schwüler Gemütstiefe war das nüchterne, durch-
sichtige, bewegliche Volk der Athener, das sein Herz auf der
Zunge zu tragen pflegte, so weit entfernt als irgend eines; und
Non einer ätherisch reinen, himmlisch hohen, unendlichen, zarten
und tiefen Liebe wie zwischen Hyperion und Diotima hatten sie
auch nicht die leiseste Ahnung. Und so ist auch sein Empedokles
490 Fr. Hölderlin.
nichts weniger als ein antiker Charakter. Es war demnach eine
blose optisclie Täuschung wenn unser Dichter das was ihm so
nahe lag, was in seiner eignen Brust entstanden war und lebte,
für das Erzeugniss eines fremden Himmels, einer fernen Zeit hielt.
In seiner Art die Natur zu betrachten ist übrigens Hölderlin der
antiken Auffassungsweise zugleich am nächsten und am fernsten.
Am fernsten, weil seine Jugendträume von einer Seele, einem
Gemüt der Natur (I, 14 ff.) dem echten realistischen Bewusstsein
der Hellenen durchaus widerstreiten. Dagegen ist es eine echt
hellenische Betrachtungsweise wenn unser Dichter fast regelmässig
die Gestalten der Natur als Personen auffasst und mit ihnen als
solchen verkehrt So ist ihm (I, 36) der Tag ein. schöner Jüng-
ling, ein göttlicher Wanderer, den er gerne begleitete, der aber
lächelt ob dieses vermessenen Wunsches; und im Sonnenuntergang
sieht er wie, „müde seiner Fahrt, der entzückende Götterjüngling
die jungen Liocken badet im Goldgewölk*', oder „sein Abendlied
auf himmlischer Leier spielt" (I, 27); so erblickt er auch im
Strome den JöngHng der bald schläfrig und träumerisch am Ufer
dahinschleicht, bald seine Fesseln zerbricht, weit ausschreitet,
unaufhaltsam dahinfliegt, und mit seiner gewaltigen Stimme die
Wälder aus dem Schlafe weckt, — den Sohn des Okeanos, der
nirgends bleiben darf, „als wo Ihn in die Arme der Vater auf-
nimmt" (I, 26). Das ist ganz im antiken Sinn und zugleich
poetisch angeschaut Zweifelhaft ist m dieser Beziehung bereits
wenn er den Helios seinen und Diotima's Vater nennt (I, 18. 57 f.
141. Hyp. 13) und die Erde seine Mutter (I, 57), ein ander
Mal auch die Sonue seine Mutter (l, 83) und den Aether seinen
Vater (l, 102 f.). Denn den Helios fassten die Griechen nicht
so als allgemeine Potenz auf, sondern als einen concreten, localen
Gott, der an einem bestimmten Orte (Rhodos) seine Wirksamkeit
in besonderem Masse geäussert hat und der Stammvater eines
wieder concret bestimmten Geschlechtes, der Heliaden, geworden
ist; die allgemeinere Bedeutung erhielt er erst in der Zeit des
Verfalls, als die Philosophie und Theologie den morsch und
wankend gewordenen Volksglauben zu stützen sich angelegen sein
Hessen, in der Zeit der Neuplatoniker, unter welchen besonders
der Kaiser Julian dem Vater Helios eine schwärmerische Verehrung
weihte. Aber daneben findet sich noch ein tiefer greifender
Unterschied. Der Hellene Yerwanddt, übersetzt die Gestallen'
der leblosen Natur in menschliche; auch Hölderlin thut dieses.
Fr. Hölderlin. 491
aber er will auch umgekehrt die Menschen in leblos stille Natur-
wesenverwandeln; für d^n Hellenen ist der Mittelpunkt der Welt
und das Ideal des Schönen der Mensch, die menschliche Gestalt,
— Hölderlin's Ideal ist die Naturschönheit, und nur wo er diese
in der Menschheit wiederfindet erkennt er schöne Menschen; bei
Hölderlin sind die Götter vollendete Naturwesen, Wesen deren
Idealitat eben darin besteht dass sie ganz Natur, in unbedingter
Einheit mit ihr sind, ja seine Götter sind sogar Stücke der Natur
selbst, wie der Aether (I, 90. 102 f.), die Sonne (I, 44) u. s. w„
wogegen die Hellenen nur auf ihrer frühesten Entwicklungsstufe
in ihren Göttern Naturwesen oder in der Natur ihre Götter sahen,
auf ihrem Höhenpunkte aber in den Göttern sittliche Mächte ver-
ehrten, d. h« das Sittliche als das Göttliche, Absolute erkannten.
Auch in dem Punkte worin Hölderlin noch die unmittelbarste
Aehnlichkeit mit den Hellenen zu haben scheint, in seinem Mass-
halten, seiner Stille und Gefasstheit, ergibt sich bei näherer Be-
trachtung eine wesentliche Verschiedenheit. Allerdings übernimmt
sich der Grieche nicht, weder in Freude noch in Schmerz, und
setzt seinen gehobensten Stimmungen einen Dämpfer auf; aber
er tbut es aus angeborenem Schönheitsinstinct, welcher ihn aus
dem Gleichgewicht nicht kommen, die Schranken des Normalen
nicht überspringen lässt, und wenn er sich Rechenschaft geben
will über diesen Instinct, so bezeichnet er ihn als die Furcht
vor dem nivellierenden Schicksal, vor der Nemesis. Hölderlin
dagegen ist stille weil die Natur es ist, ihr geräuschloses, be-
scheidenes — weil verdienstloses — Leben und Wirken ist sein
Muster, nach ihr will er auch das Menschenleben stimmen; seine
Stille ist ein Erzeugniss der Furcht vor sich selbst, vor dem
„ schlafenden Leuen " in seiner Brust, er geht auf den Zehen um
sich selbst nicht aufzuwecken, weil er seine Zerrissenheit und
Friedenlosigkeit kennt, und weiss welche Mühe es ihn gekostet
hat die tobenden Streiter in seinem Innern für einen Augenblick
in Schlummer einzuwiegen, das wild Verworrene glatt und eben
hinzulegen. Hölderlin gleicht einem Nachtwandler der geschlossenen
Auges auf dem Giebel des Hauses umhergeht und welchen ein Laut
der ihn erweckt dem Tode in die Arme liefert. Er hat sich sein
Ziel zu hoch gesteckt und für die Erreichung desselben seine ganze
Existenz darangegeben; er hat zu gross gedacht, zu viel begehrt, zu
Hohes erstrebt, er hat sich zu weit entfernt von dem Pfade der Ge-
wöhnlichkeil, als dass er sich nicht zuletzt nothwendig einsam, ver-.
492 Fr. HdlderliiL
lassen und unglücklich gefühlt hätte. Es war ein schöner Traum
den er träumte Yon der Möglichkeit der Rückkehr der ursprünglichen
Natureinfalt, des goldnen Zeitalters, der Verwirklichung seines
Ideals; aber es war ein Traum aus dem er bitter enttäuscht er-
wachen musste. Er hatte sein ganzes geistiges Sein auf eine Karte
gesetzt: diese verlor — und es war aus mit ihm. Er lebte in einer
idealischen Welt; so konnte ihm das wirkliche Leben nur ewige
Kränkung und Enttäuschung bieten; mit den Lieblingskindern seines
Geistes musste er hundertfach den Tod erfahren, und „wer so den
Tod erfuhr erholt sich nur unter den Göttern" (Hyp. 119).
In welches Verhältniss er durch seine Denkart und Rich-
tung zu seiner Zeit trete, darüber ist Hölderlin sich ziemlich
klar bewussl. „Ich bin mit dem gegenwärtig herrschenden Ge-
schmack so ziemlich in Opposition, aber ich lasse auch künftig
wenig von meinem Eigensinne nach, und hoffe mich durchzu-
kämpfen," schreibt er im J. 1797 (II, 41). Er fühlte sich von
den Richtungen und Gegensätzen der Zeit unabhängig und
folgte „der heiligen, unerschütterlichen Maxime sein Gewissen
nie von. eigener oder fremder Afterphilosophie, von der stock-
finstern Aufklärung, von dem liochwohlweisen Unsinne beschwatzen
zu lassen, der so manche heilige Pflicht mit dem Namen Vorurteil
schändet, aber ebensowenig sich von den Thoren oder Bösewich-
tern irre machen zu lassen die unter dem Namen der Freigeisterei
und des Freiheitsschwindels einen denkenden Geist, ein Wesen
das seine Würde und seine Rechte in der Person der Mensch-
heit fühlt, verdammen möchten oder lächerlich machen" (II, 12
aus dem Jahr 1794). »Das sind so ziemlich alle Elemente des
damaligen Zeitgeistes: die Aufklärung, die keimende Romantik, und
die französierende Freigeisterei in Politik und Religion. Hit diesen
allen im Gegensatz, war er mit dem ganzen Zeitgeist in Oppo-
sition. So stellt er sich auch vielfach an in seinen Gedichten.
Er beschuldigt (Hyp. 38j seine Zeil dass sie den Glauben an
alles Grosse verloren habe, dass sie wie ein Fluch über ihm
laste und wie ein heulender Nordwind über die Blüten seines
Geistes dahinfahre und sie versenge im Entstehen (Hyp. 13);
er nennt sie ein Prokrustesbett (Hyp. 140), und wendet sich
mit Zorn gegen „die Natter, das kriechende Jahrhundert, das
alle schöne Natur im Keime vergiftet" (Hyp. 89). Insbesondere
verdriesst ibii die sogenannte cultivierte Welt, die er Stein und
Holz nennt (Hyp. 11), die Gebildeten, bei denen er nichts
Fr. Hölderlin. 493
als trostlose Nüchternheit» Leerheit und Holilheit ßnden kann;
,, gewisse Thiere heulen wenn sie Musik anhören. Meine Gebildeten
hingegen lachten wenn von Geistesschönheit die Rede war und
von Tugend des Herzens" u. s. w. (Hyp. 19 f.). Platt und ge-
mein erscheint ihm die Welt (Hyp. 102 f.). Er möchte von sich
schütteln was sein Jahrhundert ihm gab^ und aufbrechen ins
freiere Schattenreich zu den herrlichen Todten (Hyp. 16). Er
verwünscht die Wissenschaft und das Denken: »»ach,'' seufzt er,
,,ach! war' ich nie in eure Schulen gegangen! die Wissenschaft,
der ich in den Schacht hinunterfolgte» von der ich jugendlich
thöricht die Bestätigung meiner reinen Freuden erwartete, die
hat mir Alles verdorben. Ein Gott ist der Mensch wenn er
träumt, ein Bettler wenn er nachdenkt" (Hyp. 7). In diesen
A«usserungen allen, so polternd sie zum Theil sind» spiegelt sich
eine unverkennbare Schwäche dem Geiste der Zeit gegenüber,
Ueberdruss an ihm» neben Unfähigkeit mit ihm fertig zu werden»
vor ihm Stand zu halten» seiner sich zu erwehren. Er gesteht
auch selbst dass er sich die Kraft nicht zutraue zum mächtigen
Zeitengott sich emporzuschwingen (I» 25)» er^ flüchtet sich vor
den brausenden Wellen der Zeit in die Stille der Natur (I» 39).
Auch bekennt er dass er nicht bloss Hemmungen erfahren habe
vom Geiste der Zeit» dass vielmehr durch dessen Strahl sein eigener
Geist geweckt worden sei (I, 32). Es wäre aber auch vergeblich
wenn er diess leugnen wollte; denn wenn seine Jugend hin-
gegeben ist an die Schule der Pathctiker» an Ossian» Klopstock
und Schiller in seiner ersten Gestalt, so zeigt seine spätere Ent-
wicklung in vielen Zügen eine grosse Familienähnlichkeit mit
den Romantikern. Hier wie dort derselbe Hass wider die
Aufklärung» dieselbe Flucht aus der Gegenwart in eine seibstge-
schaffene ideale Welt» dieselbe schwärmerische Bewunderung für
die Zustände, unmittelbarer Natürlichkeit» wie Kindheit und Traum-
leben, dieselbe Weichheit und Sentimentalität» dasselbe chiliastische
Visionswesen. Auch das Genialitätsbewusstsein » das Herabsehen
auf die Geviöhnlichkeit^ das Stolzthun mit seinem Unglück, das
Kokettieren mit seinen Schmerzen hat Hölderlin mit den Ro-
mantikern gemein. So meint er (H, 116): „Grosser Schmerz
und grosse Lust bildet den Menschen am besten. Aber das
Schusterleben» wo man Tag für Tag auf seinem Stuhle sitzt und
treibt was sich im Schlafe treiben lässt, das bringt den Geist vor
der Zeit ins Grab»'' und im Hyperion ruft er aus: „Glücklich
494 Fr. H51derlm.
sein hdasi schlifiig sein im Mimde der Knechte. Glücklich sein !
mir ist als hätt' ich Brei und laues Wasser auf der Zunge, wenn
ihr mir sprecht von Giucklichsein. So albern und so heillos ist
das Alles wofür ihr hingebt eure Lorbewkronen, eure Unsterb-
lichkeit" (S. 26). ,»Ja, ja! es ist recht sehr leicht, glöcklich, ruhig
lu sein mit seichtem Herzen und eingeschränktem Geiste'' (S. 36).
Hier wie dort also dasselbe Bewusstsdn von der qualitativen
Verschiedenheit des genialen Subjects von der übrigen Welt, das-
selbe Gefühl von sdner absoluten Barechtigung, seiner unver-
gleichlichen Vorzöglichkeit; und ebenso auch dieselbe Tendenz
der angeblichen Versöhnung des Wirklichen mit dem Idealischen,
d. h. der gute Wille das Wirkliche todtzuschlagen zu Gunsten
eines angeblich höheren Idealischen. Das Journal welches Höl-
derlin im Jahre 1799 gründen wollte sollte einen „huma-
nistisdien'' Zweck verfolgen, den „der Vereinigung und Versöh-
nung der Wissenschaft mit dem Leben, der Kunst und des Ge-
schmacks mit dem Genie, des Herzens mit dem Verstände, des
Wirklichen mit dem Idealischen, des Gebildeten mit der Natur*'
— ein Programn^ das eben so gut jeder Romantiker hätte ver-
fassen und unterzeichnen können. Und doch stand Hölderlin mit
den Romantikern in keiner unmittelbaren und persönlichen Be-
rührung, sondern war nur mitergriffen von dem in der geistigen
Atmosphäre der Zeit liegenden Elemente, das er, der Freund
und Studiengenosse Schelling's, aus der ersten Quelle schöpfte.
Andererseits aber: wie ganz anders ist Hölderlin als alle Roman-
tiker! Wohl missachtet er innerlich die Wirklichkeit, aber er
setzt sich nicht im Kitzel genialen Uebermutes über diese Schranke
hinweg, er kämpft sich vielmehr an ihr wund und todesmüde;
wohl sehnt er sich nach einer bessern Welt, aber er glaubt nicht
dass sie mit ihm selbst gekommen sei, er hält sich nicht für
ihren Messias, wie die Romantiker; wohl zieht auch er dch zurück
aus der Gegenwart, aber nicht aus vornehmer Geringschätzung
und Selbstgenügsamkeit, sondern weil sie ihm tiefe Wunden ge-
schlagen hat und die zarte Beschaffenheit seines Gemüths die in
ihr webenden scharfen Winde nicht ertragen kann, weil er fürchtet
das warme Leben in sich zu erkälten an der eiskalten Geschichte
des Tages (II. 123). Hölderlin ist ferner Pathetiker, den Ro-
mantikern ist die Ironie eigenthümlich; jenem ist es tiefster
heiiigster Ernst mit seinen Ideen, sie sind ihm Herzenssache,
sein ganzes Gemüt hängt daran, sein ganzes geistiges Wesen
Fr. Hölderlin. 495
ist darin festgewurzelt; jene spielen damit, und gebärden sich
als wären sie über das woran sie sich hängen zugleich hin-
aus; Hölderlin ist Schwärmer» die Romantiker sind Phan-
tasten ; die ideale Welt der Romantiker unterscheidet sieh von
der wirklichen qualitativ, die Hölderlin's quantitativ. Hölder-
lin's Cultus gilt der Natur, der der Romantiker der Unnatur, der
ungezogenen Phantasie; jener verhält sich zur Natur kindlich,
diese kindisch ; jener hat ein scharfes Auge und ein warmes Herz
für die Natur, seine Vorstellung von ihr ist lebendig, anschau-
lich und rein, er thut nichts hinzu als Seele ; bei den Romantikern
aber ist die Natur phantastisch umrankt und durch woben, statt
der natürlichen walten magische Kräfte in ihr, und anstatt von
edlen schönen Wesen wimmelt sie bei ihnen von Elfen, Kobolden
und Zwergen; Hölderlin erblickt in der Natur überall Geist, die
Romantiker Geister. Jener sah die höchste und schönste Auf-
gabe darin still zu werden wie die Natur, diesen konnte es nicht
bunt, ausgelassen und lärmend genug hergehen; Hölderlin fügte
sich mit frommer Ergebung in das Walten des Schicksals, auch
wo es ihn zerfleischte; die Romantiker wollten die ganze Welt
nach ihrer Laune und Willkür bestimmen; es fehlte ihnen was
jener in hohem Grade ^besitzt, Mass, Adel, sittliche Reinheit;
bei ihnen drehte sich alles um das liebe Ich als seinen Hittel-
punkt, für Hölderlin ist das Höchste sein ideales Ich, die Welt
die er innerlich sich aufgebaut hat, die er sich objecti viert und
der er sich opfert. So schreibt er im Jahre 1794 an Neuifer:
„Was ist's wenn auch wir armen Schelme vergessen werden oder
nie ganz ins Andenken kommen, wenn's nur mit den Menschen
überhaupt besser wird, wenn die heiligen Grundsätze des -Rechts
und der reinem Erkenntniss ganz ins Andenken kommen und
ewig nimmer vergessen werden!" (II, 97 f.) Hölderlin ist der
Classiker unter den Romantikern, noch in weiterem Sinne als
man diess von Uhland ausgesagt hat: sein Ideal ist das Hellenen-
thum, während die Romantiker für das Ritterthum und über-
haupt das Mittelalter schwärmten.
Hölderlin's Eigenthümlichkeit als Dichter kann man
nicht treffender bezeichnen als er selbst es in einem Briefe an
Neuifer aus dem Jahre 1798 thut: „Es fehlt mir weniger an
Kraft als an Leichtigkeit, weniger an Ideen als an Nuancen,
weniger an einem Hauptton als an manchfaltig geordneten Tönen,
'weniger an Licht wie an Schatten, und das Alles aus Einem
496 Fr. Hölderlin.
Grunde: ich scheue das Gemeine und Gewöhnliche im wiriilichen
Leben zu sehr" (II, 123). Seine idealistische Anschauungsweise hin-
derte ihn an freier unbefangener Auffassung des wirklichen Lebens,
gab allen seinen Charakteren einen transcendenten unlebendigen
Zuschnitt und yeranlasste eine gewisse Einförmigkeit des Tons,
eine gehaltene Vornehmheit, eine glockenartige Feierlichkeit und
Fülle des Ausdrucks, die ihn sogar zum Theil in seine Briefe
hineinbegleitet. Dem Adel und der Tiefe der Gedanken ent-
spricht die Pracht der Worte. Hölderlin redet immer nur in
den vollsten und höchsten Tönen, im grossen Stile des Pathos,
und setzt alle Figuren der Rhetorik und Poetik für sich in Be-
wegung. Daher ergeht er sich auch am liebsten in Hymnen , Di-
thyramben und im gemessenen Schwünge antiker Versmasse. Es
ist diess eine Einseitigkeit welche Schiller zu dem freund-
schaftlichen Rathe veranlasste: „Fliehen Sie wo möglich die phi-
losophischen Stoffe; sie sind die undankbarsten, und in frucht-
losem Ringen mit denselben verzehrt sich oft die beste Kraft;
bleiben Sie der Sinnenwelt näher , so werden Sie weniger in
Gefahr sein die Nüchternheit in der Begeisterung zu verlieren
oder in einen gekünstelten Ausdruck sich zu verirren" (II, 140 aus
dem November 1796). Ebenso redete Goethe mündlich ihm zu:
„kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menseh-
lich interessanten Gegenstand zu wählen'' (II, 293). Wir sehen
aus jenen Worten Schiiler's wie dieser gegen sich selbst polemi-
siert, wie er unsern Dichter warnt nicht den jugendlich idea-
listischen Schiller, sondern den durch Studium und Goethe's Ein-
fluss realistischer gewordenen gereiften Schiller zum Muster zu
nehmen; weil er fühlte dass er durch sein Beispiel gleichsam
Mitschuldiger geworden sei an Hölderlin's Entwicklung und sich
und seinen Einfluss aus der Richtung und dem Tone desselben
überall hervorblicken sah, so war er um so eifriger bemüht den
Schaden den er angerichtet zu haben glaubte wieder gut zu
machen und seinem Schüler und geistigen Sohne die Irrgänge
zu ersparen die er selbst auf dem Wege zum Ziel gemacht, den
Schatz der theuer erkauften Erfahrungen zu dessen Bestem zu
verwenden. Schiller durchschaute Hölderlin und beurteilte ihn
vollkommen richtig: ,»er hat eine heftige Subjectivität, und ver-
bindet damit einen gewissen philosophischen Geist und Tiefsinn"
(II, 291); er erkannte dass es die Opposition der empirischen
Welt gegen seinen idealischen Hang gewesen sei welche ihn so*
Fr. HölderHn. 497
subjectivisch. so überspannt, so einsilbig gemacht habe (11, 292),
dass sein Zustand gefährlich sei und dass es nichts Dringenderes
gebe als ihn aus seiner eigenen Gesellschaft zu bringen und einem
wohlthätigen und dauernden Einflüsse zu öffnen (11, 291). ObwohF
er wusste dass solchen Naturen besonders schwer beizukommen
sei, so war er doch entschlossen „diesen Hölderlin so spät als
möglich aufzugeben/' und gibt ihm daher wiederholt den Ralh
sich ruhig utid unabhängig auf einen bestimmten Kreis des Wirkens
zu concentrieren (II, 148). Und Hölderlin war für keinen Rath
und Einfluss empfänglicher als den von Schiller ausgehenden;
an ihm war er aufgewachsen, ihm war er mit unbedingter Be-
wunderung und Ergebung zugethan, zu ihm fohlte er auch um
der Landsmannschaft willen am ehesten Vertrauen. So schreibt
er an ihn im Jahr 1797: „ich habe Mut und eigenes Urteil genug
um mich von andern Kunstrichtern und Meistern unabhängig zu
machen, aber von Ihnen dependier' ich unüberwindlich" (II, 143);
und im Jahr 1798: „ich darf Ihnen wohl gestehen dass ich
zuweilen in geheimem Kampfe mit Ihrem Genius bin, und dass
die Furcht von Ihnen durch und durch beherrscht zu werden
mich schon oft verhindert hat mit Heiterkeit mich Ihnen zu
nähern. Aber nie kann ich mich ganz aus Ihrer Sphäre ent-
fernen , ich würde mir solch einen Abfall schwerlich vergeben "
(II, 145). Diese Zugänglichkeit für Schiller bewies Hölderlin
auch durch wirkliche Folgsamkeit gegen seine Rathschläge. So
hatte ihm Schiller geschrieben : „Auch, vor einem Erbfehler deut-
scher Dichter^) möchte ich Sie warnen, der Weitschweifigkeit
nämlich, die in einer endlosen Ausführung und unter einer Flut
von Strophen oft den glücklichsten Gedanken erdrückt. Dieses
thut Ihrem Gedicht an Diotima nicht wenig Schaden. Wenige
bedeutende Züge, in ein einfaches Ganzes verbunden, würden es
zu einem schönen Gedichte gemacht haben. Daher empfehle ich
Ihnen vor Allem eine weise Sparsamkeit, eine sorgfältige Wahl
des Bedeutenden und einen klaren einfachen Ausdruck desselben"
(II, 140 f.). Hölderlin folgte diesem Rathe, arbeitete sein Ge-
dicht noch einmal um und hat es dadurch wirklich zu einem
*} Schiller denkt hiebei wohl wieder zunächst an sich selbst; denn
etwas specifisch Deutsches ist dieser Fehler nicht, da vielmehr uns die
meisten Erzeugnisse romanischer Dichter durch ihre Weitschweifigkeit
idai nngeniessbar sind. Aber eine Eigenthümlichkeit der rhetorischen
Dichter ist es allerdings.
Teuffei, Studien. 32 *
498 Fr. Hölderlin.
ToUendeten gemachL Wie sehr aber Schiller überhaupt hierio
Recht hatte zeigen Hölderlin s Gedichte. Besond<Nrs bei Lieblings-
gedanken kommt er in einen Fluss, eine Beredtsamkeit hineio
die von Redseligkeit und pomphafter Weitschweifigkeit oft nicht
zu unterscheiden ist; daher er auch selbst sich s^en lässt: „fandst
du als Jüngling doch. In den Tagen der Hoffnung, Wenn du sangest,
das Ende nie" (I, 43). Für Häderlin war ein solcher Wegweiser
um so willkommener weil er seine Schwächen selbst schmerzlich
genug fühlte. So schreibt er Im Jahr 1798 an Neuffer: „das
Lebendige in der Poesie ist jetzt dasjenige was am meisten
meine Gedanken und Sinne beschäftigt. Ich fühle so tief wie
weit ich noch davon bin es zu treffen, und dennoch ringt meine
ganze Seele darnach, und es ergreift mich oft dass ich weinen
muss wie ein Kind, wenn ich um und um (uhle wie es meinen
Darstellungen an einem und dem andern fehlt, und ich doch aus
den poetischen irren in denen ich herumwandle mich nicht her-
ausfinden kann. Ach, die Weit hat meinen Geist von früher
Jugend an in sich zurückgescheucht, und daran leid' ich noch
immer. Es gibt zwar ein Hospital wohin sich jeder auf meine
Art verunglückte Poet mit Ehren flücliten kann, — die Philo-
sophie. Aber Ich kann von mdner ersten Liebe, von den Hoff-
nungen meiner Jugend nicht lassen, und ich will lieber verdienst-
los untergehen als mich trennen von der süssen Heimat der Musen,
aus der mich blos der Zufall verschlagen hat*' (II, 122). Und im
Jahr 1799 an Schiller: „Ich würde es lieber abwarten ob mir
nicht endlich ein Product gelänge, von dessen Werth und Glück
ich gewisser sein könnte, wenn mir die Umstände die ruhige In-
dependenz Hessen die dazu erforderlich wäre. So muss ich Prolien
geben, die vielleicht mehr etwas versprechen als Idsten'' (H, 146).
So wünscht er auch in einem Briefe an seinen Bruder, er mochte
etwas schreiben können wie Shakspeare, „um in der Erzeugung
eines so grossen Kunstwerks meine nach Vollendung dürstende
Seele zu sättigen" (II, 43); er findet dass das Zeitalter eine so
grosse Last von Eindrücken auf die Dichter werfe „dass wh* nur,
wie ich täglich mehr fühle, durch eine lange, bis ins Alter fort-
gesetzte Thätigkeit und ernste immer neue Versuche vielleicht
dasjenige am Ende producieren können wozu uns die Natur zu-
nächst bestimmt hat und was vielleicht unter andern Umständen
frülier, aber schwerlich so vollkommen gereift wäre" (II, 127).
Wenn er einmal dieses Ziel erreicht bat, dann will er gerne
Fr. HölderHn. 499
sterben: ,,nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen, Und einen
Herbst zu reifem Gesänge mir, Dass williger mein Herz, vom
süssen Spiele gesättiget, dann mir sterbe" (1,55). Dabei fühlt er
aber schmerzlich den hemmenden Einfluss seiner Gemutsleiden :
„Ach, vormals rauschte leicht des Gesanges Well* Auch mir im
Busen, da noch die Freude mir. Die himmlische, vom Auge
glänzte" (I, 62); jetzt aber „schon gesanglos Schlummert das
schauernde Herz im Busen" (I, 37); er muss es sich sauer wer-
den lassen um etwas zu Stande zu bringen, er arbeitet langsam
und mit bewusster Beflexion, wie besonders der „Grund zum Em-
pedokies" beweist; er Hess es sich nicht verdriessen ein Gedicht
mehrere Male umzuarbeiten, bis es ihm auf den relativ befriedigend-
sten Ausdruck gebracht schien ; erst die spätesten seiner Gedichte
verrathen ein entschiedenes Nachlassen der poetischen Kraft, das
allmählich völligem Irrsinn Platz macht.
lieber das Verhältniss seiner Gedichte zu seinem Leben findet
sich in dem Briefwechsel eine interessante Aeusserung. Holder-
lin'^s Mutter hatte ein Gedicht trüben Inhalts rein 'stoffartig auf
sich wirken lassen und in Folge dessen zärtliche Besorgnisse über
seine Gesundheit und Stimmung geäussert. Darauf antwortet nun
der Sohn: „ — Ueberhaupt, liebste Mutter, muss ich Sie bitten
nicht alles für strengen Ernst zu nehmen was Sie von mir lesen.
Der Dichter muss, wenn er seine kleine Welt darstellen will, die
Schöpfung nachahmen, wo nicht jedes Einzelne vollkommen ist;
er muss oft etwas Unwahres und Widersprechendes sagen, das
sich aber naturlich im Ganzen , worin es als etwas Vergängliches
gesagt ist, in Wahrheit und Harmonie auflösen muss; und wie
der Begenbogen nur schön ist nach dem Gewitter, so tritt auch
im Gedichte das Wahre und Harmonische aus dem Falschen und
aus dem Irrthum und Leiden nur desto schöner und erfreulicher
hervor" (II, 69 aus dem Jahre 1799). Mit einem Worte also:
der Dichter gibt immer nur Bruchtheile seines Ich, nicht das
Ganze, nur Stimmungen , nicht seine Persönlichkeit selbst, und ein
Theil findet in dem andern seine Ergänzung, Berichtigung und Ver-
söhnung. Bei Hölderlin ist übrigens der Erguss der unmittelbaren
Stimmung mit bewusster Absiebt gedämpft und herabgestimmt,
und dadurch erhalten seine Gedichte jene „Lieblichkeit, Innig-
keit und Massigkeit" welche auch Goethe an ihnen anerkannt hat.
Hölderlin ist seinem innersten Wesen nach Lyriker. Wenn
er gleich durch seine ganze Geistesrichtung mit der wirklichen
32*
500 Fr. Hölderlin.
Welt in tiefem Gegensatze stand, so kam es doch zu keinen
äusseren tragischen Conflicten; der ganze Kampf ward auf dem
Boden des Gemütes geführt, wenn da von einem Kampfe die Rede
sein kann wo der eine Theil immer nur schlägt, der andere Theil
geschlagen wird oder wenigstens sich geschlagen fühlt. Ausser-
dem mangelte unserem Dichter die Fähigkeit aus sich herauszu-
gehen, die Kraft In fremde Welsen des Seins und Denkens» ohne
Schaden Tür die eigene Persönlichkeit, lebendig sich hinein zu ver-
setzen; aus Allem strahlt ihm nur das eigene Bild zurück, in
Alles legt er seine eigenen Slimmungen und Gefühle hinein. Da-
her wäre das Trauerspiel Empedokles, von welchem in dieser
neuen Ausgabe sehr beträchtliche Bruchstücke zum ersten Male
vcröifentlicht sind, mehr ein lyrisches Kunstwerk geworden als
eine Tragödie; die Handlung darin ist dürftig und unklar, die
Reden aber voll Schönheit des Gedankens und Ausdrucks. Sein
Inhalt ist der Sturz eines Götterlieblings, der sich selbst ver-
messen ein Gott zu sein, seine äussere und noch schmerzlichere
innere Bestrafung. Ebenso wesentlich lyrisch ist Hölderlin^s be-
rühmtestes Werk, der Hyperion. Von diesem liegen jetzt beide
Bearbeitungen vor, die ursprüngliche vx)m Jahre 1793 und die
spätere Umarbeitung vom Jahre 1797. lieber das Verhältniss beider
zu einander schreibt Hölderlin selbst an Schiller: „In der ersten
Gestalt war er durch den Einfluss einer widrigen Gemütsstim-
mung und fast unverdienter Kränkungen gänzlich entstellt und
so dürr und ärmlich dass ich nicht daran denken mag. Ich hab'
es mit freierer Ueberlegung und glücklicherm Gemüte von Neuem
angefangen" (II, 144). Ausser dieser verhältnissmässigen Mager-
keit hat die erste Bearbeitung namentlich auch den Fehler dass
ihr Held Hyperion mit dem historischen Hölderlin gar zu sehr
zusammenfällt, wie auch jener Name ohne Zweifel wegen der
Gleichheit seiner äussersten Umgrenzungen mit denen am Namen
des Dichters selbst gewählt ist. Auch in der zweiten Bearbeitung
ist Hyperion's Charakter nach dem Bilde Hölderlin's gezeichnet, aber
nicht des empirischen, sondern des idealen ; dort ist es der iiirk-
liche Hölderlin mit seiner krankhaften Leidenschaftlichkeit, seiner
kränklichen Empfindlichkeit, seinen hypochondrischen Einbildungen
und selbstgeschaifenen Qualen, hier der veredelte, durch Diotima
wiedergeborene, von den gröbsten Schlacken zufälliger Erscheinung
befreite. Bei der ersten Bearbeitung muss man sich nur wundern
über die Naivetät der Selbstpreisgebung und des Wahnes als ob
Fr. Hölderlin. 501
dieses künstlerisch unverklärte Ich schön sei uder auch nur ge-
niessbar ; auch ist das Verhältniss zur Natur hier noch nicht das
freier selbstbewusster Liebe, sondern mystische Versenkung, Däm-
merung statt Licht, Ahnung statt Erkenntniss. Eben darin dass
er ein grosses Selbstbekenntniss des Dichters ist liegt der lyrische
Charakter des Hyperion, \^ eichen das epische Element desselben
nicht zu neutralisieren vermag; denn so lebendig auch die Schil-
derungen in der zweiten Bearbeitung sind, so werden sie doch
immer nur um Ihrer Beziehung auf das Subject willen, als Än-
stoss zu Gemütsvorgängen, aufgefasst und bebandelt. Als Gedicht
aber, oder vielmehr eine Sammlung von (lyrischen) Gedichten, gibt
sich der Hyperion zu erkennen durch seine dichterische Form.
Ein fester edler Rhythmus durchzieht das Ganze, und unzählige
Male wird durch die Zusammenstellung einer Reihe gleichartiger
Rhythmen die poetische Prosa in vernehmliche Poesie verwandelt,
z. B. S. '37: „Des Herzens Woge schäumte nicht so hoch empor
Und wurde Geist; wenn nicht der alte stumme Fels, Das Schick-
sal, ihr entgegenstände.'* S. 47: „Weint nicht, wenn das Treff-
lichste verblüht: bald wird es sich verjüngen. Trauert nicht
wenn eures Herzens Melodie verstummt: bald ßndet eine Hand
sich wieder es zu stimmen." S. 56: „Wir waren Eine Blume
nur, und unsere Seelen lebten in einander, wie die Blume wenn
sie liebt und ihre zarten Freuden im verschlossnen Kelche ver-
birgt." Und so ganze Seiten hindurch, z. B. S. 57, 110, 121, 122,
126, 141 f. 143 f. Diese metrische ^'orm ist häufig genug durch
ungewöhnliche Wortstellung absichtlich herbeigeführt, z. B. S. 46:
„mählich verengte sich und ward zum Bogengänge das Thal;"
S. 74: „er will sich selber fühlen, darum stellt er seine Schön-
heil gegenüber sich;" S. 81: „ihre Stimme erhub mit Grösse
sich;" S. 82: „Viele die nur Theile sind des Menschen ;" S. 120:
„den Ernst der Allen gewann in deiner Schule der Genius unserer
Jünglinge bald ;" S. 148 : „ich hab' ihn ausgeträumt von Menschen-
dingen den Traum." Durch dieses Alles bekommt die Sprache
eine stolze, fast dithyrambische Haltung, entsprechend der Ge-
wähltheit und dem Schwünge der Gedanken, Anschauungen und
Bilder. Auch die Charaktere sind ätherisch zart und idealisch
rein gezeichnet und durchgeführt; so der Hellene Hyperion und
der Römer (S. 21. 116) Alabanda, ganz besonders aber Diotima.
Die Melite der ersten Bearbeitung ist ganz nur aus Sehnsucht
gewoben, Diotima hat zwar Fleisch und Blut, erinnert aber doch
502 Fr. HölderUn.«
lebhaft an die Jean Paul'schen Mädchen, an seine Lianen und
Kiotilden. Wie sie, vergeht Diotima, zehrt sich von innen heraus
auf. Nur sind Jean Paul's Mädchen zuerst und wesentlich kränk-
lich, ihre Aetherhafligkeit ist erst das Abgeleitete, während Dio-
tima, ursprunglich gesund, erst dem Uebermasse des innern
Feuers erliegt. Auch das unterscheidet den Hyperion wesentlich
von Jean Paurschen Romanen, dass in jenem das elegische und
sentimentale Element ohne die Begleitung eines humoristischen
ist, und dass diese unförmliche Körper sind, aber über und über
behangen mit funkelndem Golde und kostbaren Diamanten, wäh-
rend der Hyperion ein aus reinem Golde mit Sorgfalt und Ge-
schmack gearbeitetes Kunstwerk bildet. Die Briefform und das
Selbsterzählen des Betheiligten ist dabei für den lyrischen Cha-
rakter günstig und bezeichnend; aber ein Briefwechsel ist es
nicht: es sind nur Briefe Hyperion 's an Bellarmin, nicht auch
Bellarmin's an Hyperion; denn nicht um Austausch der Ansichten
ist es zu thun, sondern dass der Eine sich ganz aussprechen,
seine innere Entwicklung ununterbrochen darstellen könne. BelJar-
min gewinnt daher, wohl absichtlich, um nicht das Interesse zu
zertheilen, oder unbewusst in Folge des lyrischen Charakters der
Dichtung, durchaus keine Gestalt, und sein Name dient nur zur
Capiteleintheilung. Uebrigens kann von einer inneren Entwick-
lung des Charakters von Hyperion nur uneigentlich gesprochen
werden, indem ein Fortgang, ein Weiterkommen hier nicht statt
flndet; den Schritt welchen Hyperion vorwärts thut geht er bald
wieder zurück und befindet sich wieder an derselben Stelle wie
Anfangs. Das Resultat seines Lebens ist dass er, gescheitert in
seinen Versuchen zu handeln, wiederkehrt in die Arme der Natur,
der wandellosen, schönen und stillen (S. 6), also sich zurückzieht
auf das blose pflanzenartige Sein von dem er ausgegangen ist.
Das Ende fällt so mit dem Anfange zusammen, es ist ein Kreislauf,
er durchläuft „des Lebens Bogen und kehret woher er kam"
(H, 298). Der Gewinn des langen Weges ist das Einzige dass
Hyperion das was er von Anfang unmittelbar hatte nun als
das Beste erkennen gelernt bat, mit Bewusstsein und Freiheit
es aufsucht und sich wieder zu eigen macht. Wer aber von
weiter Reise nur die eine Weisheit zurückbringt dass er besser
gethan hätte zu Hause zu bleiben, dessen Reise ist vergeblich ge-
wesen.
XXIV.
A. Seh wegler*).
£s war am fünften Morgen des Jahrs 1857 dass eine erschüt-
ternde RtNHie die Stadt Tübingen durchflog: Professor Schwegler ist
vom Sclilag gerMu*t worden und liegt im Stei^ben ! Wen sie erreichte,
den machte sie erstarren. „Wie? der Mann in den besten Jahren,
mit der unverwüstlichen ^«sundheit, den eisernen Nerven? mit
dem wir erst gestern Abend ivsammengesessen , dem wir erst
diesen Morgen auf der Strasse begegnM sind?" Und doch war
es so. Nachdem er von 8 — 9 Uhr seine Vortesung über die Ge-
schichte der griechischen Philosophie ganz in gewtiiuater Weise
gehalten, sich nach Hause begeben, zur Arbeit umgeiileidteC, am
Schreibtische Platz genommen hatte, war er um OVj Uhr von dem
eintretenden Barbier bewusstlos zu Boden gestreckt angetroffen
worden , und Spuren an den zum Theil herabgeworfenen , zum
Theil zerknitterten Büchern zeigten wie er sich krampfhaft daran
zu halten gesucht hatte. Trotz der sogleich angewandten ärzt-
lichen Hülfe wiederholten sich die Anfälle rasch in grosser Zahl
und theil weise mit furchtbarer Intensität; 25 Stunden lang leistete
die kerngesunde Natur Widerstand. Diese ganze Zeit über lag
er röchelnd und vom Bewusstsein verlassen, welches keinen Augen-
blick wiederkehrte. Endlich wurde das Röcheln immer leiser
und leiser, bis es zuletzt ganz aufhörte. Noch einige tiefe Athem-
züge, und ein reichausgestaltetes Leben war zu Ende. Es war
der Morgen des Erscheinungsfestes, Vormittags lO'/j Uhr.
Die Leichenöffnung ergab keine dem Anatomen erkennbare
Todesursache. Zwar war der Schädelknochen ungewöhnlich dick.
/
*) Aus der Beilage zu Nr. 331 der Allgemeinen Zeitung, 27. Novem-
ber 1858, 8. 5346—5347.
504 A. Schwegler.
aber der Verstorbene war überhaupt von kräftigem Knochenbau;
zwar zeigte das Gehirn einigen Bhitreichthum, aber weitaus nicht
in dem Grade um eine solche Wirkung zu erklären. Die eigent-
liche Todesursache lag nicht ferne vom Sterbelager auf einem
kleinen Tische; es waren die beiden Bände von Schwegler's Römi-
scher Geschichte. Denn die Tag und Nacht hindurch fortgesetzte,
keine Ruhe, keine Erholung sich gönnende; auf Alles was davon
abziehen, was irgend Zeit kosten konnte, mit starrer Consequenz
Verzicht leistende Arbeit an diesem Werke hat seine scheinbar
unzerstörbare Natur zuerst innerlich aufgerieben und dann mit
einem Male zertrümmert. Nur ein schwacher Trost ist es dabei
dass es ihm doch noch vergönnt war sein Werk bis zu einem
gewissen Abschlüsse fortzuführen. Denn es war des Verstorbenen
Absicht nach Vollendung des dritten Bandes sich auf längere Zeit
andern Studien zuzuwenden, da er das Aussaugende der unaus-
gesetzten Beschäftigung mit einem einzigen Gegenstande Sehr wohl
fühlte. Aber auch dieses Ziel sollte er nicht vollständig erreichen.
Sein titanenhaftes Anstürmen gegen die Schranken welche der
menschlichen Individualität gesetzt sind, und welche Keiner un-
gestraft verletzt, hat seinen Lebensfaden zerrissen noch ehe er
an diesen dritten Band die letzte Feile anlegen konnte ^ und dieser
erscheint jetzt durch fremde Hand^), zwar äusserlich .lückenlos
und innerlich befriedigend, überhaupt seines Verfassers vollkom-
men würdig, aber doch nicht in derjenigen Gestalt welche dieser
bei längerem Leben demselben schliesslich selbst gegeben haben
würde. Dieser dritte Band führt in sieben Büchern von zusam-
men 306 Seiten die römische Geschichte vom ersten Decemvirat
bis zu den Licinischen Gesetzen, durch welche die Plebejer die
vollständige politische Gleichstellung mit den Patriciern erlangten ,
er umfassl also kaum acht Decennien (J. 300 — 376 d. St.). Der
ganze eigentliche Inhalt ist fast ohne Ausnahme das Werk von
Schwegler; vom Herausgeber rührt das verdienstliche Register
über die drei Bände (S. 307 — 380) her, der vorausgeschickte
Lebensabriss Schwegler's aber (S. VII — XXXVI) von E. Zeiler.
Der Schluss desselben , eine Schilderung von Schwegler's äusserer
Persönlichkeit, soll Fr. Vischer zum Verfasser iiaben. Zeller
*) Römische Geschichte im Zeitalter des Kampfs der Stände, von
Dr. A. Schwegler. Zweite Hälfte. Vom ersten Decemvirat bis zu
den Licinischen Gesetzen. Nach des Verfassers Tod herausgegeben
Ton Dr. F. F. Baur, Professor am Gymnasium in Tübingen. 1868.
A. Schwegler. 505
konnte für seine Schildefung die Tagebücher und sonstigen hin-
terlassenen Papiere Schwegler's benützen, und hat auch eine
treffliche Arbeit geliefert, die wir nur etwas zu geradlinig ange-
legt finden, sofern die inanchfachen Absätze und Wandlungen
in Schwegler's Wesen und Denkart wohl mehr Berücksichtigung
verdient hätten, wobei nicht zu verschweigen war dass Schwegler
im Verlaufe seiner historischen Studien dem specifischen Hegel-
thum immer gründlicher entfremdet wurde. Auch im Einzelnen
lässt sich mancher nicht unwesentliche Zug nachtragen. Versuchen
wir es, nach Zeller 's Mittheilungen und eigener Erinnerung, ein
Bild des Verstorbenen zu entwerfen.
Friedrich Karl Albert Schwegler war geboren am 10. Febr.
1819 zu Michelbach an der Blitz, einem Dorfe in der Nähe der
ehemaligen Reichsstadt Hall, in welchem sein Vater Pfarrer war,
so dass also die römische Geschichte ihre beiden bedeutendsten
Bearbeiter in der Gegenwart, A. Schwegler und Th, Mommsen,
Pfarrhäusern zu danken hat. Schwegler's Vater, der noch in der
ersten Hälfte der Zwanziger stand als ihm dieser erste Sohn ge-
boren wurde, war ein in seinem Wirkungskreise vollkommen ach-
tungswerther Mann, der sich aber über das Mittelmass mensch-
licher Fähigkeit nicht erhob; dagegen' soll die Mutter eine geistig
und gemütlich ausgezeichnete Frau gewesen sein. Da die Familie
allmählich auf fünf Kinder anwuchs und wenig bemittelt war, so
verstand es sich nach würtembergischen Verhältnissen fast von
selbst dass der von jeher reiche Gaben bekundende älteste Sohn
zum Studium der Theologie bestimmt wurde. So durchlief er
das niedere Seminar zu Schönthal (1832 — 1836) und das höhere
zu Tübingen (1836 — 1840)^ in allen Lehrgegenständen , mit Aus-
nahme der mathematischen, jederzeit seine Altersgenossen über-
ragend und die höchsten Erwartungen erregend. Diesem ent-
sprach denn auch gleich sein erstes literarisches Auftreten im
Jahre 1841 , mit seiner Monographie über den Montanismus , die
ihm alsbald einen Platz in der vordersten Reihe der Tübinger
Schule sicherte. Nach einer wissenschaftlichen Reise und längerem
Aufenthalte zu Berlin im Herbst 1842 in die Heimat zurückge-
kommen, hoffte Schwegler an einem der vier niedern Seminarien
Würtembergs als Repetent verwendet zu werden, eine Stellung
welche neben anregenden amtlichen Verhältnissen viel Müsse zu
wissenschaftlicher Beschäftigung zu bieten pflegt. Als diese Hoff-
nung sich nicht erfüllte, entschloss er sich seinen Aufenthalt in
506 A. Seh wegler.
Tubingen zu nehmen , trotzdem dass er sich als einzige Subsistenz-
quelle auf seine Feder angewiesen wusste. Aber er vertraute seiner
Bedurfnisslosigkek und seiner Arbeitskraft, sah sich jedoch durch
seine Lage theilweisc zu Verwendungen seiner Zelt {j[enöthigt die
seinem Talente keinen Raum Hessen.
Einige Besserung brachte der Anfang des Jahres i84S» wo
sich in Tübingen eine Anzahl jüngerer Talente, deren Gemein-
sames die Richtung auf Autonomie und Fortschritt in allen Gebie-
ten des Geistes war, dazu vereinigte eine Zeitschrift von der un-
gefähren Tendenz der Hallischen, nachher Deutschen Jahrbücher,
aber unter Vermeidung ihrer Fehler und Ausschreitungen, zu
gründen. Drei von den Gründern dieser Zeitschrift, welche auf
Vischer's Vorschlag den Titel „Jahrbücher der Gegenwart" an-
nahm, haben ein frühes Grab gefunden: J. Fallati, C. R. Köstlio,
A. Schwegler; die beiden andern, Fr. Vischer und E. Zeller, sind
von dem Herde ihrer ursprünglichen Wirksamkeit weggezogen.
Zum geschäflsführenden Redacteur wählten sie Schwegler^ der,
obwohl der jüngste, durch seine geistige Reife, Vielseitigkeit und
Gewandtheit, so wie seine amtlose Stellung, dazu besolders ge-
eignet schien und in seiner Beurteilung von Ruge's Anekdota
eine Art Programm der neuen Zeitschrift verfasste, wenigstens
nach der Seite hin wo sie von ihrer Vorgängerin sich unterscheiden
wollte. Schwegler führte auch die Redaction fort bis zum Aufhören
der Jahrbücher im Jahr 1848, ohne jedoch selbst ihnen viele
umfangreiche Beiträge zu widmen, theils weil er die zerbröckelte
Art literarischer Thätigkeit nicht liebte und bald durch seine neue
akademische Stellung sich einigermassen in Anspruch genommen
sah (er habilitierte sich am 12. Sept. 1843 durch öfTentliche Ver-
tbeidigung einer Abhandlung „über die Composition des Platoni-
schen Symposion" als Privatdocent der Philosophie und Philologie),
theils wohl auch aus absichtlicher Zurückhaltung, um sich nicht
unmöglich zn machen. Schwegler rechnete nämlich darauf dass
er in seiner Reihe in das Repetentencollegium des evangelischen
Seminars (des bekannten „Stift") werde eintreten können, und die
scfaliessliche Vorenthaltung dieser Stelle, welche doch wahrlich nicht
zu den höchsten Zielen des Menschenlebens zählt, erfüllte ihn mit
einer Bitterkeit die man verwunderlich , ja krankhaft finden müsste,
wenn man nicht bedächte dass ihm dieselbe als Gelegenheit einige
Jahre frei von äussern Sorgen der Wissenschaft zu leben, so wie
als Sprungstein für Weiteres erwünscht sein musste, und dass er.
A. Schwegler. * 507
um sie nicht zu gefährden , zwar niemals seine Ueberzeugung ver*
leugnet, aber doch sich manchen Zwang auferlegt und immer
nur seine friedlichsten Seiten bervorgekehct hatte. Um so tiefer
schmerzte ihn nun diese alle seine Pläne durchkreuzende und
ihm völlig unverdient scheinende Verkürzung, und bei seiner un-
glücklichen Art unangenehme Erfahrungen immer tiefer in sich
hineinzuarbeiten und darin fortzuwühlen, statt sie entweder mit
einem raschen Entschlüsse auszustossen oder allmählich auf die
Oberfläche treten zu lassen und dann sachte abzulegen, kann man
vielleicht sagen dass er sein Leben lang sie nie ganz verwunden
hat. Zunächst verfasste er, halb im Unmut über diese Kränkung,
in unglaublich kurzer Zeit seine Geschichte des nachapostoUschen
Zeitalters (Tübingen 1845. 2 Bde.) , in welcher er nunmehr mit
rückhaltsloser Offenheit seine Anschauung von den Anfängen der
christlichen Kirche darlegte, ein Werk das selbst bei Solchen welche
die Ausgangspunkte und Ergebnisse entschieden missbilligten um
seiner theologischen Gelehrsamkeit und seines glänzenden Scharf-
sinns willen, so wie wegen der meisterhaften, durchsichtigen und
oft hmreissenden Darstellung, aufrichtige Anerkennung fand.
Damit schloss Schwegler für seine Person seine theologische
Laufbahn ab , und vermittelte sich den Uebergang zu einer neuen
durch eine Reise nach Italien welche er im Frühjahr 1846 unter-
nahm. Was eine Erholung sein sollte, das machte seine Energie
zu einer Quelle neuer Anstrengungen. In fünf kurzen Monaten
durchreiste er Italien und Sicilien unter grossen Entbehrungen
und verweilte namentlich längere Zeit in Rom , wo der Plan eine
römische Geschichte zu schreiben vollends in ihm zur Reife gedieh.
Zuvor aber räumte er, zurückgekehrt, mit älteren Studien auf,
indem er auf buchbändlerische Veranlassung im J, 1847 eine kurze
Darstellung der Geschichte der Philosophie herausgab, welche
ihren Stoff mit geistreicher Leichtigkeit beherrscht und bei aller
Kürze doch das Wissenswerthe in so genügender und lichtvoller
Weise bietet dass die Schrift mehrere starke Auflagen erlebte und
in fremde Sprachen übersetzt wurde. Dann Hess er von 1847
bis 1848 eine Bearbeitung der Metaphysik des Aristoteles („Grund-
text, Uebersetzung und Commentar, nebst erläuternden Abhand-
lungen" in vier Bänden , Tübingen), erscheinen, welche zwar, wie
der competenteste Richter, H. Bonitz, nachgewiesen hat, in phi-
lologischer Hinsicht Manches zu wünschen übrig Hess, aber durch
die Schärfe der philosophischen Auffassung und Entwicklung im
508 ' A. Schwegler.
Ganzen und in vielen Einzelheiten sich wesentliche Verdienste er-
worben hat. Auch veröffentlichte er 1847 eine Ausgabe der Cle-
mentinischen Homilien, sowie 1852 eine solche von der Kirchen-
geschichte des Eusebius, welche letztere die einzige Unterbrechung
war die er in seinen Arbeiten für die römische Geschichte ein-
treten Hess. Denn auf diesQ concentrierte er seit Ende 1847
seine ganze grossartige Arbeitskraft.
Inzwischen aber war seine äussere Stellung fort wahrend eine
seinen Fähigkeiten und literarischen Leistungen wenig entsprechende.
Schwegler hatte längere Zeit unter dem zu leiden was man schon
das akademische Hungersystem genannt hat, und was auch in
Tubingen lange Zeit in Blüte gewesen ist. Nichts liegt uns zwar
ferner als die Ansicht dass Jeder welcher sich einer Universität
als Lehrer zu octroyieren für gut findet eben damit ohne Weiteres
sich einen Anspruch auf Aufmunterung und Unterstützung erwerbe.
Die Stellung eines akademischen Lehrers hat manches Verlockende,
auch die eines Privatdocenten hat einige zum Theil kostbare Rechte
und ein Minimum von Pfliditen. Es wäre daher bei allzu grosser
Liberalität ein Zudrang zu befürchten welcher allen Theilen schäd-
lich wäre, und es könnte auch die Mittelmässigkeit, welche den
knapperen Anforderungen anderer Laufbahnen aus dem Wege
gehen möchte^ auf diese Weise ohne Anstrengung, durch blose
hartnäckige Ausdauer, sich ein Unterkommen ersitzen zu können
glauben. Aber es ist doch wohl nicht schwer im einzelnen Falle
zu unterscheiden zwischen solcher Bequemlichkeit und dem wirk-
lich begabten und strebsamen jungen Manne. Bei Schwegler
wenigstens konnte es keinen Augenblick lang zweifelhaft sein zu
welcher von beiden Kategorien er gehöre. Aber statt ihm kräftig
unter die Arme zu greifen, verbitterte man ihn zuerst durch
Verweigerung aller Unterstützung, und schob ihn zuletzt in eine
Stellung hinein für die er nicht vorbereitet war, die ihn daher
nicht befriedigte, und deren Anforderungen mit tlazu beitrugen
ihn zu erdrücken. Im Juli 1848 ernannte das würlembergische
Märzministerium Schwegler zum ausserordentlichen Professor für
römische Literatur und Alterthümer. Für diese Fächer hatte er
bis zum Augenblicke seiner Ernennung lediglich nichts geleistet.
Seine Reise nach Rallen und sein Vorhaben eine römische Ge-
schichte zu schreiben war Alles was er in dieser Hinsicht aufzu-
weisen hatte. Man hat sich in Würtemberg immer auf die Kunst
verstanden einen gegebenen Theologen in einen beliebigen Fach-
A. Schwegler. 509
mann zu verwandeln; aber selten ist der Versuch in dem Masse
gelungen wie im vorliegenden Falle, wo man es freilich mit einem
ganz ungewöhnlichen Talent und einer geistigen Energie sonder
Gleichen zu tbun hatte.
Auf zweierlei Weise konnte Schwegler von dem neuüber-
tragenen Wissenschaftsgebiete Besitz ergreifen und seine Wahl
rechtfertigen: er konnte entweder allmählich und in der Stille sich
in immer mehrere Zweige desselben einarbeiten, und als akade-
mischer Lehrer desselben eine immer ausgedehntere und tiefer-
gehende Wirksamkeit entfalten; oder aber die ganze Wucht seines
Talentes auf einen einzigen Theil desselben concentrieren und
dadurch eine imponierende literarische Leistung zu Stande bringen.
Schwegler schlug den schwierigeren und glänzenderen zweiten
Weg ein. In der Wahl de& bestimmten Stoffes auf den er sich
warf hat er entschieden richtige Selbstkenntniss bewiesen.
Schwegler besass in seltenem Masse die Fähigkeit einen weit aus-
gedehnten wissenschaftlichen Stoff gleichzeitig zu umspannen und
sich geistig gegenwärtig zu halten, ihn lichtvoll zu ordnen^ scharf-
sinnig zu combinieren und meisterhaft darzustellen. Musste er
vermöge dieser Eigenschaften als vorzuglich berufen für die Ge-
schichtschreibung erscheinen, so war er andererseits mit keinem
Volke geistig näher verwandt als mit dem römischen. Die Art
der Römer, mit unverwandtem Auge und mit Anspannung aller
Kräfte dem selbstgewählten Ziele nachzustreben und alles Andere
darüber für Nichts zu achten, war auch seine Art; auch seine
Natur war durch und durch pathetisch angelegt, und auch seine
Darstellungsweise bekam daher immer unwillkürlich einen rheto-
rischen Charakter. Und dann die unübersetzbare und doch so
einzig charakteristische Eigenschaft der Römer, ihre ferocia, die
Steigerung der virtus über ihr Mass und Ziel hinaus, er besass
sie von Anfang bis zu Ende, nur dass sie allmählich immer aus-
schliesslicher in seinen wissenschaftlichen Arbeiten sich bethätigte.
War so Schwegler wie geschaffen zum Geschichtschreiber der Römer,
so möchte man freilich wünschen er hätte sich sogleich der Kaiser--
zeit zugewandt, für welche er eine Complication von Eigenschaften,
Kenntnissen und Studien besass wie sie sich vielleicht nie wieder
beisammen finden, und welche einer gründlichen und geistvollen
Bearbeitung noch in weit höherem Grade bedürftig ist als die
ältere Zeit, wo nach allem seit Niebuhr Geleisteten nur noch eine
Nachlese, eine kritische Sichtung und Zusammenfassung möglich
510 A. Sehwegler.
war. Aber wer will mit dem Vollendeten rechten dass er liebo*
einem Zeitaller sich zuwandte das für ihn den Reiz der Neidieit
hatte, und wo er von der ihm peinlich gewordenen Theologie
gründlich loskam? Freuen wir uns vielmehr dessen was er für
die von ihm erwählte Aufgabe geleistet hat.
Das Jahr 1848, welches für Sehwegler die endliche feste
Stellung und damit die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches
brachte, gab ihm auch Gelegenheit seine politischen Ansichten
thatsächlich zu erproben. Sehwegler hat sein politisches Glau-
bensbekenntniss niedergelegt in der Beurteilung des Kampfes
zwischen den Patriciern und Plebejern, welche an der Spitze
seines zweiten Bandes steht. Eine der bezeichnendsten Stellen
lautet hier (S. 39) : „eine Bestätigung des Erfahrungssatzes
dass was mühsam und stetig und auf tüchtigem Grund auferbaut
wird Stand hält und der Zeit trotzt, während Erschwindeltes und
eilfertig Aufgebautes keine Dauer hat und leicht Tom nächsten
Windstoss wieder umgeworfen wird." Bei solcher Anschauungs-
weise und bei seiner ganzen geistigen Reife, Klarheit und Nuch*
ternheit musste Sehwegler von yornherein gegen die neue Be-
wegung misstraulsch sein; indessen wenn er auch nicht viel
hoffte, so wünschte er doch die Herstellung einer Einheit, und
wäre es vorläufig um den Preis der Freiheit Er schloss sich
daher an die später nach Gotha benannte Partei an, und unter-
zeichnete noch im Januar 1850 die sogenannte Plocbinger Er-
klärung. Aber von Anfang an liess er sich durch manche Aus-
wüchse und Ungelegenheiten, welche sich von einer solchen Zeit
der Aufregung und Lockerung aller Bande nicht leicht trennen
lassen, gründlicher abstossen als eigentlich rationell war.
Insbesondere war es das Institut der Bärgerwehr das seinen
tiefsten Widerwillen erregte. Wie Sehwegler schon im Allge-
meinen einer Denkweise welche den Leib nicht als Organ, son-
dern als Diener des Geistes betrachtet, oder doch behandelt,
nicht fern stand und eine grosse Abneigung gegen Körperübun-
gen hatte, so machte die durch diese Dinge verursachte Zeitver-
geudung ihm dieselben vollends unausstehlich. Dass er diess un-
verhohlen an den Tag legte war in der damaligen Zeit weit ent-
fernt ihm Freunde oder gar eine Erleichterung zu verschaffen.
Im Gegentheil, wenn zu jener Zeit in ofifentlichen Blättern von
einem akadenuschen Lehrer zu lesen war welcher durch eine
Escorte der Bürgerwehr aus seinem Hause weg zum Exercieren
A. Schwegler. 511
geboh worden sei» so woUeA wir nicht verschweigen dass dieser
Lehrer unser Schwegler war. Nun woUle sein Unstern gar noch
das& diese leidige Soldalenspielerei nirgends hartnäckiger fort^e-
triehen wurde als gerade in seinem Wohnort. Diese ewigen
Qualereien versetzten Schwegler in eüien wahren Ingrimm» und
er hol Allem auf um dem Institut den Garaus zu machen und
dadurch Ruhe zu bekommen. Er verfertigte eine förmliche
Anklageacte gegen die Tübinger Bürgerwehr, und diese seine
Zeitungsartikel» wie sie alte Freunde ihm entfremdeten, machten
auf anderer Seite so entschieden den Eindruck geistiger Bedeu-
tung, politischer Entscliiedenheit und stilistischer Vollendung, dass
kurz darauf durch einen Abgesandten des Ministeriums an ihn
die Aufforderung ergieng die Redaction des Würtembergischen
Staatsanzeigers zu übernehmen. Die Bedingungen waren lockend»
und der Wirkungskreis eines Redacteurs bei einer politischen
Zeitung manchen Seiten von Schwegler's Wesen so zusagend dass
er einen Augenblick schwankte; aber manches Unbefriedigende
in dea eoncrelen Verhältnissen» und vor Allem wohl das Gefühl
der Unmöglichkeit von seinen begonnenen wissenschaftlichen Ar-
beiten sich zu trennen» bestimmte ihn zuletzt den Antrag doch
abzulehnen. Und auf die Dauer hätte sich Schwegler's Art zu
arbeiten mit einer solchen Stellung nicht vertragen, ^war konnte er
sehr rasch und leicht arbeiten» und was er so» in voller Herrschaft
über den Stoff» in Folge äussern Drängens schnell hingeworfen
hat» wie sein »»Nachapostolisches Zeitalter'' und seine »»Geschichte
der Philosophie"» gehört sogar zu seinen gelungensten Leistun-
gen; in der Regel aber rückte er nur langsam von der Stelle»
indem er sich schwer Genüge that und mit dem Wägen und
FeUen und Aendern kaum zu Ende kam. So verschob er auch
die Herausgabe seiner »»Römischen Geschichte" inuner von
Neuem» und hatte Alles was jetzt gedruckt vorliegt der Vollen-
dung schon nahe gebracht als er im Jahr 1853 die erste Hälfte
des ersten Bandes erscheinen Hess» daher die einzelnen Abthei-
lungen in verhältnissmässig so kurzen Zwischenräumen auf ein-
ander folgen konnten. Und bedenkt man dass sechs bis sieben
Jahre vorher rein nichts vorhanden war als der abstracte Vorsatz
ein solches Werk zu schreiben» dass der Verfasser überdiess
seine Zeit mit Vorlesungen theilen musste und zwischenhinein den
Eusebius edierte» so wird man staunen über seme riesenmääsige
Arbeitskraft» aber auch sein frühes Ende begreiflich finden.
i>12 A. Schwegler.
Schwegler hatte sich zur Aufgabe gemacht die römische Ge-
schichte in der Weise zu behandeln dass er „ neben einer m^-
liehst voUstindigen Zusammenstellung des geschichtlichen Stoffes
und einer selbständigen , das historisclie VerstSnduiss weiter töT-
dernden Bearbeitung desselben, zugleich eine beurteilende Ueber-
sicht über die gelehrten Forschungen gebe die in den letzten
zwaniig Jahren , seit Niebuhr , auf diesem Felde angestellt worden
sind." Sein Werk bat daher ausser dem historisch -kriüsclien
zugleich einen gelehrten Charakter, und unterscheidet sich hier-
durch wesentlich Tom Plane Niebuhr 's, hat aber einen grossen
Theil seines Erfolgs unzweifeJhaA dieser seiner Eigenschaft als
ReperCorium zu danken. Keine Frage die mit seinem Gegenstand
auch nur entfernt zusammenhängt lässt er vorüber ohne ihr auf
den Grund zu gehen, die verschiedenen Ansichten darüber ger-
siclitef und geordnet darzulegen, die Gründe für und wider um-
sichtig abzuwägen und schliesslich entweder sich für eine der
aufgezählten zu entscheiden oder eine neue aufzustellen, oder
auch, w*o ein festes Ergebniss nicht zu erzielen war, oder wo
er sich zu einem bestimmten Urteil nicht beraten fühlte, ein
Non Uquet auszusprechen.
Die Reichhaltigkeit des mit unendlichem Fleisse zusammen-
getragenen Materials, die lichtvolle Gruppierung und besonnene
Prüfung aller entscheidenden Momente, die Zuverlässigkeit und
annähernde Vollständigkeit der literarischen Nachweisungen, die
Durchsichtigkeit der Darstellung hat Schwegler's Arbeit auch in
solchen Kreisen Freunde verschafft welche vielleicht durch den
kritischen Standpunkt des Verfassers sich eher hätten abstossen
lassen. In letzterer Beziehung steht Schwegler ganz auf den
Schultern Niebuhr's; aber er kommt bereichert durch die Errun-
genschaften der theologischen Kritik und mit einem auf jenem
Gebiete eben so geschärften wie erweiterten Blick; und wenn
der berühmte Verfasser des Lehens Jesu zu seiner kritischen
Bearbeitung neben 0. MüUer*s Prolegomena zur Mythologie ganz
bes4Miders durch Niebuhr's Behandlung der römischen Geschichte
angeregt worden war, so hat Schwegler die hierdurch erwach*
sene Schuld an die römische Geschichte mit reichen Zinsen ab-
getragen. Ausserdem war er mit Erfolg bemuht von den Schwä-
chen Niebuhr's sich frei zu erhalten, insbesondere von seinem
Mangel an unbefangener Auslegung der Quellen, seiner parteii*
sehen Vorliebe für einzelne Schriftsteller und seiner unbegrön-
1.
A. Schwegler. 513
deten Abneigung gegen andere und gegen bestimmte geschicht-
liche Erscheinungen, seiner Hypothesensucht, überhaupt von der
subjectiven Willkür, die bei dem ersten genialen Wurfe verzeih-
lich war, von dem Epigonen aber desto strenger vermieden wer-
den musste. Auch hat Seh wegler seinen Vorgänger vielfach er-
gänzt in dem positiven Theile seiner Arbeit, in der Nachweisilhg
wie die überlieferte Erzählung entstanden sei. Nachgeahmt aber
hat er Niebuhr in dem Bestreben dunkle Verhältnisse der römi-
schen Geschichte durch Vergleichung verwandter Zustände in be-
kannteren Zeiträumen aufzuhellen, was besonders im zweiten Theile
stark hervortritt, wogegen im ersten Bande eine gewisse Neigung
zum Systematisieren und Formulieren bemerklich ist, die wir
wohl als eine Frucht des philosophisch - theologischen Bildungs-
ganges von Schwegler werden betrachten dürfen. Wo der Ver-
fasser sich auf das Etymologisieren einlässt zeigt er weder rechte
Sicherheit noch auch immer eine glückliche Hand, so dass es
wohl mehr das Gefühl des Bedürfnisses weiterer Selbstbelehrung
auf diesem Gebiete als wirkliche innere Neigung war was ihn auf
den Gedanken brachte nach Vollendung der drei Bände seines
Geschichtswerkes sich der Bearbeitung eines Wurzelwörterbuchs
zuzuwenden. Eine Glanzseite seiner Leistung ist dagegen sein
Stil , der zwar nicht die polternde Lebendigkeit und Buntscheckig-
keit einer andern römischen Geschichte hat, im Gegentheil oft
etwas Doctrinäres und in den späteren Partien auch nicht selten
etwas Weitschweifiges an sich trägt, dafür aber durch edle Hal-
tung, reinen Geschmack, Klarheit, Anschaulichkeit und sehr
häufig auch durch wohlthuende Wärme fesselt , wie sie die Folge
ist von liebevollem Versenken in die geschichtliehen Gestalten,
die der Verfasser aus sich selbst zu verstehen und zu beurteilen,
nicht aber zu meistern oder gar zu schelten bemüht* ist.
Zu diesen Vorzügen des Schwegler'schen Werkes kam noch
der Umstand hinzu dass sein Erscheinen in eine Zeit fiel wo durch
manche literarische Producte das öfTenÜiche Urteil über dieses
Gebiet der Geschichte eher verwirrt und daher das Bedürfniss
einer Orientierung weit verbreitet war , wo überdiess grosse
Theile Deutschlands eben erst angefangen hatten sich mit neuem
Eifer an den wissenschafUichen Bestrebungen der Gegenwart zu
betheiligen, und nun in diesem Werke einen verlässigen Führer
und kenntnissvollen Erklärer auf einer der Höhen der Forschung
begrüssten. Daher hatte Schwegler's „Römische Geschichte" von
Teuf fei, Stadien. 33
514 A. Schwüler.
Anfang an einen entschiedenen äussern Erfolg, welchem weder
die bedenklichen Dimensionen des Werkes Eintrag zu thun Yer-
mochten, noch auch — und noch viel weniger — tobsüchtige
Kritiken principieller Gegner des ganzen Standpunktes, auf wdche
Schwegler sich nie zu einer Erwiederung herbeigelassen hat;
und wenn auf der Stuttgarter Philologenversammlung im Jahre
1856 nicht sogar eine persönliche Annäherung zwischen den bei-
den Gegenfusslern stattfand, so lag die Schuld nicht an Schwegler.
Ueberhaupt, je tiefer er sich hineinlebte in seine Studien,
desto mehr wurde er persönlich milde, und je mehr er selbst
sich allmählich von den Menschen zurückzog, desto dankbarer
wurde er wenn man ihn ' aufsuchte und ihm entgegenkam. So
sehr er mit seiner Zeit geizte, so bekam diess doch Niemand zu
fühlen der über seine Schwelle trat , im Gegentheil hatte man den
Eindruck als wolle er den Besucher festhalten, als möchte er sein
sonst unterdrücktes Bedürfniss nach Umgang und Mittheilung nun
in vollen Zügen befriedigen. Mag auch diese Milde schon mit
einer krankhaften Stimmung sjeines Nervensystems zusammenge-
hängt haben, zumal da sie mit übergrosser Verwundbarkeit und
Schwarzsichtigkeit gepaart war, so war sie doch jedenfalls noch
weit mehr ein Ausfluss der Selbstlosigkeit zu der sich Schwegler
immer mehr hindurcharbeitete. Alle Leidenschaften die sonst
das Menschenherz bewegen hat er verzehren lassen von der
Flamme idealen Strebens, und eine Gleichgültigkeit gegen alles
Materielle und eine Reinheit sich zu eigen gemacht wie wir sie
sonst nur etwa bei Kindern finden. Nur eine Leidenschaft hat
ihn bis an sein Ende beherrscht, — die Leidenschaft des Arbei-
tens. Im ausschliesslichen Umgange mit seinen Römern hat er
sie vollends ganz verlernt die hellenische Kunst des Masshaltens,
des Gleichgewichts zwischen Leib und Seele, zwischen Arbeit
und Erholung. Aber seine Masslosigkeit in der Arbeit — wie viel
reiner, achtungswerther, grösser steht sie da als die Masslosigkeiten
von hunderttausend Andern! Und wer wollte behaupten dass es
nur Ruhmbegierde gewesen sei was ihn stachelte, und nicht viel-
mehr der Gedanke dass hierin seine Lebensaufgabe liege, der er
nachstreben müsse mit Aufgebot aller seiner Kräfte, für die er
wirken müsse ehe die Nacht des Todes einbreche? Wenn er da-
bei über das Mass des Erlaubten und Möglidien sich getäuscht
bat, so lag die Ursache zum grossen Theile an seiner ungewöhn-
lich kräftigen und gesunden Natur. Ein Anderer hätte das was
A. Schwegler. 515
er that einfach nicht vermocht, oder wäre von einem Heere klei-
ner Uebel befallen worden das ihn gewarnt und Pausen zu ma-
chen genötbigt hätte: für Schwegler wurde die rüstige Gesund-
heit seines Leibes, die allzeit frische Klarheit seines Geistes und
die staunenswerthe Energie seines Willens zum Fallstrick und
zum Verderben. So ist er denn hingegangen ohne zuvor Stö-
rungen und Hemmnisse erfahren zu haben, ohne dass Krankheit
seine Kraft geschwächt, sein Auge getrübt hätte: als ein Ganzer,
wie er unter uns geweilt, ist er auch von uns geschieden. Und
wenn Leben Thätigsein heisst, so hat er lange gelebt.
33'
Register.
Acharner des Aristophanes S. 99.
actio popularis S. 272 f.
Adeimantos S. 135. 138 ff.
Adeli)hi des Terenz S. 284 ff.
Adoniazusen des Theokrit S. 54 f.
aedificiis (de) von Prokop S. 206 ff.
Aedilengerichtsbarkeit S. 272 f.
Aeschylos S. 64 f.
Agathias S. 237 ff.
Agathon S. 107. 144 ff.
dyoQa S. 24.
Aides S. 40 ff.
alaa S. 26 ff.
alexandrinische Elegie S. 52 f. 93.
Alkäos S. 61. 85. 90. 92.
Alkestis des Euripides S. 124.
Alkman S. 60. 81.
Alterthumswissenschaft S. 460 ff.
Ambrosia S. 5 f.
Ammianus Marcellinus S. 153 f. 169.
Amor und Psyche S. 451 f.
Amphitruo des Plautus S. 255 f.
Anakreon S. 86. 93.
Anakreontika S. 84.
Andria des Terenz S. 280 f.
Anecdota des Procopius S. 209 ff.
Antigone bei Aescnylos S. 65; bei
Sophokles S. 66 f.
Antiochus S. 275 f.
Antonius Hybrida S. 300 f.
Antonius (M.) S. 326. 331 ff.
Aper S. 438.
Apulejus Metamorph. S. 446 ff. 450 f.
Archilochos S. 56?. 84. 86. 90.
Arete S. 48 f.
Aristophanes S. 71 f. Stellung zu
seiner Zeit S. 94 ff.
Aristoteles S. 131 f. 142.
Aristyllos S. 133.
Arpinum S. 290.
ätri^ S. 30. 32 f.
d^dvatoi S. 5.
Bacchanalien S. 274.
Bacchides des Plautus S. 256 f.
Bassus S. 398 f.
Bekker (Imm.) S. 465.
Bella des Prokop S. 193 ff. 209.
Bendisfest S. 137. 139.
Beredtsamkeit in Born S. 435 ff.
Böckh (A.) S. 470 ff.
Briefe Tibull's S. 372; von Lygda-
mus S. 376; der Sulpicia S. 366 ff.
ßovliq S. 24.
Caesar S. 307 f. 311 ff. 315 ff. 323 ff.
Gaesarmörder S. 330 ff.
Caesius Bassus S. 398 f.
Casina des Plautus S. 257 ff.
Catilina S. 298. 299 ff. 304 ff.
catilinarische Reden S. 305 ff.
catilinarische Verschwörung S. 299.
304 ff.
Cato Cicero's S. 328. 332.
Cerinthus bei Tibull S. 365 ff.
Chrysothemis bei Sophokles S. 68.
Cicero , Leben S. 289 ff. Selbstbe-
räucherung S. 308. Charakter
S. 338 ff.
CisteUaria des Plautus S. 260 ff.
clanculum S. 268.
Clodius S. 310 ff. 318.
Communismus im Alterthum S. 133 f.
coniux S. 373.
Constantius S. 148. 150 f. 153 f.
158 f. 161 f. 175.
Contamination S. 256 f.
coquus S. 263.
Comutus bei Tibull S. 365 ff.
Curculio des Plautus S. 262.
Curtius' Zeitalter S. 387 ff.
Danae des Simonides S. 60 f.
Deiotarus S. 330.
Delia des Tibull S. 348. Gedichte
auf sie S. 360 ff.
deterior S. 433 f.
Dialogus des Tacitus S. 435 ff.
Diotima bei Hölderlin S. 473. 478 ff.
486. 489. 500. 501 f.
Register.
517
DiphiloB S. 257 ff. 274. 284 f.
DonatuB zu Terenz S. 280. 282 f.
284 f.
Doppelte Recension bei Juvenal
S. 424 ff.
Ekklesiazusen des Aristophanes
S. 133 f.
Elegie (griechische) S. 50 ff. 55.
89 f.
Elegiker, römische, S. 93.
EleStra bei Sophokles S. 67.
Em^edokles yon Hölderlin S. 500.
EpriuB Marcellas S. 438, Anm.
Erebos S. 41 f.
Erinna S. 64.
Eschatologie ^homerische) S. 35 ff.
Ethik (homerische) S. 30 ff.
Eunapius S. 156 f. 161. 169.
Eunuchus des Terenz S. 281 ff.
Euripides S. 68 ff. 94; bei Aristopha-
nes S. 106 ff.; zur Alkestis S. 124.
Eusebia S. 158 f. 161.
Eutropius S. 169.
Fatalismus S. 234 ff. ; des Herodot
S. 226 f.; des Prokop S. 227 ff.;
des Agathias S. 252 n.
finire controversiani , litem S. 271,
' Anm.
Frauen in der griech. Poesie S. 45 ff.
Friede (Stück) des Aristoph. S. 99 ff.
Frösche des Aristoph. S. 108.
GabiniuB S. 317.
Gallus S. 148 ff. 157 f.
Gebet bei Homer S. 19 ff.
Gellius über Probus S. 443 ff.
Gewissen bei Homer S. 31 f.
Glaukon S. 135. 138 ff.
Glycera des TibuU S. 348 ff.
Goethe S. 68. 74. 76.
Götter Homer's S. 3 ff. 31.
Gregor von Nazianz S. 172 ff.
Hadrian S. 411 g. E.
Heimat in der Lyrik S. 82 f. 86 f.
Helena S. 46 f. 48.
Helios S. 490.
Hellas bei HölderHn S. 486 ff.
Hermann (Gottfried) S. 461 ff.
Herodot's Fatalismus S. 226 f.
hesiodisches Epos S. 49 f.
Hippolytos des Euripides S. 69 f.
Hipponax S. 58 f. 90.
Hölderlin S. 91 f. 473 ff.
Homer S. 3 ff. 46 ff.
Horaz als Erotiker S. 93, Anm. 3.
0. I, 33 S. 349 ff. als Satiriker
S 419. 420. 423.
Hyperion von Höiderlin S. 500 ff.
Jahn (Otto) S. 466. 471.
lambik S. 55 ff. 89 f.
Ibykos S. 60. 86. 93.
Idyll S. 53 f.
Jean Paul S. 502.
nias S. 10. 29. 40 f. Schluss S. 42.
Ismene bei Sophokles S. 67.
Ismenias S. 132.
Isokrates S. 96. 130.
iudicium coci S. 458 f.
Julianus (Kaiser) S. 147 ff. Jugend-
Seschichte S. 147 ff. Briefe S. 162 ff.
leurteiler S. 168 ff. Charakter
S. 178 ff. Stellung zum Christen-
thum S. 182 ff.
Justinian bei Prokop S. 201 f. 21 2 ff.
235.
Juvenalis Verbannung S. 410 ff. Sa-
tiren S. 413 ff.
Eephalos S. 136 f.
kilikische Verwaltung Cicero's S.
320 ff.
Kinkel S. 88.
Kleitophon S. 137 f.
Klopstock S. 475 f.
Klyiämnestra bei Aeschylos S. 66.
Komödie, alte attische, .S. 71 ff.;
neue , S. 73 f.
Korinna S. 64.
Lachmann S. 464 ff.
Lebensanschauung bei den Lyri-
kern S. 84 ff.
legationes liberae S. 303.
lex Plaetoria (quinavicenaria) S.
276 f.
lex Tullia S. 304.
Libanius S. 149 ff. 169 ff.
Liebeslied S. 91 ff.
Li^rius S. 329.
LuKian^s dovniog S. 446 ff.
Lukios S. 446. 448. 452 ff.
Lygdamus S. 372 ff.
lykurgische Verfassung S. 129. 134.
Lyrik (griechische) S. 59 ff. ; antike
und moderne, S. 75 ff.
Lysias S. 136 ff.
Lysistrata des Aristoph. S. 99.
udysigog S. 263.
Makellum S. 150 ff.
Manilius S. 297 f.
ÖdvTBis bei Homer S. 22 f.
[arathus bei Tibull S. 355 ff.
518
Register.
MarcelluB S. 328 f.
MardoniuB S. 148 f.
Marias S. 289 f.
Markus S. 174.
Martialis über Probup S. 442 f.
MatemuB S. 438. 440.
Mattbisson S. 476.
Maximns S. 156.
Megara*8 Kämpfe mit Athen S. 138.
Menaechmi des Plantus S. 263 ff.
Menander S. 273 f. 277 ff. 284 f.
286.
Menschheitsbegriff S. 129 f.
Messala S. 371. 382. 438.
Messalinus S. 371.
Metellas Nepos S. 309.
Miles ffloriosas des Plantus S. 273 f.
Milo S. 312. 316 f. 318 f.
Miloniana S. 319.
Mimnermos S. 51 f. 84 f. 92.
Moira bei Homer S. 26 ff.
Mnnatius Plancus S. 319.
Marena S. 304.
National^efuhl der Hellenen S. 87.
Natur (die leblose) in der Lyrik
S. 79 ff. bei den Griechen S. 489.
490 f.
N^usikaa S. 47 f.
Neaera S. 372 ff. 379.
Neid der homerischen Götter S. 15.
Nektar 8. 5 f.
Nekyia 8. 39 ff. 42. 44.
Nemesis 8. 491 ; des TibuU S. 348 ff.
370 ff.
Niebuhr 8. 512 f.
Octavianus 8. 334 ff.
Odyssee 8. 10. 12. 19. 24. 29. 39. 41.
Oedipus Tyrannos des 8oph. 8. 1 14 ff.
olympische Götter 8. 23 f.
Opfer bei Homer 8. 19. Todten-
opfer 8. 43 f.
Orakel 8. 22. 29.
Ovid 8. 378 ff. 382.
Pindar 8. 86 t.
Piso 8. 303. 312. 316.
Plaetoria lex 8. 276 f.
Plancias S. 312.
Piaton 8. 93; zur Politeia 8. 125 ff. :
zum 8ympo8ion 8. 143 ff.
Plantus 8. 255 ff.
Pins minos 8. 270.
oenolus des Plantus 8. 274 ff.
Politeia des Piaton 8. 125 ff.
politische Lyrik 8. 87 ff.
Pompeius 8. 310 ff. 317. 319 f. 323 ff.
Popularactionen 8. 272 f.
Popularinterdicte 8. 273.
praedem dare 8. 271 f.
?rae8 und praeves 8. 269.
riapeia 8. 383 f.
Probos recentior 8. 442, A. 2.
Prokopios (Geschichtschreiber) 8.
191 ff. vgl 242 f. Charakteristik
8.200ff. Weltanschauung 8. 221 ff.
Bella 8. 193 ff. de aedificiis 8.
206 ff. Geheimgeschichte 8. 209 ff.
Prologe (plautinische) 8. 256. 260 f.
263 ff. 273.
Protagoras 8. 133 E.
^tirn oei Homer 8. 36 ff.
Publilia 8. 329.
quinavicenaria lex 8. 276 f.
Quintio (pro) 8. 292.
Rabirius 8. 302.
Bhinthonica 8. 255 f.
rhythmische Prosa bei Hölderlm
8. 501 f.
Ritschi 8. 467 ff.
Ritter (hellenische) 8. 46. 49 f. 92.
Stück des Aristophanes 8. 102 f.
Romantiker 8. 75. 97. 493 ff.
RoBcius von Ameria (Rede für)
8. 292 f.
Roscius, Volkstribun 8. 302 f.
Rudens des Plautus 8. 276 f.
PanegyricuB auf Messala 8. 352 ff.
Perserkriege 8. 87. 96.
Persius 8. 396 ff.; Verhältniss zu
Horaz 8. 401. 404. 406; zu Ju-
yenal 8. 424.
Personen bei Persius 8. 404 f. ; bei
Juvenal 8. 416 f.
Petronius 8. 391 ff.
q>iX£a bei Piaton 8. 144.
Philippeum aumm 8. 262. vgl.
8. 274. 276. 276. 279.
Philippicae des Cicero 8. 333 ff.
Pholoe bei TibuU 8. 358 f.
Sappho 8. 62 f. 81 f. 92.
Satire S. 402.
Satuminus 8. 302 f.
Scaurus 8. 318.
Schicksal bei Homer 8. 26 ff".
Schiller 8. 476. 477. 496 ff.
Schwegler 8. 503 ff.
Scipionenkreis 8. 286.
Seligkeit der homerischen Götter
8. 12.
ai^fi ata bei Homer 8. 21 f.
Sergius 8. 248.
Servilius RuUus 8. 301 f.
Register. 519
Simonides aus Amorgos S. 57 ff.; Todienopfer bei Homer S. 43 f.
aus Eeos S. 60 f. 86. Todtenreich bei Homer S. 40 ff.
Skepticismus S. 224 f. 248 f. 287. Tragödie (attische) S. 64 ff.
Sokrates S. 105 f. 128. Kirchen- Truculentus des Plautus S. 279.
historiker S. 148 ff. 158. 177. Tu bei Persius S. 408.
Selon S. 89.
Sophisten in Athen S. 104 f. Uhland S. 88. 495.
Sophokles S. 66 ff. 83. 85. 86. 94 ; Umbricius S. 422. 426 f.
zuSoph.Oed.R.v.224ff. S.lUff.; ünsterbHchkeitsglaube bei Homer
zu V. 1304 S. 118 f.; zu v. 1424 ff. S 36 ff.
S. 119 ff.; zu V. 1516 ff. S. 122 f. Unterwelt bei Homer S. 40 ff.
Sozomenus S. 148 ff. 176 f.
Sparta erobert S. 275. yg^^^us Probus S. 442 ff
sponsio S. 269. 270 f. 273. Valcrin« S qR9
gaat.antiker,mdmodeiner,S.127f. ^^Jf^^S' Tder Lyrik S. 86 ff.
Stefflchoros 8^ 60. ^^ Hölderlin S. 487 ff.
Sbchus des Plautus S. 277 ff. y^y^j^g g 315 g^
Strafen m der Unterwelt 8. 39 f. vergleichende Mythologie S. 470.
ÄÄS'S m.""' ^- Verlleichende Sp^rachff«chnng S.
Symposion des Piaton S. 143 ff. Verres 8. 295 f.
Tacitus und Juvenal 8. 423. "^I^'s'^7"^ ^^' homerischen Göt-
llrÄÄ^ff.'- ""'■ '''■ ""'■ Vögei S Aristophanes 8. 109.
^ipnatss S. 30. 1 1- u r j. • o ««-
Theodoret S. 175 f. S^'l^^^^^^rf'*^®"^.®- ^^^•
Theokrit S. 52 ff Welcker (F. G.) S. 471.
&mKos S 24 Wespen des Anstophanes S. 112.
Thrafiym'achos S. 138. Wolken des Aristophanes S. 106 f.
Tibull S. 93. Leben S. 344 ff Ge- Wuchergesetze in Rom S. 262.
dichte S. 162 ff. Nachahmung des Wunder bei Homer S. 10 f. ; bei
Horaz S. 356 f. alexandrin&che Prokop S. 226 f.
Neigungen S. 372. Kunstart S.
384 ff. vßQiQ bei Homer S. 13. 15. 32.
Tod bei Homer S. 34 ff. viiongitai S. 145 f.
Todten (die) bei Homer S. 37 ff.
Todtencitaüon S. 44. Zosimus S. 169.
UNIV. OF MICHIGAN,
OCT 22 1912